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Kapitel 6
ОглавлениеCyrus war nach der Unterredung allein im Konferenzzimmer zurückgeblieben. Müde blickte er aus dem Fenster auf den silbrig glitzernden Potomac und dachte über all das nach, was er erfahren hatte. Warum hatte er zugesagt?
Bis jetzt hatte Cyrus immer von drei Grundannahmen bei seinen Aufträgen ausgehen können. Da war zuerst seine eigene Fähigkeit, sich unauffällig im Feindesland zu bewegen. Dann existierten in Italien und Frankreich recht gut funktionierende Geflechte von Widerstandsgruppen, die zwar immer wieder Verräter in ihren Reihen entdeckten, aber dennoch gute Arbeit leisteten. Dass trotz gelegentlichen Verrats effektive Sabotagearbeit möglich war, gehörte zu der Grundannahme Nummer zwei. Die dritte Grundannahme war das beruhigende Wissen, dass in einer Notsituation größere Teile der italienischen und französischen Bevölkerung bereit sein würden, spontan, ja manchmal sogar vollkommen selbstlos zu helfen. Außerdem war das lokale Widerstandssystem hinreichend gut eingearbeitet. Obwohl es immer wieder Rückschläge gab, hatte es sich dennoch bewährt.
Der neue Auftrag war anders. Nicht nur das Gefühl, dass man ihm etwas verschwieg, ließen ein seltsames Gefühl der Unsicherheit aufkommen. Auch die für ihn so wichtigen drei Grundannahmen, die es ihm ermöglichten, Kraftaufwand, Effektivität, Gefährlichkeit und Überleben vor dem Einsatz richtig einzuschätzen, gab es hier nicht.
Cyrus wusste, dass es als schwierig bis ganz unmöglich galt, Agenten nach Nazi-Deutschland einzuschleusen. Von einer funktionierenden Widerstandsgruppe war ihm nichts bekannt und über die Haltung großer Teile der deutschen Bevölkerung gab es keine verlässlichen Nachrichten. Man machte Witze über Hitler, es gab Unzufriedene, Unterdrückte, und der Bombenkrieg hatte die Deutschen zweifelsohne mürbe gemacht. Sicher. Aber ob Teile der Bevölkerung bereit wären, einem feindlichen Agenten spontan zu helfen, war nicht zu erwarten. Die ganze Idee, in Deutschland diesen Hiller ausfindig zu machen, der höchstwahrscheinlich von der Gestapo überwacht oder gefangen gehalten wurde, vermittelte Cyrus das Gefühl, man verlange von ihm, durch eine schwere Stahltür in einen stockfinsteren Keller zu treten, in dem sich eine Horde lichtscheuer psychopathischer Mörder versteckt hielt. Die Kellertür jedenfalls würde hinter ihm für lange Zeit verschlossen bleiben. Wenn sie sich überhaupt je wieder öffnete.
Der mickrige Sergeant, der ihn hierher geleitet hatte, riss ihn aus seinen Gedanken. Er hüstelte leise und übergab Cyrus einen braunen Umschlag mit der roten Aufschrift Top Secret A1. Dann wanderten beide schweigend durch das Labyrinth der Gänge zurück zum Ausgang in die große Empfangshalle des Pentagon.
„Haben Sie schon ein Hotel in Washington?“, fragte Kellerman und schaute ihn nichtssagend an.
„Nein. Bin direkt hierher. Können Sie eines empfehlen?“
„Nehmen Sie das Columbus. Ein gutes Hotel. Alt. Sie finden es Ecke New Hampshire und 26th Straße. Eine Empfehlung von General Groves. Wir haben für Sie ein Zimmer auf der Westseite reserviert. Da haben Sie des Abends einen wunderbaren Blick auf den Potomac. Die Fünfzehn bringt Sie hin.“ Ohne auf eine Antwort zu warten grüßte der Sergeant und ging.
Cyrus fuhr bis zum Titanic Memorial, stieg aus dem Bus und ging die restlichen Meter zum Hotel. Er bezog sein Zimmer mit Blick auf den Potomac und fühlte sich, als er das breite Bett sah, augenblicklich hundemüde. Bevor er sich hinlegte, griff er noch nach dem Top Secret Umschlag, öffnete ihn mit bleiernen Augenlidern und zog ein einziges Blatt graues Papier daraus hervor. Nach einer kurzen Anrede wurde ihm mitgeteilt, dass sich in zwei Tagen ein Mister Ochre bei ihm melden würde, um die weiteren Einzelheiten des Auftrags mit ihm zu besprechen. Mr. Ochre würde sich mit dem Codewort Dädalus und einem Regierungsausweis bei ihm identifizieren. Es bliebe ihm freigestellt, sich in Washington zu bewegen, aber er solle sicherstellen, dass er immer mittags um zwölf und abends um zwanzig Uhr im Hotel anzutreffen wäre.
Das war alles. Cyrus riss ein Streichholz an und verbrannte das Blatt, nachdem er es gelesen hatte. Er verbrannte alle Mitteilungen, die ihm übergeben wurden. Immer. Irgendwann würde er als alter Mann auf seiner Veranda sitzen und die Steuerbescheide verbrennen. Er ließ sich aufs Bett fallen und drehte das Radio an. Auf der Seite liegend lauschte er den leisen Klängen von Raymond Randicallo und seinem Orchester. Dann schlief er ein.
Die nächsten Tage trottete Cyrus in seiner viel zu warmen Uniform durch das heiße Washington. Er besuchte die Museen und die Nationalen Heiligtümer, traf aber immer Sorge, pünktlich um Acht wieder im Hotel zu sein. Dort aß er zu Abend, setzte sich anschließend in die großzügige Lobby, die ihn immer an einen texanischen Saloon erinnerte, und studierte die Washington Post mit der Akribie eines Börsenspekulanten. Das hatte er sich wohl bei seinem ersten Job im Geheimdienst angewöhnt, als er deutsche Zeitungen nach Informationen durchforstet hatte. Wenigstens verbrannte er die Zeitungen nicht, nachdem er sie gelesen hatte. Cyrus schmunzelte über seine kleinen Ticks, die wohl von zu viel Geheimdienstarbeit herrührten und ihm erst in den Ruhezeiten zwischen den einzelnen Einsätzen auffielen. Er entwickelte zunehmend Spaß daran, sich selbst zu beobachten und immer neue Schrullen zu entdecken.
Am zweiten Abend im Columbus, Cyrus saß in der Lobby und las eine Zeitung, baute sich eine große untersetzte Gestalt vor ihm auf. Cyrus erkannte er einen Mann in einem grauen Zweireiher mit einem imposanten schwarzen Schnurrbart, der etwas unschlüssig zu ihm hinunterschaute. Der Mann hatte etwas von einem Zierkürbis. Groß und unförmig. Unter seinem rechten Arm klemmte eine alte braune Aktentasche, die mit einem großen Messingschloss versehen war. Mit der linken hielt er einen braunen Filzhut.
„Mr. Franko?“
„Ja?“, bestätigte Cyrus und blickte auf.
„Ich bin Ochre.“
„Haben Sie mir etwas zu sagen, was mich davon überzeugt?“
Der Mann fühlte sich ertappt, griff in seine Jackentasche und zerrte einen Ausweis hervor, den er Cyrus vor die Nase hielt.
„Und?“, fragte Cyrus noch einmal.
„Und?“, wiederholte der Zierkürbis und sah dabei etwas verloren aus. Doch unversehens hellte sich sein Gesicht auf.
„Oh ja, natürlich. Ähm ...“ Er beugte sich zu Cyrus herunter und flüsterte verschwörerisch „... Dädalus.“
„Nehmen Sie Platz, Mister Ochre.“
Cyrus musterte zunehmend amüsiert den großen, tapsigen Mann, dessen Motorik nicht ausreichte, den Hut und die Aktenmappe gleichzeitig auf den Tisch vor sich zu legen. Die Aktenmappe landete mit einem Klatschen auf dem Marmorboden der Lobbyhalle.
„Mist! Ähm ... ich meine Entschuldigung, Mr. Franko! Ich bin in diesen Geheimdienstsachen nicht besonders gut.“ Er nahm die Aktenmappe auf und legte sie zum Hut auf den Tisch. „Eigentlich bin ich ja Ingenieur für Elektrotechnik. Aber wir halten den Kreis der Eingeweihten bewusst klein. Da wird man schon mal für Sachen eingesetzt, für die man nicht ausgebildet worden ist.“
„Solange Sie die wichtigsten Grundsätze der Geheimniskrämerei beachten, soll es mir recht sein.“
„Oh, sicherlich Mr. Franko. Zumal ich Sie sowieso nur grob einweise und wir hier in den USA recht sicher vor deutscher Spionagetätigkeit sind. Das Gerede von der fünften Kolonne ist eine Erfindung der Briten. Die wollen damit nur die Aufmerksamkeit ihrer Bevölkerung anstacheln und ...“
„Wollen Sie mich hier instruieren oder haben Sie dafür einen besonderen Ort vorgesehen?“, unterbrach ihn Cyrus und versuchte das Thema der fünften Kolonne nicht weiter zu vertiefen. Der Mann mit dem imposanten Schnauzer jedenfalls erschien ihm recht redselig. Er wollte schnell fertig werden. Ochre winkte ab.
„Nein, das können wir auch hier machen. Ist ja nicht viel los.“ Er schaute sich kurz um, drückte sein Kreuz durch und beugte sich zu Cyrus vor. Der Mann war eine der schlimmsten Fehlbesetzungen für einen Sicherheitsdienst, die Cyrus jemals untergekommen war, und er begann daran zu zweifeln, ob seine Entscheidung, mit diesem seltsamen Nachrichtendienst zusammenzuarbeiten, wirklich eine Gute gewesen war. Mit zusammengekniffenen Augen begann sein Gegenüber zu erzählen.
„Ich beginne damit, Ihnen ...“
„Einen Moment, Mister Ochre. Lassen Sie uns doch etwas spazieren gehen. Ich bin noch etwas voll vom Abendessen“, unterbrach ihn Cyrus, der es plötzlich für angebrachter hielt, nicht mit diesem Menschen hier in der Lobby zu sitzen und sich von ihm Geheimnisse erklären zu lassen.
„Natürlich, Mr. Franko.“
Sie standen auf und traten in die tropisch warme Nacht hinaus. Langsam schlenderten sie die 26th in südlicher Richtung hinunter. Es dämmerte bereits. Cyrus forderte Ochre auf, fortzufahren.
„Also, zuerst einmal möchte ich Ihnen mitteilen, dass sie vorläufig nicht mehr dem OSS angehören. Wir haben Sie auch schon abgemeldet. Treffen Sie sich bitte mit keinem Ihrer dortigen Bekannten. Erst nach dem Auftrag wieder. Sie werden auch keinem anderen unserer Nachrichtendienste, sei es der G2, ONI, CIC oder FBI zugeteilt. Die inneren Querelen dieser Dienste und ihre oftmals feindselige Haltung untereinander machen sie für unser Vorhaben inakzeptabel. Wenn Sie dort noch private Kontakte, Liebschaften oder sonst etwas haben ... Vergessen Sie die vorläufig. Kein Kontakt. Wir haben einen eigenen Nachrichtendienst. Wir nennen ihn ALSOS. Fragen Sie mich nicht, was das bedeutet. Sie werden ALSOS III zugeteilt. Diese Abteilung ist für Deutschland zuständig. Allerdings haben wir auch schon vor der Landung mit dem SOE zusammengearbeitet, wenn Sie Reputationen brauchen. Wir waren maßgeblich an der Planung des Angriffes auf die Norsk-Hydro in Norwegen beteiligt. Schon mal was von dieser Aktion gehört?“
„Nein.“ Cyrus beschloss möglichst einsilbig zu bleiben.
„Schade. Wir haben den Nazis vor einem Jahr das schwere Wasser abgejagt, dass sie in Norwegen abgezweigt haben. Das braucht man, um eine Atommaschine zu betreiben. War ein ziemlicher Erfolg!“
Er machte eine Pause, wohl um Cyrus die Möglichkeit zu einem Kommentar zu geben. Cyrus aber blickte Ochre nur fragend an. Hatte ihm Groves nicht erzählt, dass man bis jetzt noch nichts hinsichtlich eines deutschen Atomprogramms unternommen hatte?
Ochre, der nichts von Cyrus Verwunderung bemerkt hatte, sprach weiter. „Wenn wir also tätig werden, rummst es ordentlich.“ Er kicherte. „Daher treten wir nur selten in Erscheinung und sind sozusagen ein Geheimgeheimdienst in eigener Sache. Trotzdem genießen wir beim Präsidenten recht hohes Ansehen und Unterstützung. Unsere Befugnisse und Möglichkeiten gehen bisweilen weit über die anderer Dienste hinaus.“
Ochre bot Cyrus eine Zigarette an, kramte ein Zippo hervor und zündete sie an. Nach einem tiefen Zug plauderte er weiter.
„Wir haben Sie, Mr. Franko, lange beobachtet, Ihre Akten gelesen und uns schließlich für Sie entschieden, weil Sie nicht der typische Abenteurer oder Psychopath sind, die das OSS und das SOE meistens bevölkern. Obwohl Sie in erster Linie ein Paramilitärischer sind und wir Sie erst zu einem richtigen Agenten ausbilden müssen, der in Deutschland operieren kann. Dazu müssen wir Sie aber von ihren alten Kollegen entfernen. In unseren Augen ist das OSS alles andere als eine respektable Nachrichtentruppe. Entschuldigen Sie! Ganz ehrlich, wussten Sie, das Ihr Chef vor ein paar Jahren vorhatte, Japan mit Fledermäusen zu bombardieren, weil er auf einer Party gehört hatte, dass die Japsen sich vor diesen Viechern fürchten? Verrückt nicht? Sie haben sogar angefangen zu testen, aus welcher Höhe man diese Dinger aus Bombern abwerfen kann, ohne dass sie als Eisbrocken unten ankommen.“
Ochre lachte heiser, blickte auffällig von links nach rechts und zog an seiner Zigarette. Dann wurde sein Gesicht ernster und er schlug die Augen nieder.
„Nur Ihre ausgedehnten Sauforgien, die sie zwischen den Einsätzen abgezogen haben, machen uns Sorgen. Aber da es keine Berichte gibt, die Sie als Säufer während der Einsätze denunzieren, müssen wir wohl annehmen, dass Sie sich unter Kontrolle haben. Außerdem hatten wir niemanden, der fließend Deutsch ohne Akzent spricht. Unsere deutschen Emigranten wollten da nicht wieder hin oder waren schlicht ungeeignet. Auch die deutschen Juden gehen nicht, denn die könnten anfangen, sich für ihre Familien zu interessieren und dabei ihren Auftrag vergessen. Oder sie drehen durch und sprengen Nazibonzen in die Luft oder ähnliches. Außerdem müssen Sie vielleicht mit Sprengstoff herumhantieren. Und Sie können das, Franko.“
Ochre zog wieder an seiner Zigarette und der Widerschein erhellte kurz sein Gesicht.
„Das Problem ist natürlich, dass Sie, Mr. Franko, noch nie in Deutschland waren. Wollten Sie nicht mal hin? Soll schön sein dort. Oder besser, war. Jetzt nach den Bombardierungen ...“
„Der Krieg kam dazwischen“, fiel ihm Cyrus ins Wort, der einen längeren Vortrag über die Vor- und Nachteile der strategischen Bombardements befürchtete.
Ochre nickte und warf seine halb gerauchte Zigarette fort.
„Nun ja. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, nie nach Deutschland gekommen. Die Deutschen hatten kurz vor ihrer beabsichtigten Invasion Englands ein ähnliches Problem wie wir jetzt. Sie haben Leute eingeschleust, die sich ohne Hilfe durch Einheimische im Land zurecht finden sollten. Sie sollten Landeplätze für Fallschirmspringer, Funkstationen, Kasernen, Truppenaufmärsche, Sicherungsvorrichtungen usw. ausspionieren. Doch soweit kam es nicht. Sie waren unglaublich schlecht vorbereitet. Vielleicht ist die Abwehr ja auch gar nicht so intelligent wie wir immer glauben. Meine Meinung.
Stellen Sie sich das vor, Mr. Franko! Die haben ihre Agenten mit dem U-Boot bis kurz vor die Küste gebracht, sie dann in Schlauchboote verfrachtet und sie bis an den Strand gefahren. Von dort tappten ihre Agenten durch eine Landschaft, aus der, wegen der Invasionsangst, alle Schilder und Wegweiser entfernt worden waren. Diese kleine Maßnahme war der Abwehr gar nicht aufgefallen, als sie ihre Agenten losschickte. Die armen Kerle mussten erst das Schild am Bahnhofsgebäude lesen, um sich zu orientieren. Dazu hatten sie die ganze Zeit nasse Hosen vom Paddeln in der Brandung. Und ihre Schlauchboote dümpelten gut sichtbar am Strand in der Dünung. Zwei Stunden nach dem Absetzen hat man sie alle erwischt.
Andere irrten solange durch die Gegend, bis sie Durst bekamen und am Morgen in einem Pub in schlechtem Englisch ein Bier bestellten, ohne zu wissen, dass während des Krieges morgens in England nichts Alkoholisches ausgeschenkt werden darf. Dazu waren sie alle in ländlichen Gebieten unterwegs, wo sowieso jeder jeden kennt. Da freut man sich doch, wenn mal ein neues Gesicht auftaucht. Wie gesagt, da haben wir unsere hohe Meinung von Abwehr oder Gestapo oder wer immer diese Amateure geschickt hat schnell verloren.“
Cyrus und Ochre bogen nach links auf die Constitution Avenue ein. Es herrschte reger Verkehr. Hier und da standen Polizei-Motorradstreifen nahe am Bordsteig.
„Wir wollen solche Fehler natürlich vermeiden ...“, redete Ochre in selbstbewusstem Ton weiter, „... und daher werden wir Sie in England auf einen längeren Deutschkurs schicken. Auf die Isle of Wight. Wir haben da ein schickes kleines Castle, das wir für unsere Zwecke ein wenig modifiziert haben. Sie werden von New York nach Southhampton fliegen. Im Hafen wird man Sie in Empfang nehmen. Wenn Sie angesprochen werden, sagen sie einfach: Das bin ich. Könnten sie diese verdammte Tasche bitte nehmen? Hier Ihr Ticket. Und die Unterlagen über Professor Dr. Fritz Hiller!“
Er kramte aus seiner Aktenmappe einen Umschlag hervor, den er Cyrus hinhielt. Der konnte es nicht glauben. Sie standen halb im Regierungsviertel, Cyrus trug Uniform, sein Gegenüber Zivil und übergab ihm Umschläge, die wieder mit einem roten Top Secret-Stempel gekennzeichnet waren.
„Mr. Ochre! Müssen wir das hier machen? Diese Unterlagen können Sie mir doch sicher auch im Hotel übergeben.“
Ochre schaute ihn mit großen Augen an und schien nicht zu verstehen. Dann blickte er über Cyrus Schulter in Richtung der Polizisten, die auf der anderen Seite der Straße standen und zu ihnen herüberschauten. Er hüstelte nervös.
„Na ... natürlich, Mr. Franko“. Er steckte die Unterlagen wieder in seine Aktenmappe. „Ich tauge wirklich nicht für die praktische Geheimdiensttätigkeit. Aber sehr viel mehr gibt es auch gar nicht zu erzählen. Wir können wieder zurück zum Hotel, wenn Sie wollen.“
„Gut, lassen Sie uns umkehren. Erzählen Sie mir etwas von Ihrem streng geheimen Nachrichtendienst.“
„Da gibt es nicht viel zu sagen. Wie Sie sehen, befassen wir uns mit grundlegenden Bedrohungen durch die Achsenmächte. Wichtige, kriegsentscheidende Entwicklungen. Die Drohung einer deutschen Atombombe gehört dazu. Wenn die Nazis da dran sind, müssen wir das verhindern. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Und Sie, Lieutenant, sind nun ein Teil dieser Operation. Ein wichtiger Teil. Wenigstens für einen kurzen Moment haben Sie die Möglichkeit, aus der grauen Menge der Teilnehmer dieses Krieges herauszuragen. Das ist eine große Ehre.“
„Aber ich will gar nicht aus der Menge herausragen, Ochre, das ist genau das, was nicht geschehen darf.“
„Natürlich, Mr. Franko. Sie wissen, wie ich es meine. Nach dem Krieg, wenn hier jeder seine Geschichte schreibt, wird Ihre eine besondere sein, nicht wahr?“
„Wenn ich wiederkomme und sie schreiben kann, vielleicht! Vielleicht will sie dann aber keiner lesen.“
„Warum nicht? Sie sehen das nur so, weil Sie die ganze Zeit spektakuläre Dinge getan haben. Derjenige, der nur hier in den Staaten sitzt und hinter den Kulissen arbeitet, der wird Ihr Buch verschlingen.“
„Sie haben mir noch nichts zu dieser Bombe selbst gesagt!“, bohrte Cyrus.
„Tja, ehrlich gesagt, kann keiner ihre Wirkung abschätzen. Theoretisch kann man versuchen sich die Explosion und deren Folgen vorzustellen. Aber was wirklich passiert ... Es gibt Leute, die behaupten, die Kettenreaktion würde immer weiter gehen und die Welt selbst in Brand stecken. Das ist natürlich Unsinn, aber sie sehen, dass alle Vermutungen möglich sind.“
Ochre stoppte und schaute zum nächtlichen Himmel auf. Er schien nach Worten zu suchen.
„Vermutlich wird sie bei der Explosion wie eine kleine Sonne sein, die für kurze, sehr kurze Zeit nahe dem Erdboden brennt. Hitze, Feuer, Sturm, Erdbeben und totale Vernichtung über eine Distanz von mehreren Kilometern. Ein lokal begrenztes Armageddon, könnte man sagen. Man wird den Eindruck haben, der Leibhaftige sei aus der Hölle hinaufgestiegen. Es wäre eine Katastrophe, wenn Hitler ein solches Gerät besäße! Gar nicht auszudenken. Ich persönlich würde sie lieber im Besitz des Teufel als der Nazis sehen.“
Sie gingen noch eine Weile schweigend nebeneinander her, was Ferdinant Ochre ziemlich schwer fallen musste. Dann erreichten sie wieder das Hotel. Mit einem Drink setzten sie sich in die Sessel der Lobby. Nach den zwei Tagen, die Cyrus allein verbracht hatte, war die Unterhaltung mit Ochre allerdings irgendwie angenehm. Der Mann mochte zwar ein unfähiger Geheimdienstler sein, aber er war wenigstens ein amüsanter Gesprächspartner. Kurz bevor Ochre sich verabschiedete, übergab er Cyrus die Unterlagen. Dann wünschte er Cyrus viel Glück bei den Nazis und erhob sich müde aus dem tiefen Ledersofa.
„Wir werden uns wohl nicht wiedersehen, Lieutenant“, sagte Ochre zum Abschied, und es lag so etwas wie Wehmut in seiner Stimme als er sich verabschiedete.
„Wer weiß, Mr. Ochre.“
„Es war jedenfalls interessant, Sie kennengelernt zu haben.“ Er streckte Cyrus seine große schwarz behaarte Hand entgegen und setzte sich mit der linken seinen Hut auf. Dann verschwand er schnell durch die Drehtür in die Nacht.