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Kapitel 9
ОглавлениеAm letzten Abend vor Einsatzbeginn traf sich Cyrus noch einmal mit Oberst Scrubbs in dessen Dienstzimmer. Außer diesem war noch ein jüngerer Offizier der Royal Airforce anwesend, der schweigend hinter dem Schreibtisch saß und gelegentlich an einem Brandy nippte.
Scrubbs ging den geplanten Einsatz Punkt für Punkt durch. Diesmal auf Englisch. Dem Offizier zuliebe.
„Ziel ist es, auf jede erdenkliche Art und Weise Kontakt mit diesem Fritz Hiller aufzunehmen. Eine persönliche Befragung wäre der Königsweg, um an die dringend benötigten Informationen über das deutsche Atombombenprogramm zu kommen. Die Flucht seiner Nichte impliziert, dass die Familie etwas über den Verbleib Fritz Hiller's weiß. Der Bruder von Fritz Hiller, Heinrich, lebt im südlichen Köln. Allerdings ist dieser Bruder ein linientreuer Nazi. Wie sein Vater. Es steht zu bezweifeln, dass der freiwillig mit Informationen rausrückt. Da müssen Sie sich was einfallen lassen. Luftbildaufnahmen der letzten Wochen haben uns zumindest gezeigt, dass das Haus, oder besser gesagt die Villa der Hillers noch steht. Ob die Familie noch dort lebt ist fragwürdig. Aber dort werden sie wohl Informationen bekommen, wohin sie vor dem Bombardement geflüchtet sind.“
Scrubbs war an einen großen Tisch in der Mitte des Raumes getreten, auf dem eine Reihe von Luftbildern lagen und war mit einer Aufnahme zurückgekommen, die er Cyrus gab.
„Wir haben mit Bombercommand abgesprochen, dass nach Möglichkeit diese Gegend nicht weiter bombadiert wird. Gehen Sie nach Köln und bringen Sie seinen Bruder, seine Schwägerin oder wer sonst noch etwas wissen könnte, zum Reden. Wie ist uns egal.“
„Gibt es außer der Tochter noch weitere Kinder?“, fragte Cyrus.
„Ja, da ist sind noch zwei Brüder. Aber wie alt die sind, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Seien Sie auf jeden Fall vorsichtig und klopfen Sie nicht einfach an. Es steht zu erwarten, dass man dort ein Empfangskommando für Sie vorbereitet hat“, sagte Scrubbs und trat an eine große Generalstabskarte, die fast die gesamte rechte Seite des Raumes einnahm.
„Aber wie kommen Sie dahin?“ Scrubbs griff nach einem Zeigestock und drehte sich zur Karte. „Darüber haben wir uns natürlich einige Gedanken gemacht. Und das Ergebnis ist nicht unbedingt … genial. Eher befriedigend. Aber das Beste was uns eingefallen ist.“ Er stoppte kurz und seufzte. Tatsächlich erschien es Franko, dass der Oberst nur widerwillig erzählte, was jetzt folgte.
„Wir werden Sie in einer kleinen Lichtung nahe dem Ort Jüngersdorf absetzen. Das ist etwa 50 km westlich von Köln. Ungefähr hier.“ Scrubbs trat nah an die Karte und versuchte einen winzigen Punkt darauf mit seinem dicken Zeigefinger zu treffen. „Etwas hügelig. Die Lichtung ist aus der Luft gut zu sehen. Wir haben die Gegend die letzten Wochen ziemlich häufig von Aufklärern fotografieren lassen. Wir können sie dort zielgenau absetzen, Cyrus. Wenn nicht, landen Sie im Gehölz. Wir werden Sie für diesen Fall etwas polstern. Auf der Lichtung steht eine kleine Burg. Unbewohnt. Wissen wir aber nicht genau. Schauen Sie sich mal um.“
„Warum mitten in einem Wald, soweit von Köln entfernt? Es gibt jede Menge Felder in Richtung Köln!“
„Ja, das stimmt. Aber auch jede Menge kleine Ortschaften und Bauernschaften. Keine Deckung, alles ist recht flach und damit zu unsicher. Denn wir müssen bei Vollmond fliegen. In einer Mosquito, die unsere Freunde von der RAF normalerweise als Pfadfinder für ihre Nachtangriffe einsetzen. Sie fliegen aber hinter und unter dem Verband. Wir werden ein wenig Düren bombardieren. Das liegt ganz in der Nähe. In der Zeit, wenn die großen Bomber ihr Chaos anrichten, beginnt ihre Mosquito nach dem Absetzplatz Ausschau zu halten. Wir hoffen, dass dann alle in ihren Bunkern sind und nur die Flak unsere Bomber fixiert. Sie werden dicht über die Lichtung geflogen und springen aus den Bombenschacht ab. Das Flugzeug dreht noch einmal, kommt zurück und wirft Ihnen ihre Ausrüstung hinterher. Im Wald haben Sie dann genug Möglichkeiten sie zu verstecken, bis Sie sie brauchen.“
„Das alles ist aber immer noch mit vielen Risiken verbunden. Könnte ich nicht von Frankreich aus und mit Hilfe der Maquis durch die Frontlinie ...“
„Haben wir auch schon überlegt. Aber seit der Landung sind die Deutschen in Frankreich besonders wachsam und unberechenbar. Die Frontlinie ist dicht. Und selbst wenn Sie es schaffen würden, müssten Sie noch knapp 180 km bis nach Köln zurücklegen. Dauert zu lange. Züge fahren nicht in Frontnähe und Sie kämen nur langsam voran. Die Gefahr erwischt zu werden ist zu groß.“
„Und von Holland, Belgien oder Luxemburg aus?“
„Holland wäre nicht schlecht. Sie kämen mit Hilfe der Widerstandsbewegung wenigstens sicherer runter als jetzt. Aber die Grenzkontrollen sind verschärft worden und außerdem sagt Ihre Legende, dass Sie aus dem Osten kommen und zu Ihrer Familie wollen. Was wollen Sie den Posten sagen, wenn man Sie aufgreift? Dazu ist es von, sagen wir, Eindhoven bis Köln über hundert Kilometer. Das Doppelte von unserer Lösung aus. Wir können es uns nicht leisten, das Sie in der Provinz ihre Zeit vertrödeln. Nein, Sie springen in Jüngersdorf ab, haben keine Grenzkontrollen, eliminieren Zeugen wenn nötig, vergraben Ihre Ausrüstung und springen dann auf einen der Güterzüge auf, die ganz in der Nähe ihrer Absprungzone vorbeikommen. Wenn Sie beim Absprung keiner sieht, haben Sie auch keine Probleme.“
„Und wenn doch?“
„Dann machen Sie, das Sie wegkommen und lassen sich was einfallen. Wenn wir nach einem Monat nichts von Ihnen hören, müssen wir uns was Neues einfallen lassen. Sollten Sie bei der Landung direkt erwischt werden, geben Sie sich als abgesprungener RAF-Pilot aus. Vielleicht kaufen es Ihnen die Deutschen ja ab.“
„Aus welcher Höhe werde ich abspringen?“
„Das kann Ihnen Major Hendricks hier sagen.“
Srubbs drehte sich schwungvoll um und blickte auf den schweigsamen Mann von der RAF, der sich nun langsam erhob und ihn zu den Luftbildern auf dem Tisch zurückwinkte.
„Die Höhe ist äußerst gering. Schwierig. Normalerweise öffnen wir den Schirm zwischen 1500 und 700 Metern. Das wird hier nicht möglich sein. Die Lichtung ist zu klein, um Sie dann noch zielgenau abzusetzen. Wir denken an 300 bis 250 Metern und hoffen, das Sie nicht mit ihrem Schirm in den Luftstrom der Propeller kommen. Wir haben so etwas schon öfters gemacht. Meistens ist es gutgegangen. Die Piloten werden im äußersten Langsamflug über die Lichtung fliegen. Wir haben der Mosquito extra Vorklappen angebaut. Erhöht den Auftrieb bei extremem Langsamflug. Daher wird es möglich sein, Sie mit zirka 120 km/h über der Lichtung abzuwerfen. Wird trotzdem eine kitzlige Aktion.“
Scrubbs war zu ihnen getreten und blickte Cyrus fest an.
„Schaffen Sie das?“
„Habe ich denn eine Wahl?“
„Nein!“
„Wenn ich das tatsächlich alles überleben sollte: die Landung, den Besuch bei Hillers, den Besuch bei Fritz Hiller, wo immer der auch steckt, wenn ich dann also noch lebe, wie komme ich wieder raus aus Deutschland?“
Scrubbs und der Major schauten sich betreten an. Offensichtlich war diese Möglichkeit nicht in den Planungen enthalten. Scrubbs kratzte sich an seiner Nase und blickte zu Boden.
„Mr. Franko ...“ Scrubbs benutzte Cyrus richtigen Namen nach vier Wochen zum ersten Mal wieder. Cyrus fühlte sich ertappt. „... wir können sie nicht wieder rausholen.“ Pause. „Sie besorgen sich die Informationen von Hiller. Dann installieren Sie irgendwo eine Antenne und senden uns alles, was Sie haben. Anschließend machen Sie, dass Sie wegkommen. Wir denken, das unsere Jungs dann schon recht nahe an den Reichsgrenzen sind. Verstecken Sie sich und lassen Sie sich von der Front überrollen!“
„Klingt zu einfach um realistisch zu sein, finden Sie nicht?“
„Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, Mr. Franko. Wir können Sie nicht aus Deutschland herausholen. Das ist ganz unmöglich“, antwortete Scrubbs.
„Was ist, wenn mein Funkgerät, aus welchen Gründen auch immer, nicht zur Verfügung steht?“
„Ja, das kann sicherlich passieren. Wir haben das Funkgerät in einen alten Reisekoffer eingebaut. Aber bei einer Durchsuchung war's das. Sie müssten es dann wohl loswerden. Zur Not versuchen sie die Reichsgrenzen zu erreichen und Kontakt mit unseren Truppen aufzunehmen. In vier Wochen brauchen wir Klarheit.“
Cyrus schaute auf die Karte, dann auf Scrubbs, der mit in den Hosentaschen versenkten Händen dastand. Cyrus versuchte sich vorzustellen, wie er in einer mondhellen Nacht aus dem Flugzeug springt und langsam auf die Lichtung herabsegelt. Wenn er sie überhaupt traf. Er würde schnell den Fallschirm zusammennehmen müssen, zur kleinen Burg laufen und nachschauen, ob sich dort jemand aufhält. In der Zwischenzeit hätte die Mosquito ihren zweiten Anlauf begonnen und Cyrus müsste genau beobachten, wohin sie die Versorgungsbombe warf. Immer hoffend, dass sich nicht irgendwer mitten in der Nacht in der Dunkelheit des Wald herumtrieb. Dann würde er sich nach Köln durchschlagen müssen. Ab diesem Zeitpunkt war alles möglich.
Das alles war ein Himmelfahrtskommando, und jeder schien es zu wissen. Dieses tote rothaarige Mädchen hatte einen unglaublichen Schrecken in der alliierten Geheimdienstgemeinde ausgelöst. Cyrus' Auftrag hatte eher den Anschein, das Gewissen der Beteiligten zu beruhigen. Aber die Möglichkeit, wirklich etwas Gehaltvolles in diesen vier Wochen in Deutschland herauszubekommen, war verschwindend gering.
Cyrus seufzte vernehmlich. „Womit geht’s weiter?“
„Sie bekommen von uns noch einen Haufen Dokumente. Dienstreiseausweis der Wehrmacht, ausgestellt auf Walter Müller, gültig für vier Wochen, Wehrpass, Erkennungsmarke, Soldbuch, Urlaubsessensmarken, und und und. All dieses Zeug. Und dann noch das hier.“
Scrubbs holte ein braunes Kuvert aus seiner Hosentasche, öffnete es und schüttelte einen silbernen Ring daraus hervor. Leise klirrend landete er auf dem Tisch.
„Falls Sie einer der Zielpersonen beweisen müssen, das Sie tatsächlich Alliierter sind. Ein Ring von Fraukes Hillers Finger. Mehr Persönliches hat den Brand nicht überstanden.
„Wann geht’s los?“, fragte Cyrus unbeteiligt, steckte den Ring in seine Brieftasche und blickte auf die Karte an der Wand. Der RAF-Major antwortete:
„Morgen Nacht. Der Verband startet um Mitternacht. In etwa eineinhalb Stunden werden wir über dem Zielgebiet sein.“
„Gut“, flüsterte Cyrus und sein Kinn zitterte leicht.
*
Zusammen mit Spoke verließ Cyrus am nächsten Morgen Carisbrooke-Castle. Auf dem Hof verabschiedete er sich von Scrubbs, der jetzt seine amerikanische Armee-Uniform trug. Sonst war niemand zu sehen.
„Versuchen Sie zurückzukommen. Der Dank des Vaterlandes ist Ihnen gewiss. Wenn nicht, funken Sie uns wenigstens alles, was wir wissen müssen. Und zwar wie der Teufel.“
Cyrus quetschte sich in den engen Beiwagen, während Spoke eine braune Aktentasche im Gepäckteil verstaute. Beide trugen nun britische Fliegeruniformen.
„Aufmunternde Worte sind nicht gerade Ihre Sache, was?“
„Bei Ihrem Auftrag gibt es nichts Aufmunterndes.“
Spoke trat sein Motorrad an. Ein blaue Qualmwolke hüllte sie ein.
„Warum englische Fliegeruniformen?“, fragte Cyrus, als er seine Beine unter die Verkleidung presste. „Ich würde lieber in einer amerikanischen Uniform zur Hinrichtung gefahren werden!“
„Verständlicherweise wollen wir die Einwohner hier nicht mit deutschen oder amerikanischen Uniformen verschrecken“, sagte Scrubbs und hielt Cyrus die Hand hin.
„Viel Glück, Franko!“
Cyrus nickte nur. Dann gab Spoke Gas und sie verließen Carisbrooke-Castle.
Wieder fuhren sie durch die hügelige Landschaft der Insel, doch diesmal konnte Cyrus das fette Grün der Felder bewundern. Es war ein herrlicher Sommertag und über ihnen am Himmel sah er ab und zu die Kondensstreifen hoch fliegender Flugzeuge.
Am Hafen bestiegen sie den alten Kutter, der Cyrus schon von Southhampton hierher gebracht hatte, und langsam tuckerten sie über den spiegelglatten, windstillen Solent zum Festland herüber. Randolph Spoke schwieg die meiste, und in seinem Blick glaubte Cyrus so etwas wie stilles Mitleid zu erkennen, wann immer sich ihre Blicke trafen.
Sie fuhren ein Stück die Küste entlang und machten schließlich am frühen Nachmittag in Bournemouth fest. An der Hafenmole wurden sie von zwei RAF-Soldaten abgeholt, stiegen in ein mit dunkelgrüner Tarnfarbe gestrichenen Buick, der sie nach einer Stunde Fahrt zu einem Flugplatz des britischen Bomberkommandos brachte. Cyrus und Spoke wurden zu einem abgelegenen Hangar geführt, in der mehrere lange Tische neben einer schwarz lackierten Mosquito standen. An einem der Tische stand Major Hendricks. Er war allein. Die zwei Soldaten, die sie hergefahren hatten, schlossen die großen Hangartüren und verschwanden.
Hendricks war in der Zwischenzeit auf Cyrus und Spoke zugekommen und begrüßte sie mit Handschlag.
„Schön, das Sie es sich nicht anders überlegt haben. Ich hätte es vermutlich.“ Er grinste Spoke an, aber der sagte nichts. „Mr. Spoke und ich werden mit Ihnen Ihre Ausrüstung durchgehen und die Sachen anschließend in die Versorgungsbombe packen. Wir haben jetzt noch zwölf Stunden bis die Motoren angelassen werden. Genug Zeit, alles in Ruhe durchzugehen. Die Kleiderkammer des SOE hat uns eine ganze Herrenboutique für Sie zur Verfügung gestellt. Vom Monteuranzug bis zur Abendgarderobe ist nahezu alles dabei. Dazu noch Ihre deutsche Uniform. So, wie Sie nach einem Jahr Russland aussehen sollte. Und Ihre Papiere.“
Hendricks machte eine einladende Handbewegung in Richtung der Tische.
„Bis auf das Pflicht-Funkgerät und die dazugehörige zusammenlegbare Antenne von drei Metern ist es Ihnen frei gestellt, was Sie mitnehmen.“
Cyrus blickte auf den ersten Tisch und erkannte sofort die üblichen Waffen der geheimen Kriegsführung. Zu vorderst lag die Woolworth, deren Name wohl daher stammte, dass sie für gerade mal eineinhalb Dollar hergestellt werden konnte und daher in Massen bei den Widerstandsgruppen in ganz Europa verbreitet war. Die Woolworth war einschüssig, faustgroß und passte ohne Probleme in eine Hosentasche. Daneben lagen noch mehrere exotische Schusswaffen, die vermittels unterschiedlicher Antriebsarten unterschiedlichste Ladungen verschossen.
Auf Tisch zwei lagen diverse Werkzeuge für das lautlose Töten: Zweischneidige Dolche, zum Stoßen wie zum Aufschlitzen geeignet; ein Haumesser mit Metallknauf, das als Schlagwerkzeug geeignet war und eine machetenähnliche kurze Klinge aus gehärtetem Stahl hatte. Dazu Flachmesser, die gefurchte Fingergriffe besaßen und mit Lederscheide in die Kleidung eingenäht wurden. Klappmesser, die mit einem kurzen Ruck aus dem Handgelenk durch ihre eigene Schwerkraft aufsprangen. Außerdem Taschenmesser deutschen Fabrikats, die etwas modifiziert worden waren, und ausklappbare Schlossbrecher, drei verschiedene Metallsägen und eine Drahtschere im Griff. Dann noch Dolche, die gezielt in Auge und Ohr gestoßen wurden und mit einer Lederscheide am Körper befestigt werden konnten.
„Sie scheinen ja alles zu haben, was in Agentenromanen so vorkommt“, schmunzelte Cyrus und schlenderte an den nächsten Tisch, auf dem sich die unterschiedlichsten Objekte befanden. Bei einigen musste sich Cyrus die Funktionsweise erklären lassen.
„Ein Füllfederhalter“, schwärmte Hendricks, „der tödlich ist. Hier stimmt der Spruch: die Feder ist mächtiger als die Faust - ausnahmsweise. Wenn Sie die Halteklemme drücken, feuert er einen kleinen stählernen Pfeil ab. Reichweite etwa 15 Meter. Gut gezielt ist er tödlich. Genauso wie dieser etwas antiquiert aussehende hölzerne Federhalter. Darin verbirgt sich eine kleine Überraschung. Kräftig drücken, dann kommt eine scharfe Klinge daraus hervor und Sie haben einen tödlichen Dolch in der Hand.“
Hendricks schien begeistert. Als Cyrus nichts entgegnete, legte er die Feder zurück und griff wie ein von seinen Waren überzeugter Verkäufer nach einem Schuh, der zwischen Totschlägern und Schlagringen stand.
„Das hier ist echte britische Schusterarbeit der Spitzenklasse. Wenn man Sie fangen und fesseln sollte, können Sie mit einem kräftigen Tritt Ihrer Hacke diese zwei kleinen Schneiden ausfahren und sich damit befreien. Originell, nicht wahr?“
Cyrus vermochte die Begeisterung nicht zu teilen. „Leider sind das keine deutschen Armeestiefel sondern englische. Die werde ich bei meiner Legende wohl kaum benutzen dürfen.“
Hendricks schaute verdutzt den Schuh in seiner Hand an, hüstelte kurz und stellte ihn wortlos beiseite.
Es folgten alle Formen von Zündmechanismen für Sprengstoffanschläge. Niederdruckzünder, die unter Betten oder Schienenschwellen gelegt wurden und bei Belastung explodierten, Entlastungszünder, die genau umgekehrt funktionierten. Dazu einfache Zünder, Kabel, Stromquellen, Spulen, Unterbrecher, Uhren und Sprengstoffe in kleinen Taschen zum Selberbauen.
„Das war unser Selbstschutz- und Sabotagearsenal“, sagte Hendricks weniger begeistert als zu Anfang. „Hier kommen wir zu den Kommunikationsgeräten!“
Cyrus erkannte zwei Koffer, in die zum einen ein Funkpeilgerät eingebaut war, mit dem feindliche oder eigene Sender bestimmt werden konnten und zum anderen das ihm bekannte OSS-Funkgerät enthielten. Letzteres steckte in einem stoffbezogenen Koffer mittlerer Größe und enthielt außerdem noch einen Kopfhörer, eine Morsetaste und eine Antennenspule. Daneben eine zusammengelegte Antenne, die wie eine Angelrute aussah.
„Eine Angelrute? Wer geht denn im Krieg seelenruhig angeln?“ Cyrus konnte sich mit dem Gedanken eines friedlich am Fluss sitzenden Anglers nicht abfinden.
„Ja, ist schon sonderbar. Aber warum nicht. Irgendwie ist uns nichts eingefallen, wie wir eine drei Meter lange Antenne tarnen. Warum sollten die Deutschen nicht im Krieg angeln gehen?“
Es entstand ein Pause, in der Cyrus die Tische entlang blickte. Hendricks verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. „Und? Was wollen sie von diesen Dingen haben?“
„Wie groß ist die Versorgungsbombe?“
„Etwa zwei Meter. Standardgröße.“
„Major Hendricks! Geben Sie mir eine Automatik mit Schalldämpfer, zwei Sten Maschinenpistolen, zwei Woolworths, das Funkgerät und alles, was ich zum Bombenbau brauche. Packen Sie den Sprengstoff als Butterpakete getarnt dazu. Außerdem brauche ich noch zwei Zünder. Dann organisieren Sie mir bitte einen Sechskantschlüssel. Das wäre alles. Die Hohlräume füllen sie mir mit Kaffee, Zigaretten und Klamotten aus. Wo haben Sie ihre kleine Boutique?“
Hendricks und Spoke schauten sich etwas verdutzt an. Dann führte Hendricks Cyrus zur gegenüberliegenden Seite des Hangars. An Garderobenbügeln hingen dort Straßenanzüge, Mäntel, Pullover, Westen und eine Reihe von Hüten. Cyrus suchte sich zwei abgetragene Hosen und mehr oder minder dazu passende Jacken aus. Dazu ein paar Straßenschuhe mit erneuerter Sohle, Socken, zwei Strickpullover und einen verfilzten Schal. Er trug alles zusammen und legte es auf einen Tisch.
„Sie erwähnten einen Blaumann!“
„Ja.“ Hendricks schaute ihn immer noch fragend an.
„Packen Sie einen ein. Aber neben diesen Sachen brauche ich noch die Infanterieuniform nebst Soldatenmantel und einen großen Wehrmachtsrucksack.“
Hendricks suchte die geforderten Kleidungsstücke heraus und übergab sie Cyrus. Dann blickte er ihn in Erwartung neuer Forderungen an.
„Was ist mit der deutschen Bürokratie?“
„Die habe ich hier!“, antwortete Hendricks erleichtert, griff in die braune Aktentasche, die Spoke in Carisbrooke-Castle eingepackt hatte und fischte einen dunkelroten Umschlag daraus hervor.
Cyrus öffnete ihn und überprüfte die Vollzähligkeit der Dokumente. Dann steckte er sie in eine längliche Brieftasche, die er aus seiner Armeejacke gezogen hatte.
„Da fehlt noch etwas, Major! Immerhin bin ich Familienvater.“
Hendricks schlug sich vor den Kopf.
„Oh, sicher! Ihre Familiengalerie.“
Er griff noch einmal in die Aktentasche und zog daraus einen weiteren braunen Umschlag. Cyrus holte drei Fotografien von seinen Kindern und seiner Frau hervor, dazu ein paar zerlesene Briefe. Er steckte alles in die Brieftasche und verstaute sie wieder in seiner Armeejacke.
„Gut, das war's. Wo kann ich schlafen?“
Hendricks schaute ihn überrascht an.
„Da … da ist ein Aufenthaltsraum für Flugzeugwarte. Da können Sie sich hinlegen. Aber das ist alles? Wollen Sie sich nicht noch ein paar von unseren Geräten anschauen? Sie können sie auf ihre Funktionsweise überprüfen und sich dann überlegen, ob Sie sie nicht doch gebrauchen können. Ein paar Dinge sind wirklich sensationell.“
„Nein!“, antwortete Cyrus. „Wissen Sie Major, ich bin schon auf einigen Einsätzen gewesen. Aber diesen Geheimdienstschnickschnack hätte ich dabei nicht gebrauchen können. Machen Sie sich keine Gedanken. Was ich brauche, habe ich. Ich hau' mich lieber noch ein bisschen aufs Ohr. Wecken Sie mich, wenn's Zeit wird, mich fertig zu machen.“
Damit ließ er Hendricks stehen und steuerte den Aufenthaltsraum an.
*
Es war schon zehn Uhr, als Cyrus von Spoke geweckt wurde. Von draußen hörte er tiefes Brummen. Die schweren Bomber rollten anscheinend zum Start. Cyrus stand auf, urinierte, zog mit Spokes Hilfe einen schwarzen dicken Overall über und zwängte sich anschließend in einen speziell präparierten Springeranzug, der an allen gefährlichen Stellen durch in den Stoff eingenähtes Aluminium verstärkt worden war. Dazu kam der Fallschirm.
„Ist nur ein Schirm, Franko. Einen in Reserve gibt’s nicht. Bei der Höhe kommen Sie sowieso nicht dazu ihn zu ziehen.“
Cyrus bemerkte das Gewicht des Fallschirms auf seinem Rücken und ächzte kurz, als Spoke die Tragegurte schmerzhaft eng anzog. Ein Helm, der das Gesicht schützte und den Nackenbereich verstärkte, vervollständigte seine Ausrüstung. Obwohl das Aluminium extrem dünn gearbeitet war, wog Cyrus einige Kilo mehr. Seine Fallgeschwindigkeit würde sich erheblich erhöhen. Aber bei einer Landung im Geäst eines Baumes wäre er gut geschützt. Als letztes entnahm er noch seiner britischen Fliegeruniform die Brieftasche mit den Dokumenten und steckte sie in einen Brustbeutel, den er in seinen Overall steckte.
Durch die Aluminiumverstärkungen in seinen Bewegungen eingeschränkt, stakste Cyrus breitbeinig in die Flughalle, aus der die Tische verschwunden waren. Stattdessen wimmelte es jetzt von Bodenpersonal. Die Hangartüren standen weit auf und kalte Abendluft strich angenehm kühlend herein. In seinem Anzug war es mörderisch heiß. Draußen erkannte er die Positionslichter der zum Start rollenden Bomber. Vor der zweimotorigen Mosquito standen Hendricks und weitere Männer in Fliegeranzügen, die ihn neugierig beäugten.
„Pilot Officer Oldman und Flight Sergeant Coffe“, stellte Hendricks zwei der Männer vor. Er musste fast schreien, um den Lärm zu übertönen. „Ihr Flugpersonal auf dieser Reise!“
Cyrus gab den beiden schwerfällig die Hand und nickte.
„Na, dann werden wir unsere menschliche Bombe mal in der schwarzen Lady hier verstauen!“, sagte Pilot Officer Oldman und schlug Cyrus kraftvoll auf die Schulter.
Cyrus kroch unter die geöffneten Bombenluke der Mosquito. Eine kleine Leiter führte zu einem winzigen Sitz direkt über dem Bombenschacht. An der bereits in der Halterung steckenden Versorgungsbombe vorbei kletterte Cyrus schwerfällig die Leiter hoch und nahm auf dem Stuhl Platz. Dann schaute er nach unten. Spoke erschien am Rand der geöffneten Luke. Oldman stand neben ihm und brachte die Reißleine seines Fallschirms an der automatischen Absprunghalterung an. Dabei erteilte er Cyrus Instruktionen zum Flugverlauf und zum Absprung.
„Über Ihnen ist eine Sauerstoffmaske. Und hier Ihr Kehlkopfmikro. Wir werden erst auf etwa 10.000 Fuß gehen. Da oben wird’s mächtig kalt werden. Bewegen Sie ihre Extremitäten so gut es geht. Sonst frieren sie Ihnen ein. Etwa eine halbe Stunde vor dem Ziel gehen wir auf 3000 Fuß und suchen den Absetzpunkt. Wenn wir ihn haben, geht’s noch mal runter auf 1000 und dann öffnen wir den Bombenschacht. Das bedeutet, dass der Anflug beginnt. Sie können es nicht verpassen.“ Oldman deutete auf zwei Lampen am Ende des Schachtes. „Schauen Sie dort: Die Lampen stehen für Rot gleich Achtung, Grün für ab dafür“. Bei Grün ziehen sie den Hebel an Ihrer rechten Seite. Der klappt den Sitz runter und Sie rutschen raus. Kurz darauf wird der Schirm automatisch gezogen. Vergessen Sie nicht, Ihre Atemmaske abzulegen, sobald wir die Schächte öffnen. Sonst bleiben Sie hängen und werden von unserem Flugzeug noch ein wenig mitgerissen, um dann irgendwo zu landen. Alles klar?“
Cyrus hob den Daumen, Pilot Officer Oldman nickte und klickte die Sauerstoffmaske am Helm ein.
„Vorläufig brauchen Sie die noch nicht. Wir sagen Bescheid, wenn Sie die Maske aufsetzen müssen. Probieren Sie das Kehlkopfmikro!“
Cyrus drückte das Mikro an den Hals, krächzte eins, zwei, drei.
„OK! Eins, zwei, drei“, knisterte es in seinem Kopfhörer. Die Verbindung zum Cockpit funktionierte und Cyrus hielt den Daumen hoch.
Oldman grüßte militärisch und kroch dann aus dem Bombenschacht. Zurück blieb das längliche Gesicht von Spoke, der ihn noch immer anschaute.
„Na dann, Bon Voyage, Franko. Alle unsere Gebete sind mit Ihnen“, sagte er grinsend und verschwand. Ein paar Minuten später hörte Cyrus ein elektrisches Brummen und die Bombenklappen schlossen sich unter ihm. Kurz darauf sprangen mit lautem Krachen die beiden Triebwerke an und die Mosquito setzte sich in Bewegung. Zur Hitze kam jetzt auch noch ein erstickender Gestank von Flugbenzin. Cyrus hoffte, dass dieser Flug bald beginnen und noch schneller enden würde.
*
Netterweise informierte Oldman Cyrus während des Fluges ständig über das Geschehen am Himmel. Eine halbe Stunde nach dem Start hatten die Mosquito den Rendevouzpunkt des Bomberpulks erreicht und ging mit den schweren Lancaster-Bombern auf Kurs Ost. Nach einer halben Stunde musste Cyrus die Atemmaske aufsetzen, als sie auf Höhe gingen. Sofort nahm die Kälte merklich zu und Cyrus begann seine Füße und Hände mechanisch zu bewegen. Gegen die Kälte, die durch den Springeranzug und Overall kroch, war er machtlos. Seine Zähne klapperten schließlich im Takt der Triebwerke. Zitternd hörte er den Erklärungen von Oldman zu.
„Alles in Ordnung dahinten, Sir?
„Ist ... ist ziemlich ... kalt hier ... hinten!“, stotterte Cyrus.
„Sie haben's gleich geschafft, Sir. Sind schon über Holland. Hey, höre ich da Ihre Zähne klappern, oder muss ich mir Gedanken um unsere Motoren machen?“
„Zähne!“, antwortete Cyrus kurz und rutschte ein wenig auf seinem kleinen Sitz hin und her, da er schon seit einiger Zeit seinen Hintern nicht mehr spürte. Mit einem Mal ging ein leichtes Ruckeln, begleitet von dumpfen, weit entfernten Detonationen durch das Flugzeug.
„OK! Jetzt geht’s los! Flak! Machen Sie sich keine Sorgen. Die da unten schließen schlecht und sicher nicht auf uns, sondern auf die dicken Kerle über uns.“
Das Ruckeln und Donnern ging noch ein paar Minuten weiter, dann war Ruhe. Kurz darauf war wieder Oldmans Stimme zu hören: „Sir, wir sind fast da. Gleich wird’s wärmer. Gehen jetzt auf 3000 Fuß.“
Cyrus fühlte, wie sich der fallende Druck auf seinen Ohren schmerzhaft bemerkbar machte. Die Mosquito ging fast im Sturzflug herunter. Die Temperatur stieg wieder und nach ein paar Minuten hörte das Zähneklappern auf.
„Wir haben Glück, Sir. Es ist eine wirklich klare Mondnacht. Ich kann vor mir die ersten Christbäume sehen. Alles taghell erleuchtet. Wir sollten Ihren Absprungort gleich vor uns sehen.“
Die Mosquito legte sich bald darauf in die Kurve und begann mit kreisenden Bewegungen die kleine Lichtung zu suchen. Trotz des Motorenlärms konnte Cyrus hören, dass die Lancaster-Bomber damit begonnen hatten, ihre Last auf Jüngersdorf abzuwerfen.
„Da ist die Burg!“, rief Oldman. „Direkt vor uns. Alles hell erleuchtet. Gehen jetzt auf Absprunghöhe. Legen Sie die Maske ab und achten Sie auf die Lichtzeichen vor Ihnen. Viel Glück, Sir. Und kommen Sie heil zurück!“
Mit steifen Armen zog sich Cyrus die Maske vom Gesicht. Dann setzte er sich gerade hin und legte seine rechte Hand an den Absprunggriff.
Die Mosquito war noch in einer scharfen Rechtskurve, als sich plötzlich die Bombenklappen unter ihm öffneten. Cyrus schaute auf dahinrasende Baumwipfel, die keine 300 Meter unter ihm vorbeirauschten und versuchte, noch verbliebenen Speichel in seinem vollkommen trockenen Mund zu sammeln. Aber es war keiner mehr da.
Mit zusammengebissenen Zähnen schaute er auf die zwei Lampen vor sich. Die rote Lampe leuchtete auf. Der Flugwind presste mit aller Macht in den Flugzeugrumpf und verwirbelte in einem kleinen Sturm im offenen Bombenschacht. Cyrus hörte, wie die Motoren, die immer weniger Umdrehungen machten und schließlich fast im Leerlauf liefen, von Windgeräuschen übertönt wurden. Er drückte die Knie zusammen. Sein Atem ging stoßweise und endlich leuchtete die grüne Lampe auf.
Cyrus zog mit einer schnellen Bewegung an der Haltevorrichtung und kniff die Augen zusammen. Er hörte ein scharfes Reiben von Metall auf Metall und fühlte, wie sein Magen von unten zwischen seine inneren Organe gepresst wurde. Mit dem lauten Klacken des automatischen Fallschirmauslösers im Ohr fiel er durch den Bombenschacht nach unten. Als er merkte, dass er raus war, riss er die Augen wieder auf und blickte zu seinem Fallschirm hinauf, der sich gerade entfaltete und dabei vom Luftstrom der Mosquito heftig herumgewirbelt wurde. Eine Seite des Schirms drohte einzuknicken. Cyrus blickte nach unten. Da waren vielleicht noch fünfzig Meter. Für einen kurzen Moment sah er Detonationsblitze in ein paar Kilometern Entfernung über dem umgrenzenden Wald. Darüber leuchteten, wie in einer Sylvesternacht, grüne und rote Leuchtkugeln am Himmel. Jüngersdorf wurde zeitgenau bombardiert. Die Lichtung lag fast im Tageslicht unter ihm. Die Geschwindigkeit, mit der der Boden unter ihm näher kam war enorm. Dann fühlte er einen starken Ruck, als der Schirm sich voll entfaltete.
Fast genau über der Mitte der Wiese berührte Cyrus mit einer gekonnten Rolle den weichen Wiesenboden. Trotz der perfekten Landung spürte Cyrus sofort einen heftigen Schmerz im rechten Schenkel und drehte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Rücken, während die schwarze Seide des Fallschirm sanft auf ihn niederfiel. Er war gelandet.