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Kapitel 2
ОглавлениеIm Dunst des frühen Morgens setzte eine schwarz gestrichene dreimotorige Ju 52 wie ein schwarzer Schatten mit weit ausgebreiteten Schwingen zur Landung auf dem kleinen Insel-Flugplatz an. Nach dem Sturm der vergangenen Nacht fegten noch immer böige Scherwinde über die Piste und ließen die Maschine während des Anfluges beträchtlich schaukeln.
Die Lackierung des Flugzeugs war seltsam. Das matte Schwarz betraf das ganze Flugzeug: Die Verkleidung der Motoren, das Fahrwerk, selbst die Scheiben schienen nicht zu reflektieren. Auf dem Leitwerk trug es ein leuchtend weißes Hakenkreuz mit einem mittig drüber platzierten Totenkopf. Gut sichtbar in all dem dominierenden Schwarz. Auf den Tragflächen fehlte das übliche Balkenkreuz und die Kennzeichen der Wehrmacht, stattdessen trug es nur eine SS-Rune auf dem rechten Flügel.
Mit einem kurzen Quietschen setzte das Flugzeug auf der Betonpiste auf. Am Ende der Landebahn wendete es und rollte auf das kleine Steingebäude der Flugplatz-Kommandantur zu. Dort bremste es abrupt ab und das donnernde Geräusch der Motoren erstarb. Eine Tür an der hinteren Rumpfseite wurde mit einem Ruck aufgestoßen, und über eine herunter geklappte Treppe traten zwei Männer in langen schwarzen Ledermänteln und grauen Filzhüten auf das Flugfeld. Gefolgt von fünf Soldaten in schwarzen SS-Uniformen, bewaffnet mit Maschinenpistolen.
Das Schwarz der Maschine, die schwarzen Mäntel und Uniformen der Männer; das alles hatte den Beigeschmack einer dunklen Vorahnung und Inselkommandant Leuschwitz, der, im Windschatten der Kommandantur stehend, die Ankunft verfolgt hatte, fühlte sich unwohl. Er war über die Ankunft des Flugzeugs informiert worden. Ein Sonderflug, direkt aus der Reichshauptstadt. Ein Grund für den Besuch der Gestapo aber war ihm nicht mitgeteilt worden. Beklommen betrachtete er die bedrohliche Ansammlung schwarzer Uniformen, die ihm gegenüber in einem Halbkreis Aufstellung nahmen. Zwei Männer in Zivil standen in der Mitte.
Der Inselkommandant schluckte kurz und hart, riss die Hand zum Hitlergruß in die Luft und schmetterte: „Heil Hitler! Leuschwitz! Ich meine, Major Leuschwitz, der Inselkommandant. Ich begrüße sie auf Borkum, Herr ...“. Leuschwitz blickte die beiden Männer in Zivil fragend an und wartete darauf, das die Angesprochenen ihre Namen ergänzten.
„Kriminalkommissar Skorni, und das ist Kriminalassistent Radke“, antwortete blechern der Ältere, der ihm aufgrund seiner schmächtigen Statur vorkam wie ein Ringrichter inmitten einer Horde Schwergewichtsboxer. Kommissar Skorni zog mit einer beiläufigen Geste eine ovale Marke aus der Tasche seines steifen Ledermantels und hielt sie Leuschwitz unter die Nase. Der schielte auf die eingravierte Schrift und musterte anschließend wieder nervös die beiden Männer. Betont entspannt versuchte er sich in Konversation. „Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug, meine Herren. Ich habe ein gutes friesisches Frühstück für Sie vorbereitet.“
Der Kommissar blickte ihn fragend an. Er hatte schwarze, seltsam glatte Haare, die eine hohe Stirn frei ließen und durch reichlich Brisk wie Schellack glänzten. Dazu kamen weit auseinander stehende, leicht hervor quellende Augen mit darüberliegenden V-förmigen dünnen Brauen, die auf eine spitze, leicht gebogene Nase deuteten. Augen und Brauen gaben dem Gesicht ein merkwürdig maskenhaftes Aussehen, das durch die schwarz glänzenden Haare noch unterstrichen wurde. Ein voller Mund bildete den fast beiläufigen Abschluss im blassen, länglichen Oval des Gesichts. Blechern, dachte Leuschwitz. Irgendwie metallisch, der Mann. Insgesamt wirkte dieser Kommissar wie ein Automantenwesen aus Metropolis. Unwillkürlich suchte Leuschwitz an seinem Gegenüber ein Stromkabel.
Sein Begleiter dagegen war ein grobschlächtiger Klotz. Gut einen Kopf größer als sein Vorgesetzter besaß er ein breites, kantiges Gesicht mit einem Unterkiefer wie eine Baggerschaufel. Mehr gab es über ihn nicht zu sagen. Machte Skornis Blick einen intelligenten, wenn auch durchtriebenen Eindruck, so war der Blick seines Assistenten nichtssagend und leer, grob, gewöhnlich. Man sah ihm an, dass er das Denken seinem Vorgesetzten überließ.
Skorni schien an einem friesischen Frühstück nicht besonders interessiert. Ungeduldig winkte er ab. „Herr Leutnant, leider haben wir keine Zeit für Nettigkeiten. Sie wurden von unserem Kommen unterrichtet. Ich würde gern meinen Befehlen nachkommen. Und das unverzüglich!“
„Natürlich. Ich dachte nur ...“ Leuschwitz fühlte sich überfahren und dieser Skorni unterbrach ihn einfach so.
„Befindet sich die Nachrichtenhelferin Frauke Hiller in ihrer Flugabwehr-Abteilung?“
Leuschwitz' Gesicht wurde fahl. Er schien plötzlich geistesabwesend.
„Major Leuschwitz? ...“ Der Kommissar war einen Schritt näher getreten, die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt. „ ... alles in Ordnung mit Ihnen?“
„Ähm ja, Herr Kommissar. Die Hiller ist ... sie ist hier als ... als Funkerin beschäftigt. Vor einem Monat ist sie uns zugeteilt worden. Intelligentes Mädchen ...“
Skorni verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein, schob seinen Kopf hinunter, um in das zu Boden schauende Gesicht von Leuschwitz zu sehen.
„Ja? ... Und weiter?“
„Zufälligerweise ... ähm ... ist sie gestern nicht von ihrem Urlaub zurückgekommen. Sie sollte gestern ihren Dienst antreten. Aber ... sie ... sie ist einfach nicht gekommen.“
„Warum haben sie das gestern nicht gesagt, als wir anriefen und sie baten, uns über besondere Vorkommnisse zu informieren?“, fragte Skorni betont langsam, als wöge er jedes Wort genau ab. Leuschwitz seufzte hörbar.
„Ähm, ich dachte, das ist nicht so wichtig, außerdem dachte ich, dass die Hiller heute morgen vielleicht noch auftauchen würde. Ein nettes Mädel. Vielleicht hat sie nur die Fähre verpasst.“ Durch sein Gestotter fühlte sich Leuschwitz wie ein dummer Fähnrich aber nicht wie ein deutscher Major, und das störte ihn gewaltig.
„Dachte, dachte! Fähre verpasst, vielleicht, nettes Mädel, häh!“ Skorni stellte sich gerade hin und legte seine Hände hinter dem Rücken zusammen. Über Leuschwitz' Schulter hinweg schaute er in die aufgehende Morgensonne, die sich blassgelb durch den morgendlichen Dunst den Horizont hinaufquälte. Erst jetzt erkannte Major Leuschwitz eine lange dünne Narbe an Skorni, die unterhalb des Ohrläppchens begann und von dort über Wange und Mundwinkel bis zum Kinn hinabreichte.
Der Gestapo-Mann trat einen Schritt näher an den Major heran, dem augenblicklich heiß und kalt wurde. Skorni roch nach Pomande und Kölnisch-Wasser. Übellaunig zischte er: „Ich will Ihnen mal was sagen, Herr Major! Ich möchte in einer Stunde alle vernehmen, die etwas mit Ihrem netten Mädel zu tun gehabt haben. Heute Abend werde ich diese Scheißinsel wieder verlassen. Wenn ich bis dahin nicht herausgefunden habe, wohin das nette Mädel verschwunden ist, werde ich Sie wegen Sabotage festnehmen und anschließend auf der Flucht erschießen lassen! Wenn ich Leute erschießen lasse, will hinterher niemand wissen, warum. Da hab' ich Narrenfreiheit. Also! Nützliche Informationen oder ihr kleines Scheißleben. Bis heute Abend. Ist das in Ordnung? Sind wir im Geschäft?“
Die letzten Worte hatte er laut für alle Anwesenden gesprochen und dabei den Kommandanten vergnügt angeschaut.
Leuschwitz fühlte mit einem Male ein eigenartiges Gefühl der Taubheit in seinen Beinen und taumelte kurz.
„Hoppla! Herr Leutnant. Noch nicht gefrühstückt? Dann sollten sie das mal. Sonst fallen Sie uns noch um!“
Leuschwitz riss sich zusammen. Mit einem diesmal brüchig gehaspelten Heil Hitler drehte er sich um, stakste zu einem Auto, hielt die Wagentür auf und ließ die beiden Gestapo-Beamten einsteigen. Der Rest folgte in einem Lastwagen.
Den ganzen Nachmittag bis in den späten Abend hinein verhörten Skorni und Radke Luftwaffenhelfer, Soldaten, Nachrichtenhelferinnen und Hilfswillige. Einzeln. Das meiste von dem, was sie in Erfahrung brachten, war ihnen bereits bekannt und die Stunden vergingen ergebnislos. Skorni blickte hin und wieder zu Leuschwitz herüber, der bleich wie ein Eimer Löschkalk an der Wand seines Büros lehnte und nervös mit irgendetwas in seiner Hosentasche spielte. In den Verhörpausen trat Skorni nach draußen vor die Dienstbaracke und zündete sich eine Zigarette an.
Er dachte an das Mädchen. Dass er zu spät gekommen war, machte ihn wütend. Dass er auf dieser Insel saß, machte ihn wütend. Dabei war er sich sicher gewesen, sie heute festnehmen zu können. Diese Hiller war doch nur ein junges Ding, hatte keine Ahnung! Trotzdem war sie weg. Er hatte ein Kind entwischen lassen, und das machte ihn richtig wütend. Er schaute sich kurz um, überzeugte sich, dass er allein vor dem Haus stand und schmiss seine Zigarette mit einem lauten Scheiße in den Dreck. Skorni ließ sich nicht gerne bei Gefühlsregungen beobachten, außer sie dienten zur Einschüchterung. Einzig das sporadische Vorschieben seines Unterkiefers zeigte die Anspannung, unter der er stand. Er musste Kaltenbrunner wenigstens erklären, wo das Mädchen geblieben war. Sonst brauchten sie sich erst gar nicht in Berlin blicken lassen.
Der ganze Auftrag war dubios. Eigentlich war er mit Radke auf Heimaturlaub. Sie hatten drei Monate in Prag Jagd auf Juden gemacht und waren dabei wie immer recht erfolgreich gewesen. Den Urlaub hatten sie sich jedenfalls verdient. Dann hatte die Gestapoleitstelle Berlin angerufen und ihnen diesen Auftrag zugeteilt.
Also waren sie in die Albrechtstraße in Berlin gefahren, wo man ihnen erklärt hatte, dass sie lediglich ein junges Mädchen aus Köln suchen und anschließend nach Berlin zur Vernehmung bringen müssten. Die Sache sei aber etwas heikel, da die Gesuchte die Tochter eines bewährten Parteimitglieds sei, und daher könne man es nicht irgendwelchen Beamten vor Ort überlassen, sondern nur Top-Leuten.
Obwohl sich Skorni durch diese Anrede geschmeichelt gefühlt hatte, war er doch etwas beleidigt nach Köln aufgebrochen. Zumal diese Sache seiner nicht würdig war. Fast war er angenehm überrascht, dass er sie dort nicht vorfand. Sie war verschwunden. Wenigstens schien dies nicht eine einfache Verhaftung zu sein. Denn jetzt war er schon den zweiten Tag hinter ihr her. Irgendwie beschlich ihn das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Das nagte an seinem Ego.
„Herr Obersturmführer! ...“ Radke, der Skorni immer mit seinem SS-Rang ansprach, war hinter ihn getreten, „... da ist so eine fette Trulla, die sich öfters mit der Hiller unterhalten hat. Gute Freundin und so ...“
„Ich komme!“ Skorni folgte seinem Assistenten durch einen langen Gang in den Verhörraum. Im Büro saß eine dralle Dunkelhaarige. Hineingezwängt in die blaue Uniform der Blitzmädchen, kleine, fette rosa Hände im Schoß gefaltet.
„Sie kennen Fräulein Hiller?“, fragte Skorni scharf.
„Ja, is 'ne Freundin von mir“, antwortete die Dunkelhaarige und vermied es anscheinend, sie als gute Freundin zu bezeichnen.
„Schön. Können Sie uns vielleicht sagen, wo sie sich aufhält?“
„Nein, nicht direkt. Aber sie hat einen Freund drüben auf dem Festland. In Jever, bei den Nachtjägern. Sind schon lange zusammen.“
„Ja, und weiter“, bohrte Skorni.
„Na ja, sie war immer bei ihm, wenn sie keinen Dienst hatte. Hat sich dann wohl mit ihm getroffen. In der Stadt oder so.“
„Wie heißt er?“, fragte Skorni
„Keine Ahnung, aber er sieht gut aus.“ Das Mädchen schaute ein wenig treudoof drein und grinste verschämt.
„Sonst noch was?“, fragte Skorni gereizt und überlegte sich, ob er ihr eine Ohrfeige verabreichen sollte, damit sie mit dem Grinsen aufhörte.
„Nein, Herr Kommissar. Mehr weiß ich nicht. Aber die Frauke ist ein nettes ...“
„Ich weiß! Sie können gehen.“
Skorni schaute der jungen Frau nach, schwieg, bis sie den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Grübelnd blickte er zum Fenster hinaus. Die Sonne stand tief, es dämmerte bereits. „Radke!“
„Ja, Herr Obersturmführer?“
„Nehmen Sie bitte dem Major seine Pistole ab.“
„Jawoll!“
Der Major trat einen erschreckten Schritt zurück. „Das können Sie doch nicht machen!“, brachte er stotternd hervor. „Wer sind Sie, dass Sie sich hier einfach als Herr über Leben und Tod auf ...“
Plötzlich verstummte er. Mit einem einzigen gezielten Hieb auf die Brust brachte ihn Skornis Assistent zum Schweigen. Nach Luft japsend, mit hochrotem Kopf stand er vornüber gebeugt vor Radke, der ihm ohne Hast die Pistole aus dem Halfter nahm.
„Sie sind festgenommen! Wegen Beihilfe zur ... zur ... sagen wir Wehrkraftzersetzung, Begünstigung von Feindaktivitäten usw. usw.“, verkündete Skorni in sachlichem Ton und fühlte eine innere Erregung aufsteigen. Leuschwitz war das Opfer, das er jetzt brauchte. Er trat auf den Gang und brüllte nach dem SS-Begleitkommando. Gerade wollte er ihnen befehlen, den Major festzunehmen und ihn auf der Flucht in den Dünen der Insel zu erschießen, als das Telefon klingelte.
„Radke, gehen Sie mal ran! ...“
Das Klingeln endete und Skorni hörte auf die Stimme seines Assistenten.
„... nein, natürlich können Sie das auch mir sagen. Was? Auf dem Flughafen? ... Gestern Abend. ... Warum hören wir erst jetzt davon? ... Gut. Ja. Wiederhören.“
„Das war der Platzwart vom Flugplatz“, erklärte Radke. „Hat gehört, dass hier eine Vernehmung durch die Gestapo im Gange ist. Da ist ihm eingefallen, dass hier gestern Abend eine Privatmaschine gelandet ist. Geflogen hat sie ein Leutnant Grewe, der eine Sondererlaubnis für den Flug hatte.“
„Ach was! Eine Privatmaschine mit Sondererlaubnis! Was ist das hier für ein Scheiß-Kommando auf ihrer Scheiß-Insel?“, rief Skorni und funkelte dabei den nach Luft schnappenden Leuschwitz böse an. Radke sprach tonlos weiter.
„Ja. Er hatte wohl technische Probleme. Eine Stunde später ist sie dann wieder gestartet. Nach Jever. Zu den Nachtjägern.“
„Ach was!“, stieß Skorni hervor.
„Das hat den Platzwart gewundert, weil ein Sturmtief angekündigt war. Aber weil's nur ein kurzer Flugweg ist, hat's ihn nicht weiter gestört.“
Skorni setzte sich verkehrt herum auf einen Stuhl und verschränkte die Arme auf der Lehne. Er richtete seinen Blick auf eine Landkarte von Norddeutschland. Am linken Rand war noch die Ostküste Englands zu erkennen. Skorni ergriff das Telefon und ließ sich mit dem Fliegerhorst in Jever verbinden.
„Ja, Skorni hier, Geheime Staatspolizei. Ist bei Ihnen ein Leutnant Grewe stationiert, und ist er auch auf dem Fliegerhorst anzutreffen? Ja, ich warte ...“
Während er das Telefon an sein rechtes Ohr gepresst hielt, trommelte er mit den Fingern der linken Hand einen Dreivierteltakt, zu dem er leise O, du schöne blaue Donau summte. Der bleiche Major stand schwer atmend neben der Tür und hielt noch immer seine Hand gegen die Brust gepresst.
Skorni horchte auf. Am anderen Ende der Leitung raschelte es. „Ja. Ausgezeichnet. Sorgen Sie dafür, dass der Leutnant bleibt wo er ist. Lassen Sie ihn nicht weg... Gestapo, ja. ... Sonderkommando... Wir kommen in gut zwei Stunden ... Wenn Sie damit Probleme haben, rufen sie beim RSHA in Berlin an. Die Nummer kann ich Ihnen geben ... Na sicher ... Sehen Sie, geht doch!“
Triumphierend knallte Skorni den Hörer auf die Gabel, schnappte nach Mantel und Hut und rief: „Kommen Sie Radke. Wir fliegen nach Jever!“. Dann fiel sein Blick auf den Inselkommandanten. „... Na, da haben wir aber noch mal Glück gehabt, was, Herr Major? Müssen wohl doch nicht mit meinen Männern in die Dünen. Das nächste Mal machen Sie über alle Geschehnisse hier eine ordentliche Meldung, nicht wahr? Sie sehen ja, das kann einem schnell Kopf und Kragen kosten. Jetzt gehen Sie erst mal was essen. Sie sind ja ganz blass. Einer Ihrer Männer kann uns ja zum Flugfeld bringen. Und bringen Sie Ihren Saustall hier mal auf Vordermann. Privatflüge! Kaum zu glauben.“
Damit verließen er und Radke den Raum.
Leuschwitz drückte seinen Rücken an die Wand, bis ihm endgültig seine Beine den Dienst versagten. Langsam rutschte er auf den Boden, steckte seinen Kopf zwischen die Beine und begann leise zu schluchzen. Sein Brustkorb schmerzte höllisch.
Als Skorni mit seinen Männern auf dem Flugplatz der Nachtjäger in Jever landeten, war es bereits dunkel. Der Platzkommandant, ein steifer blonder Geck mit blauer Fliegeruniform, der trotz seines fortgeschrittenen Alters den Anschein von Jugendlichkeit erwecken wollte, begrüßte sie ebenso nervös wie es zuvor der Inselkommandant von Borkum getan hatte. Wenn die Gestapo auftauchte, noch dazu mit einem Dienstflugzeug der SS, war definitiv mit Ärger zu rechnen. Aber der Kommandant hatte nicht die Absicht, sich von der Gestapo oder SS irgendetwas vorschreiben zu lassen. Nachdem er die beiden Beamten und die SS-Soldaten zu einem mit Tarnanstrich bemalten Verwaltungsgebäude begleitet und ihnen dort einen Raum, der normalerweise für Dienstbesprechungen genutzt wurde, zugewiesen hatte, schickte er nach Leutnant Grewe. Er selbst stellte sich mit verschränkten Armen in eine Ecke des Raums. Als man den jungen Mann in den Raum führte, begrüßte er ihn väterlich und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „N'abend Karl, mein Junge. Was haben wir denn angestellt, dass wir Besuch von der Gestapo bekommen?“
Auf den ersten Blick erkannte Skorni, dass es sich bei dem jungen Mann um keinen besonders guten Schauspieler handelte. Ängstlich huschte dessen Blick über die Gesichter der beiden Polizisten, dann hinüber zu den Männern in ihren schwarzen Uniformen, die sich bedrohlich an der Wand aufgereiht hatten. Skorni und Radke musterten ihn feindselig. Skorni wusste sofort, dass er mit Grewe ins Schwarze getroffen hatte.
„Ich weiß es nicht, Herr Major!“, beantwortete der junge Mann die Frage des Kommandanten.
„Leutnant!“ Skornis Stimme schnitt durch den Raum, als er sich schnell von seinem Stuhl erhob. „Es war ein langer, ziemlich unnützer Tag drüben auf Borkum. Wir wollen fertig werden. Können Sie sich denken, was wir dort gemacht haben? Auf Borkum?“
„Nein!“
Skorni trat auf den jungen Fliegerleutnant zu. Körperliche Nähe erzeugte bei vielen Menschen Unwohlsein. „Nein?“, fragte er spöttisch, kaum ein paar Zentimeter von Grewes Gesicht entfernt. „Herr Leutnant? Kennen sie ein Fräulein Hiller? Sie ist Funkerin drüben auf Borkum. Ne' hübsche Rothaarige. Blitzmädchen. Dienstverpflichtet, nicht wahr, Radke?“ Skorni drehte sich grinsend zu seinem Assistenten um. Der hatte sich ebenfalls erhoben und stand breitbeinig mitten im Raum. Sein großer Mund war zu einem breiten Grinsen verzogen.
„Ja! Ein kleiner, rothaariger Blitzfick!“
Der Major ließ empört seine verschränkten Arme sinken und schaute böse zu Radke herüber. „Mein Herren, bitte nicht solch' einen Ton. Den verbitte ich mir auf meinem Flugplatz.“
Skorni spürte Wut in sich aufsteigen. In seinem Hals würgte es. Er schluckte kurz, dann brüllte er los, so dass sich seine Stimme dabei überschlug. „Und ich verbitte mir jegliche Einmischung von Seiten der Luftwaffe, Herr Major. Die steht beim Führer sowieso nicht mehr hoch im Kurs. Dies ist ein Sonderkommando der Gestapo, vom Chef des Reichssicherheitshauptamtes direkt angeordnet. Ich rede mit dem Leutnant, wie ich es will! Wenn Sie nicht augenblicklich still sind, werde ich Sie in Berlin an höchster Stelle melden. Denen ist Ihr Dienstgrad und Ihre Auszeichnungen so egal, wie'n Pickel an 'nem Russenarsch. Also Schnauze! Wenn Sie das nicht können, dann verschwinden Sie.“
Skorni hatte bei seiner Tirade nicht den Horstkommandanten angesehen, sondern den Leutnant, der leicht zitterte. Skorni sah so was, er witterte Angst. Dafür hatte er feine Antennen. In normalem Ton, in dem dennoch leichte Befriedigung mitschwang, wiederholte er seine Frage. „Also, Herr Leutnant. Fräulein Hiller. Sie waren doch gestern mit einer Privatmaschine kurz auf Borkum. Der Platzwart kann es bestätigen. Mal davon abgesehen, das Privatflüge verboten sind und ich Sie allein deshalb verhaften lassen kann, denke ich, dass ich das Flugzeug hier auf dem Horst nicht finden werde. Also? Wo ist die Maschine? Und wo ist Fräulein Hiller?“
Skroni sah, wie Grewes Gesicht sich fahl färbte.
„Ich habe mich mit einem Freund getroffen. Zusammen haben wir das Flugzeug seines Vaters aus Holland in Sicherheit bringen wollen. Wo doch jetzt die Alliierten gelandet sind ...“
„Lüge!“, peitschte Skornis Stimme durch den Raum.
„Nein wirklich ... ich habe ...“
„Lüge! Sie sind auf die Insel geflogen und haben das Flugzeug Frauke Hiller überlassen, nicht wahr? Dann sind Sie mit der Fähre nach Jever zurück. Ist es nicht so? Hä? Sonst können Sie mir ja den Namen Ihres angeblichen Freundes sagen. Ich rufe ihn an. Gleich jetzt. Dann sind Sie aus dem Schneider und wir verschwinden!“
„Nein ich ... ich ...“
„Nein ich ... ich ...“, äffte ihn Skorni nach.
Mit gespielter Empörung mischte sich der Horstkommandant ein. „Ja, Herr Leutnant? Stimmt das? Sie waren gestern auf Borkum. Privat? Mit welchem Flugzeug?“
Skorni schielte über seine Schulter auf den Horstkommandanten. Sieh an, sieh an, dachte er, die Ratte verlässt das sinkende Schiff.
Der junge Leutnant schloss die Augen. Jetzt begreift er, dass er keine Chance mehr hat, dachte Skorni. Er liebte es, wenn Verdächtige zusammenbrachen. Mit dem Zeigefinger tippte er Grewe fest auf die Schulter und keifte: „Die Hiller ist damit verschwunden, nicht wahr, Leutnant? Sie haben sich das Flugzeug hier fertig gemacht und sind nach Borkum geflogen. Dann hat die Kleine das Ding übernommen und ist damit nach England geflüchtet. Nicht wahr? Nicken Sie, wenn Sie nicht sprechen können.“
Grewe nickte. Der Horstkommandant war plötzlich außer sich. Hatte wohl Schiss, da mit reingezogen zu werden.
„Herr Leutnant, verdammt noch mal! Was soll das alles? Das ist Hochverrat! Welches Flugzeug?“ Seine väterliche Attitüde war verschwunden.
„Einer der Kuriermaschinen“, hauchte Grewe.
„Was? Das ist ja unglaublich. Da kann ich jetzt nichts mehr für Sie tun!“
Skorni schnalzte mit der Zunge. „Packen Sie ihre Sachen, Grewe. Sie sind festgenommen. Den Rest können Sie in Berlin erzählen. Sie wissen, was die Hiller in England will. Sie werden noch einiges ausplaudern, nicht wahr? Radke wird Ihnen beim Packen helfen.“
Grewe wendete sich zum Gehen. Als er auf der Türschwelle stand, hörte er Skorni beiläufig sagen: „Ich hoffe, sie war es wert.“
Zitternd wandte sich Grewe um. In seinen Augen standen Tränen. Mit belegter Stimme, aber dennoch fest, antwortete er: „Mehr als Sie es sich in Ihrer kleinen braunen Welt vorstellen können, Sie Dreckschwein!“ Das Gesicht leicht anhebend, brüllte er ein spöttisches „Heil Hitler!“, machte zackig kehrt und verließ mit Radke den Raum.
Skornis Augenbrauen hoben sich. Sein Unterkiefer schob sich nach vorn.
Radke und der Leutnant stampften allein über den stockdunklen Flugplatz, überquerten eine Straße und betraten die Unterkünfte der Piloten, in denen nachts nur blaues Licht brannte. Das blaue Licht war eine Idee Hitlers, der aus unerfindlichen Gründen daran glaubte, es sei in der Nacht weniger sichtbar als rotes.
Einige junge Männer schauten müde auf, als Grewe den Schlafsaal betrat und zum Spint ging. Radke blieb in der Tür stehen und griff nach seiner Dienstwaffe, die unter seiner Anzugjacke verborgen in einem Halfter steckte.
Ein kleiner blonder Kerl stellte sich neben Grewe und sprach ihn an. „Was ist den los, Mille? Haste Spielschulden?“
Ein kräftiger Bursche mit einem von Akne verunstalteten Gesicht, der an einem Tisch saß und seine Stiefel mit einer Bürste bearbeitete, lachte höhnisch. Grewe ging nicht auf die Frage ein.
„Halt die Schnauze, Kolke!“, drohte eine Stimme aus dem Halbdunkel des hinteren Schlafraumes. Ein Mann, der in einer alten Polstergarnitur gesessen hatte, trat rauchend in die Mitte des Raums. In seiner Hand hielt er ein Feuerzeug, mit dem er herumspielte. Er war älter als seine Kameraden. Aber nicht viel. Er trug die Fliegerkombination der Nachtjäger. Seine dunkelbraunen Haare hatte er streng zurück gekämmt. Sie glänzten, als er direkt unter der Stubenlampe stehenblieb.
„Was soll das, Mille?“, fragte er Grewe ohne den Blick von Radke zu nehmen, der lässig im Türrahmen lehnte. „Wer ist der Kerl?“
„Gestapo“, sagte Grewe kurz. Bei der Nennung des Wortes Gestapo blickten die Anwesenden zuerst hinüber zu Radke, dann zu Grewe, der eine Tasche aus seinem Spint hervorholte und einige Sachen hineinwarf. Der Mann in der Fliegerkombination ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Wieso?“, fragte er Grewe.
„Das geht Sie einen feuchten Kehricht an“, rief Radke durch den Raum. Grewe störte sich nicht daran. Als er fertig gepackt hatte, wandte er sich dem Mann in der Fliegerkombination zu. „Sag meiner Familie, dass ich sie liebe, ja?“
„Schnauze, Leutnant“, schrie Radke nochmals und zog dabei seine Dienstwaffe aus dem Schulterhalfter.
„Mach keinen Scheiß, Karl“, antwortete der Angesprochene.
Grewe schüttelte unmerklich den Kopf, nahm die Tasche und verließ den Raum. Laut fiel sie ins Schloss.
Grewe schritt voran durch den Flur und noch bevor er den Ausgang der Baracke erreichte, drehte er sich unvermittelt um und sprang auf Radke zu. Verdutzt schaute der auf das wutverzerrte Gesicht des jungen Mannes, hob ohne viel nachzudenken seine Waffe und drückte ab. Der Schuss hallte ohrenbetäubend im Flur wieder. Grewe griff sich an den Bauch, seine Augen wurden groß, aber er versuchte weiter Radke zu erreichen. Der schoss noch einmal. Diesmal in den Kopf.
Grewe war tot.