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Kapitel 15

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Nachdem Cyrus sich von Luise Hiller verabschiedet hatte, ging er zurück Richtung Innenstadt. An einem Wasserwagen in der Nähe des völlig zerstörten Bahnhofs stellte er sich in einer Schlange an und füllte seine Feldflaschen. Anschließend tauschte er bei blondzöpfigen BDM-Mädchen eine Urlaubs-Essensmarke gegen ein Schinkenbrot. Nicht weit von einem Bunker entfernt setzte er sich auf einen Steinpoller und aß. Eine Streife älterer HJ-Jungen kontrollierte seine Papiere. Routine. Vorläufig. Ein paar Minuten nachdem die HJ verschwunden war, stieg er zum Rheinufer hinunter.

Die Hohenzollernbrücke lag zwischen zwei neoromanischen Portalen, die sich wie mittelalterliche Burgtürme in den Himmel streckten. Die Bomben hatten sie bis jetzt verfehlt. Vielleicht war das ja auch Absicht gewesen. Man brauchte sie noch für den Vormarsch. Cyrus kletterte vorsichtig über verbogene Eisenbahnschienen und schaute die Rheinpromenade entlang. Verstreut lagen ausgebrannte Fahrzeuge zwischen kreisrunden Schuttbergen und abgebrannten Bäumen. Weiter stromaufwärts dümpelten halb versunkene Lastkähne an kaputten Stegen im Fluss.

Trotz allem war die Promenade eine weithin überschaubare aufgeräumte Fläche, und Cyrus fragte sich, wo sich diese Piraten von denen Luise Hiller gesprochen hatte, wohl trafen. Er setzte sich auf die Ladefläche eines komplett ausgeschlachteten LKW's, zog eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Niemand beachtete ihn. In seinem Wehrmachtsmantel und mit seinem Rucksack sah er aus wie einer der vielen Soldaten, die im Durcheinander der Stadt umherirrten und nach ihren Familien suchten. Sogar ein Trupp exerzierender SA-Männer nahm keine Notiz von ihm. Also beschloss Cyrus einfach sitzen zu bleiben und zu beobachten.

*

„Wen suchen Sie, Soldat?“

Ein Junge, etwa 12 Jahre alt, hatte sich vor der Ladefläche aufgebaut und schaute Cyrus aus leicht hervor quellenden blauen Augen an. Die Hand hatte er im militärischen Gruß lässig an die Stirn gelegt, während sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzogen hatte. Cyrus schaute ihn gelangweilt an, zog noch einmal an seiner Zigarette und schlug sich herunter gefallene Asche vom Mantel.

„Ich suche meine Familie!“

„Wo ham die denn gewohnt?“ Der Junge sprach kölnischen Dialekt und Cyrus musste sich anstrengen, ihn zu verstehen.

„In Ehrenfeld! Mechternstraße!“, log er.

„Und warum suchen Sie dann hier?“

„Das Haus steht nicht mehr und ich weiß nicht, wo ich nach ihnen suchen soll, Junge.“

„Na, in der Vermisstenstelle der Ortsgruppe.“

„Die wissen auch nicht wo sie sind.“

„Vielleicht bei Verwandten?“

„Möglich“, sagte Cyrus kurz und wäre diesen neugierigen Burschen gerne losgeworden. Er griff nach seinem Rucksack und wollte gerade gehen, als er am abgewetzten Hemdkragen des Jungen ein paar farbige Nadeln entdeckte. Einer dieser Piraten? Ihm kam da eine Idee.

„Vielleicht kannst du mir ja helfen!“

„Wie? Ich?“, fragte der Junge, dessen Augen flink hin und her huschten. Er schien ständig die nähere Umgebung im Auge zu behalten.

„Na ja. Mein Junge hat mir während meines letzten Fronturlaubs erzählt, dass er sich hier an der Brücke immer mit Freunden getroffen hat. Gibt's hier so einen Treffpunkt?“

Der Junge blickte ihn misstrauisch an und kniff die Augen zusammen.

„Nee. Nicht, dass ich wüsste.“

„Egal. War einen Versuch wert.“

„Haben Sie ´nen paar Kippen übrig?“

„Bist du nicht noch ein bisschen jung fürs Rauchen?“, fragte Cyrus und hielt dem Jungen seine Schachtel hin. Der blickte sich kurz nach allen Seiten um und griff zu.

„Na, die sind zum Handeln“, entgegnete der Junge empört. Cyrus hatte vergessen, dass Zigaretten mittlerweile in Deutschland so etwas wie eine Ersatzwährung geworden waren. Der Junge stierte gierig auf die Zigarettenpackung.

„Mann, das sind ja amerikanische. Wo haben se die denn her?“

„Von einem abgeschossenen Flieger. Lag tot auf einem Feld. Da habe ich sie her. Habe ihn gefilzt!“

Der Junge klaubte sich gleich drei aus der Schachtel und grinste Cyrus dabei an. Schnell verschwanden sie in seiner Hosentasche.

„Wie heißt denn Ihr Sohn?“

„Wilhelm Müller“, log Cyrus platt, „aber bei seinen Freunden heißt er nur Sid. Er hatte auch einen guten Freund. Der hieß ... warte mal ... Karl ... Karl Grewe. Und da war auch ein Mädchen. Frauke soundso, glaube ich. Vielleicht kennst du sie ja.“

„Nee. Aber ich kann mich ja mal umhören. Sind Sie noch länger hier?“

„Klar“, sagte Cyrus und legte sich auf der Ladefläche zurück, „bis heute Abend jedenfalls.“

„Danke für die Zigaretten!“, rief der Junge und rannte davon. Cyrus wusste instinktiv, dass er die Angel an der richtigen Stelle ausgeworfen hatte.

*

Der Junge fand das Zusammentreffen mit dem Soldaten äußerst seltsam. Heinz Wollmann, kurz Heinzl wegen seiner Größe, war öfters in der Innenstadt unterwegs und organisierte allerlei Sachen aus den Ruinen. Eigentlich war das Plündern und wurde hart bestraft. Aber Heinzl war flink und die HJ, diese Petzer, konnten ihn mal.

Besonders aber war Heinzl an Zigaretten interessiert. Zigaretten waren auf den Schwarzmärkten am Griechenmarkt oder in der Alexianerstraße ein wertvolles Tauschmittel. Vor allem amerikanische. Aber die waren selten. Dass dieser Soldat eben ihm ohne Nachfragen gerade solche geschenkt hatte, war an sich überraschend gewesen. Und dann noch die Frage nach Sid. Natürlich kannte Heinzl Sid. Jeder kannte Sid. Todesmutig, der Kerl. Der nahm es mit einer ganzen Schar dieser braunen Schießbudenfiguren von der HJ auf. Sid hatte vor aller Augen den Gestellungsbefehl zerrissen und beteuert, das er diesen Mist nicht mitmachen würde. Er ließe sich nicht verheizen und „Scheiß auf Hitler“ hatte er laut gerufen. Dabei die Hand zum Hitlergruß ausgestreckt. Er würde in den Untergrund gehen. Was er dann auch tatsächlich getan hatte.

Allerdings wusste Heinzl auch, das Sid in Wirklichkeit Hartmut Sieder hieß und nicht Wilhelm Müller. Definitiv. Außerdem war dessen Vater Kommunist gewesen und die Nazis hatten ihn schon zu Anfang des Krieges verhaftet und fortgebracht. Das war bekannt in Ehrenfeld. Aber die Sache mit Karl Grewe stimmte nun wiederum. Die beiden waren dicke Freunde gewesen. Karl, seine Schwester Stefani, Sid und diese hübsche Frauke Hiller, in die alle Jungen bei ihnen ein wenig verschossen waren. Die war irgendwie so 'ne richtige Dame. Kam aus besserem Hause. Die Eltern hatten Schotter ohne Ende. Aber das hatte man Frauke nicht angemerkt. Keine Allüren. Die war ziemlich in Ordnung gewesen.

Wie Karl! Ihr Freund. Der war dem Gestellungsbefehl gefolgt. Luftwaffe immerhin. Und auch Frauke war als Nachrichtenhelferin nach Borkum gegangen, weil ihre Eltern das so gewollt hatten. Damit sie von Karl und den Ehrenfeldern Edelweiß-Piraten wegkam. Das war für alle Jungs ein wirklicher Verlust gewesen, denn auch Heinzl war sich wie alle anderen sicher, dass es in Köln kein schöneres Mädchen gegeben hatte.

Er überquerte den Friesenplatz und trabte Richtung Ehrenfeld. Wie eine Gemse im Gebirge kletterte er durch die Trümmerwüste der Innenstadt. Kurz nach dem Grüngürtel, der die Altstadt umgab, erreichte er eine zerstörte Schuhfabrik, zog sich über eine halb eingestürzte Mauer, schaute sich kurz um und verschwand dann in der alten Fertigungshalle. In der hinteren Ecke führte eine Treppe in den Keller, der aber durch eine stabile Eisentür verschlossen war. Heinzl nahm einen Stein und schlug in einem bestimmten Rhythmus an die Tür.

Knarzend wurde sie geöffnet. Einen Spalt breit.

„Parole?“

„Stulle, du Idiot. Du brauchst mich nicht nach der Parole fragen, wenn du die Tür schon halb offen hast.“

Heinzl drückte mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür.

„Mann! Parole!“, rief der Junge, der jetzt vollständig zum Vorschein kam. Missmutig schaute er Heinzl an. Der verdrehte die Augen und suchte die Dunkelheit des Keller ab.

„Ach, halt die Klappe, Stulle. Ist Sid da?“, rief er über seine Schulter. Stulle drückte die schwere Eisentür wieder zu und verriegelte sie mit einem Holzbalken.

„Ja! Ist hinten in den Waschräumen.“

Heinzl ließ die Türwache stehen und platschte durch zahlreiche Pfützen einen langen dunklen Gang entlang. Am Ende lagen zwei ehemalige Waschräume. In einem stand ein kleiner kräftiger Bursche von etwa achtzehn Jahren mit dunklem Teint und machte sich an ein paar Kisten zu schaffen, die er gerade mit einem Brecheisen aufhebelte. Sid war ein Organisationstalent und anscheinend damit beschäftigt, das Beutegut der letzten Nacht zu sichten.

„Hey, Sid!“

„Hey, Heinzl. Na, was ist los da oben? Sind die Nazis raus aus Köln?“

„Nö, leider nicht“, antwortete Heinzl, setzte sich auf einen umgeworfenen Schrank, wartete einen Augenblick und sagte dann laut und deutlich:

„Ich wusste gar nicht, das du Wilhelm Müller heißt!“ Sid blieb ungerührt, schaute nur kurz auf und beschäftigte sich dann weiter mit dem Inhalt der Kisten.

„Heiß' ich auch nicht. Was soll der Quatsch?“

„Frage nur, weil da auf der Uferstraße nahe unserem Treffpunkt ein verlauster Landser sitzt, der behauptet, dass er aus Ehrenfeld stammt, seine Familie sucht und dass Sid sein Sohn ist.“

Sid legte das Brecheisen weg und schaute auf. Heinzl holte ein Zigarette aus seiner Brusttasche und zündete sie an. „Amerikanische! Hat der Kerl mir geschenkt.“

„Was wollte er genau wissen?“, fragte Sid, der hellhörig geworden war.

„Der wollte wissen, wo du steckst. Hat mich gefragt, ob sich bei der Brücke ab und zu Jugendliche treffen. Hätte ihm sein Sohn, Sid ... sein Sohn ... gesagt. Dann hat er mir die Zigaretten gegeben. Ich brauchte noch nicht mal fragen. Seltsam nicht?“

„Mit dem stimmt was nicht. Du hast ihm doch wohl nichts gesagt.“

„Nö, natürlich nicht. Bin ja nicht verrückt. Hab' erst einen ziemlichen Schrecken gekriegt. Dachte, der sei von der Gestapo. Ne neue Masche, um an uns 'ranzukommen. Aber dann hat er mir erzählt, dass du, also Sid, der beste Freund von Karl Grewe gewesen wärst. Da hab ich mich gefragt, woher er das weiß. Außerdem kannte er Frauke. Und Stefani.“

Sid stierte Heinz verdutzt an. Seine Kiefermuskeln arbeiteten. Das taten sie immer, wenn Sid überlegte. „Sonst noch was Komisches an dem Kerl?“

„Außer, dass er kein Kölsch konnte. Und er sprach irgendwie komisch, kann gar nicht sagen, wie. So wie einer spricht, der Kölsch nur nachmacht. Nicht besonders gut übrigens. Ziemlich verdächtig für einen aus Ehrenfeld. Er hat gesagt, wenn ich dich zufällig finden würde, wäre er noch bis heute Abend an der Brücke. Das war's.“

Sid ging mit gebeugten Kopf zur Tür und lehnte sich in den Türrahmen. „So lächerlich versucht die Gestapo sicherlich nicht, mich zu schnappen. Die haben genug mit anderen Deserteuren zu tun. Da machen die doch wegen mir nicht so einen Aufstand. Ist doch idiotisch.“

„Wer weiß! Vielleicht hat das was mit Karl und Frauke zu tun. Ich weiß ja nicht, was ihr da ausgeheckt habt, aber ...“

„Das braucht ihr auch nicht zu wissen“, sagte Sid scharf, „ist viel zu gefährlich. Es reicht, wenn ich da drinstecke. Hast' doch mitgekriegt, was mit Stefani und ihren Eltern passiert ist.“

Heinzl fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Die Sache mit den Grewes war wirklich erschreckend gewesen. Dass die Gestapo hier ab und zu Ärger machte, war nichts Neues. Aber dass sie eine ganze Familie mir nichts dir nichts abholte, das war noch nie vorgekommen. Für Sid war das besonders schlimm gewesen. Heinzl hatte immer das Gefühl gehabt, das zwischen ihm und Stefani Grewe etwas gelaufen war. Dann war sie einfach verschwunden. Und sein Hass auf die Nazis war größer geworden.

„Ich mein' ja nur. Komisch ist die ganze Geschichte jedenfalls. Find'ste nicht auch?“

Sid stieß sich vom Türrahmen ab, griff sich eine dünne Jacke und warf sie sich über. „Hol die anderen. Wir treffen uns in einer Stunde am Petri-Bunker. Schauen wir uns diesen Kerl mal genauer an!“

Der Petri-Bunker war einer der größten Hochbunker, der Anfang des Krieges in der Innenstadt erbaut worden war. Damals hatte man den Bau belächelt und sich gefragt, warum man den brauchte, wenn Göring doch so sicher war, dass niemals ein alliiertes Flugzeug am deutschen Himmel auftauchen würde. Meier wolle er heißen, wenn das jemals passieren sollte. Jetzt hieß er Meier und der Bunker war zu einem zentralen Ort in der Innenstadt geworden. Viele alte Leute hielten sich hier ständig auf, aus Angst es bei einem der täglichen Bombenangriffe nicht rechtzeitig in Sicherheit zu schaffen.

Heinzl und Stulle waren zuerst da. Sie hatten die anderen Jungs der Edelweiß-Piraten, die momentan nicht in irgendwelchen Notdiensten eingebunden waren, durch ein kompliziertes Alarmierungssystem benachrichtigt. Fast alle kamen aus Ehrenfeld und waren mit den Jugendorganisationen der NSDAP in irgendeiner Weise aneinander geraten. Hatten Drill, Uniformen, antreten, marschieren, strammstehen, Fahnen grüßen und Sieg Heil brüllen abstoßend gefunden und sich den Erziehungsversuchen seitens der Partei zu entziehen versucht.

Vor dem Krieg waren sie mehr gewesen. Sie hatten Fahrten ins Umland von Köln gemacht, gezeltet, Lieder verbotener Jugendgruppen, der katholischen, bündischen Jugend gesungen und sich dabei frei gefühlt. Dazu hatten sie sich mit der HJ regelrechte Straßenschlachten geliefert und waren meistens Sieger geblieben. Was zu ihrem Ruhm maßgeblich beigetragen hatte.

In den letzten Jahren waren sie schließlich immer öfter ins Fadenkreuz der Gestapo geraten. Die Fahrten und Wanderungen waren bald unmöglich geworden. Als man anfing, sie an ihren alten Treffpunkten in den Parks und Grünanlagen der Stadt zu terrorisieren, worauf im vergangenen April sogar eine Razzia größeren Ausmaßes im Volksgarten gefolgt war, waren sie dazu übergegangen, ein halb illegales Leben in den Ruinen zu führen. Treffen wurden nur noch nach Absprachen organisiert.

Ein paar ältere Jungen hatten sich schließlich der Einberufung zur Wehrmacht oder zum Reichsarbeitsdienst entzogen und waren ganz untergetaucht.

Bei der Bevölkerung waren sie dank der Propaganda indes als Kleinkriminelle und asoziale Gauner verschrien. Das Denunziantentum als der effektivste Greifarm der Gestapo war dabei der schlimmste Feind. Sie hätten Kontakt zu geflohenen Fremdarbeitern, ließ die Gestapo verbreiten, zu Deserteuren der Wehrmacht, des Reichsarbeitsdienstes und zu Juden, zu Volksschädlingen und Drückebergern, wie sie es selbst schließlich seien. Einige Piraten waren daraufhin zunehmend militanter geworden und sprachen offen über Widerstand. Von Bombenanschlägen gegen verhasste Ortsgruppen-, HJ- und Gestapoleiter wurde viel geredet. Aber bis jetzt hatte man nur die Wände mit Spott-Parolen beschmiert, verlassene Wohnungen geplündert und hier und da kleinere Sabotageakte verübt, wenn sich die Chance dazu bot.

Die Jungen trafen sich zwischen zwei Häusern mit Blick auf die Zugänge zum Bunkervorplatz. Innerhalb einer halben Stunde waren alle vollzählig. Es war jetzt bereits fünf Uhr nachmittags. Zehn Jungen im Alter von 12-16 Jahren. Sid kam als Letzter. Er musste am Tag besonders auf der Hut sein. Vor allem, weil die HJ in der letzten Zeit besonders aktiv geworden waren.

Sie waren aufgeregt. Wenn Sid sie zusammen rief, erwartete sie immer einiges an Aufregung und Abenteuer.

Als Anführer trat er in ihre Mitte. Begrüßte jeden einzelnen mit Handschlag und Namen und erklärte dann den Grund für ihr Treffen.

„Passt auf, Kinder“, erklärte er in breitem Kölsch, „wir müssen heute ein kleines Rätsel lösen.“ Sid machte eine dramatische Pause und steigerte damit die Erwartungshaltung der Jungen. Er wusste, wie man das macht. Deshalb vergötterten sie ihn. „Also! An der Hohenzollern sitzt ein Landser, der behauptet mich zu kennen. Behauptet, ich sei sein Sohn.“

Die Jungen begannen überrascht zu tuscheln. Jeder wusste, dass Sid's Vater Kommunist und höchst wahrscheinlich tot war. Sid wartete, bis sich alle wieder beruhigt hatten und forderte dann Heinzl auf, von seiner Begegnung mit dem Soldaten zu erzählen. Die Jungen hörten gebannt zu, und als er geendet hatte, mutmaßten sie wild durcheinander.

„Der behauptet eine ganze Menge Blödsinn ...“, durchbrach Sid laut in das Durcheinander der Stimmen, „... aber irgendwie ist das, was der quatscht, seltsam. Halb richtig. Der ist nicht von der Gestapo. Da bin ich mir zu neunundneunzig Prozent sicher. Ich will mehr über den Typen wissen. Also werden wir uns jetzt auf den Weg machen, die ganze Umgebung rund um die Hohenzollern nach den Braunen absuchen. Dabei behalten wir den Kerl in dem ausgebrannten Lastwagen im Auge. Wenn der überhaupt noch da ist. Wenn einer was Verdächtiges sieht, kommt er zu mir. Achtet mir vor allem auf die kleinen braunen Eckensteher von der HJ. Ich schaue mich an der Brücke um. Aber immer schön langsam. Fallt nicht auf. In einer Stunde wieder hier. Ok?“

Die Jungs nickten und zogen sie los. Heinzl und Sid liefen die Rampe der Hohenzollern zum Brückenportal hinauf und setzten sich etwas geschützt hinter einen großen, abgesprengten Zementblock. Von hier aus hatten sie eine gute Sicht auf den Uferbereich.

Die Jungen begannen den gesamten Bereich nach den Braunhemden abzusuchen. Innerhalb einer Stunde war klar, dasd niemand außer ihnen die Uferstraße beobachtete. Der Landser jedenfalls lag seelenruhig in seinem LKW und schien zu schlafen.

Nach einer Stunde trafen sich wieder alle am Bunker. Erwartungsvolle Stille trat ein und die Augen der Jungen ruhten auf Sid. Der schaute in den Himmel und lehnte sich an eine Mauerwand. Seine Kiefermuskeln arbeiteten angestrengt, während er die Situation überdachte.

Was stimmte hier nicht? Was war das für ein Kerl? Lag da auf der Ladefläche und wartete. Und keine Nazis in Sicht, weit und breit. Was wollte der?

Sid blickte zum Himmel hinauf. Das war ihnen in der letzten Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Das Warnsystem für Luftangriffe funktionierte nicht mehr so gut wie in den Jahren zuvor. Angriffe konnten ständig ohne Vorwarnung beginnen. Das war Teil des Terrors der Alliierten. Die Jungen hatten sich angewöhnt zu horchen und den Himmel über sich nach Flugzeugen abzusuchen. Aber heute war irgendetwas verkehrt. Irgendetwas stimmte nicht. „Sagt mal Männer ...“, flüsterte er leise und schaute dabei weiter in den Himmel, „... ist euch aufgefallen, dass da oben gar keine Flugzeuge herumfliegen?“

Die anderen hoben wie ein Mann ihre Köpfe zum Himmel und suchten ihn ab.

„Das ist doch seltsam, oder?“, fuhr Sid fort, „Wir haben seit Monaten täglich Angriffe. Und heute? Kein Angriff. Und gestern auch nicht. Nicht eine Bombe. Und das bei dem Bomben-Wetter. Schon komisch, oder?“

Die Jungen wechselten erstaunte Blicke und bejahten.

Sid's Kiefermuskulatur arbeitete wieder. Keine Luftangriffe seit zwei Tagen, amerikanische Zigaretten, Karl und Frauke, ein Mann der behauptete sein Vater zu sein, wo doch jeder hier wusste ... Plötzlich war er sich sicher, dass er mit dem Mann sprechen musste.

„Ich geh' jetzt zu dem Kerl und red' mit ihm. Das ist 'ne große Sache. Ihr steht Schmiere.“

„Bist du verrückt, Sid?“, rief Heinz. „Wenn das eine Falle ist!“

„Das ist keine Falle. Werdet schon sehen. Ihr nehmt wieder eure Plätze ein. Wenn ihr was Komisches bemerkt: Doppelpfiff. Wenn Gefahr im Verzug: Langer anhaltender Pfiff. Ab dafür!“

Die Jungen nickten und zogen wieder los.

Kleine Sonne

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