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Kapitel 3
ОглавлениеGegen Mitternacht waren Skorni und Radke zurück in Berlin. Von Tempelhof aus fuhren sie auf direktem Weg zum RSHA in der Prinz-Albrecht-Straße. Sofern das überhaupt möglich war, denn ganze Stadtviertel, mitsamt ihrer Straßen waren verschwunden oder unpassierbar. Seit einem Jahr lag Berlin nun schon im Zielbereich alliierter Bomberverbände und starb einen langsamen und qualvollen Tod. Sprengbomben, Luftminen, Phosphorbomben und Splitterbomben rissen die einstige Weltstadt entzwei und verwandelten sie allmählich in eine unablässig brennende und qualmende Müllhalde.
Schweigend lotste der Fahrer die schwarze Limousine durch die verdunkelte Stadt. Vorbei an ausgebrannten Häuserskeletten, die sich drohend zu beiden Seiten der Straße aneinanderreihten. Vorbei an Kratern, ausgebrannten Straßenbahnwagen, hastig gerettetem Hausrat, der auf Schutthügeln eingestürzter Häuser lagerte und darauf wartete, von irgendeinem Besitzer, der vielleicht längst tot war, abgeholt zu werden. Auf halbem Weg begann das Heulen der Sirenen, die Fliegeralarm gaben. Kurz darauf erhellten erste Scheinwerfer, weißen feingliedrigen Fingern aus Licht gleich, den Himmel und suchten nach den dunklen Konturen anfliegender Bomber.
Skorni trieb den Fahrer zur Eile an. Er war enttäuscht und müde. Sie hatten zwar schnell reagiert, aber trotz des Einsatzes aller Mittel war ihnen das Mädchen entwischt. Als Skorni geglaubt hatte, dass sie die Scharte vielleicht durch die Festnahme Grewes wieder hätten auswetzen können, war dieser in selbstmörderischer Absicht auf Radke losgegangen. Der hatte Grewe dummerweise erschossen. In Notwehr, wie er während des Rückflugs ungewohnt wortreich beteuert hatte. Aber es war wohl eher Dämlichkeit gewesen. Skorni hatte seine Wut hinuntergeschluckt und die Sache auf sich beruhen lassen. Radke war ein dummer Mensch und nur bedingt einsetzbar. Er hatte allerdings Qualitäten, deren sich Skorni gerne bediente, wenn er mit Worten nicht mehr weiterkam.
Noch bevor das Trommelfeuer der Flak begann, erreichten sie das RSHA und fuhren nach einer Kontrolle in die unter dem Gebäude liegende Tiefgarage. Dort kamen ihnen Bedienstete, Männer und Frauen, teils in Uniform, teils in Zivil entgegen, die den Luftschutzkeller aufsuchten. Alles lief äußerst gelassen ab. Hin und wieder hörte man Lachen. Skorni und Radke schlossen sich den Schutzsuchenden an und blieben während des Bombenangriffs im Bunker des Amtes und legten sich schlafen. Jetzt würden sie sowieso keine Audienz bei Kaltenbrunner bekommen. Wenn der überhaupt da war.
Skorni fiel müde auf ein Feldbett und ließ den vergangenen Tag kurz Revue passieren. Erfolgreich war er nicht gewesen. Ein Kratzer am Nimbus des erfolgreichen Jägers. Zwar hatte es immer wieder Juden gegeben, die sich der Verhaftung gerade noch entzogen hatten, aber das waren die wenigsten. Die Zahl der Verhaftungen überwog bei Weitem. Was ihm aber Kopfschmerzen bereitete war, dass man sich an so hoher Stelle mit dieser Geschichte befasste. Immerhin machte er morgen dem Chef des RSHA persönlich Meldung. Das war nur eine Stufe unter dem Reichsführer SS, Himmler, und zwei unter dem Führer des deutschen Reiches, Hitler. Skorni fühlte sich unwohl. Fehler bei der Jagd auf Reichsfeinde zu machen war nicht seine Art. Er seufzte sorgenvoll und drehte sich immer wieder von einer Seite auf die andere. Nach Stunden deprimierenden Grübelns forderte die Erschöpfung ihren Tribut und er schlief ein.
Gegen acht Uhr morgens warteten Skorni und Radke schließlich vor dem Büro Kaltenbrunners. Radke hatte sich rasiert und sah frisch und erholt aus. Skorni hingegen war der kurze Schlaf und die Übermüdung anzusehen. Gott sei Dank hatte er den Bartwuchs eines Fünfzehnjährigen. Der zarte Flaum war kaum auszumachen.
Überrascht stellte Skorni fest, dass man sie nicht lange warten ließ. Beim Chef des RSHA saß man schnell einige Stunden im Vorzimmer. Das war Teil des Rituals. Es unterstrich die Wichtigkeit der höheren Chargen. Ein Sekretär öffnete die schwere Eichentür zum Amtszimmer und forderte sie mit einem salbungsvollen „Bitte, meine Herren“ auf, einzutreten.
Über einen weichen karminroten Perser, der ihre Schritte gänzlich verschluckte, traten sie ein. Kaltenbrunner saß hinter einem wuchtigen dunklen Eichenschreibtisch, auf dem rechts eine kleine Bronze-Büste Hitlers als Briefbeschwerer stand. Hinter ihm hing noch ein Bild des Führers. Kein Zweifel, der Führer war anwesend. Die Wände waren mit dunklem Holz verkleidet, an denen großflächige Gobelins hingen. Über ihren Köpfen wölbte sich dazu eine ebenso dunkle Kassettendecke, die den Eindruck erweckte, man befände sich in einem Schildkrötenpanzer. Vor den Fenstern hingen dunkelrote Vorhänge aus Brokat. Skorni hatte das Gefühl, in ein farbenbefreites Vakuum zu treten.
Das längliche Gesicht Kaltenbrunners blickte langsam von seiner Schreibarbeit auf. Mit tiefer Stimme und leichtem österreichischem Akzent fragte er, ohne sie zu begrüßen, nach den Ergebnissen des Auftrags.
Skorni saugte die abgestandene Luft des Raumes tief ein und begann die Ereignisse des vergangenen Tages schnell und bündig vorzutragen. Dabei schluckte er mehrmals, als er sah, dass Kaltenbrunners Augen sich mehr und mehr zu schmalen Schlitzen verengten. Als er schließlich geendet hatte, blickte er stumm zu Boden. Ein Weile war es ruhig, dann sprach der Chef des RSHA Radke an.
„Und sie, Radke? Haben sie noch etwas hinzuzufügen?“
„Nein, Herr Obergruppenführer. Der Verräter hatte plötzlich eine Waffe in den Händen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn zu erschießen ... in Notwehr!“, fügte er noch hinzu.
Skorni biss sich auf die Lippen. Von einer Bewaffnung Grewes konnte nun wirklich nicht die Rede sein. Radke hatte einfach Mist gebaut, und er log wie gedruckt. Skorni hatte große Lust, Radke zu verpfeifen. Kaltenbrunners Kopf nickte unmerklich. Gegen Erschießungen hatten diese Herren im Allgemeinen nichts einzuwenden.
„Meine Herren, meine Herren! Das war nun wirklich kein besonders schwieriger Auftrag. Sie sollten nur ein Mädchen festnehmen ...“, seine Stimme wurde mit jeder Silbe lauter „... und was machen Sie? Sie lassen es entkommen, noch dazu von einer Insel. Aber nicht nur das. Durch eine glückliche Fügung des Schicksals bekommen sie eine weitere verdächtige Person genannt und auch diese entzieht sich durch Freitod ihren Ermittlungen. Wie wollen wir jetzt weitermachen? Nach so vielen Pleiten?“
Kaltenbrunner stand auf und stolzierte um den schweren Eichenschreibtisch herum. Mit hinter dem Rücken zusammengelegten Händen und leicht vorn über gebeugt ging er anschließend im Raum auf und ab. Seit einiger Zeit war Skorni aufgefallen, dass diese Haltung, die untrüglich an das Gemälde des alten Fritz erinnerte, zu einer beliebten Pose in militärischen Kreisen geworden war. Oder imitierten sie nur den Führer, der sich seinerseits durch den alten Fritz inspiriert fühlte? Nervös verfolgte er die blank gewichsten Schaftstiefel Kaltenbrunners, die auf dem weichen Teppich helle Druckstellen hinterließen. „Wir können also davon ausgehen“, sagte er schließlich, „dass die Hiller nach England geflohen ist. Ist das richtig? Wollen Sie mir das sagen?“
„Jawoll, Herr Obergruppenführer“, antwortete Skorni zackig.
„Und was soll ich jetzt mit Ihnen machen?“
Diese Frage ließ Radke, der neben ihm stand, merklich zusammenzucken. Also wurde diesem Dummkopf endlich bewusst, in welchen Schlamassel sie da hinein geraten waren. Skorni glaubte, irgendetwas sagen zu müssen. Er wählte seine Worte mit Bedacht. „Leider sind wir schlecht für diesen Fall instruiert worden, Herr Obergruppenführer! Frauke Hiller, will mir scheinen, war doch mehr als nur eine einfache Luftwaffenhelferin. Allein, dass sie fliegen konnte, war uns nicht bekannt. Wenn uns dieses Detail bekannt gewesen wäre, hätten wir andere Maßnahmen zu ihrer Ergreifung beschlossen. So waren wir vollkommen unvorbereitet. Außerdem zeigt schon Ihr persönliches Interesse, dass es sich bei ihr nicht um eine gewöhnliche Kriminelle oder Agentin handeln kann.“
Kaltenbrunner war stehengeblieben und schaute missmutig zu Skorni herüber. Dessen Gehirn arbeitete fieberhaft. Was wurde hier gespielt? Wer war diese Frauke Hiller? Der Chef des RSHA sprach unvermittelt mit lauter, aggressiver Stimme, die Skorni verriet, dass auch seinem Vorgesetzten nicht wohl in seiner Haut war.
„Hätte ..., Wäre... ! Ach, was wissen Sie schon! Versuchen hier ein ganz Schlauer zu sein, was!“
Kaltenbrunner hatte sein auf- und abmarschieren wieder aufgenommen und trat an eines der großen Fenster. Dort blieb er, auf Zehenspitzen wippend stehen. Skorni schluckte schwer und blickte zu Radke herüber, auf dessen Stirn sich kleine Schweißperlen gebildet hatten. Radke funkelte ihn aus den Augenwinkeln böse an. War er zu weit gegangen?
Es herrschte Grabesstille. Passt irgendwie zu diesem Mausoleum, dachte Skorni. Die Fenster und Türen von Kaltenbrunners Büro waren erstaunlich dicht. Kein Geräusch drang hinein. Die Zeit schien stillzustehen. Nach einer kleinen Ewigkeit drehte sich Kaltenbrunner auf dem Absatz um und ging langsam zu Skorni und Radke zurück. Seine Gesichtszüge wirkten jetzt entspannter.
„Vielleicht haben Sie Recht und wir haben Sie dürftig mit Informationen über die Hiller ausgerüstet. Wir haben diese Verräterin wohl selbst unterschätzt. Nun, da das Mädel geflohen ist, ist es um so wichtiger, die Operation noch besser zu schützen. Wir haben in letzter Zeit versucht, den Kreis der Eingeweihten klein zu halten. Mit der Flucht des Mädchens wird sich dieser Kreis wohl oder übel um die Westalliierten erweitern, wenn nicht ein Wunder geschehen ist und dieses Weib über dem Atlantik abgestürzt oder abgeschossen worden ist. Wie ich Ihrem Bericht entnehme, herrschte ja Sturm während ihrer Flucht.“
Kaltenbrunner blickte, oder besser starrte geistesabwesend zu Boden, als er für einen Moment schwieg. Skorni fragte sich verwundert, um welche Operation es sich denn da handeln könnte. Unvermittelt sprach der Chef des RSHA weiter: „... Da können wir wohl jetzt nichts mehr machen. Also heben wir das Ganze auf eine neue Sicherheitsstufe. Und ich mache Sie beide dafür verantwortlich, dass nicht noch mehr Informationen nach außen gelangen. Das ist Ihre Chance sich zu rehabilitieren. Machen Sie keine Fehler! Wir leben in schweren Zeiten. Mit Versagern machen wir kurzen Prozess. Die können wir nicht gebrauchen ...“
„Könnte ich erfahren, worum es sich bei dieser Operation, von der Sie eben sprachen, handelt?“
„Natürlich werden Sie das. Sie stecken ja jetzt richtig mit drin. Sie und der dumme August hier. Richtig mit drin ...“
Kaltenbrunner stampfte zurück hinter seinen Schreibtisch, zog eine Schublade auf und zog eine rote Kladde hervor, die er Skorni in die Hand drückte:
„Dies ist das Dossier über Fritz Hiller, Onkel von Frauke Hiller. Grund allen Übels. Lesen Sie es, Kommissar Skorni. Und dann melden Sie sich heute Nachmittag um drei bei dieser Adresse in Potsdam. Dort werden Sie die verantwortlichen Leiter der Operation Nemesis kennenlernen. Man wird Sie einweisen. Heil Hitler.“ Kaltenbrunner wendete sich zum Gehen.
„Und was mache ich solange, Herr Obergruppenführer?“, fragte Radke mit einem leichten Zittern in der Stimme.
„Sie?“ Kaltenbrunner schaute Radke amüsiert an. „Kaufen Sie sich ein Eis und gehen Sie in den Zoo.“
Skorni und Radke grüßten militärisch zackig, drehten sich wie nach einem Apell um und verließen den Raum. Vor der Tür schnaufte Radke: „Das war eine Ungeheuerlichkeit von Ihnen, Herr Obersturmführer! Den Obergruppenführer so zu bedrängen! Kein Wunder, dass er uns so behandelt.“
Skorni schaute seinen Assistenten nur grinsend an und sagte:
„Radke. Sie brauchen nicht mehr Arschkriechen. Kaltenbrunner kann Sie nicht mehr hören. Und jetzt Heil Hitler und viel Spaß im Zoo, wenn's den überhaupt noch gibt.“
Um drei stand Skorni vor der angegebenen Adresse. Eine Gründerzeit-Villa, außerhalb von Berlin, in einem weitläufigen Park gelegen, umgeben von einer fast drei Meter hohen Mauer. Vogelgezwitscher drang aus den Bäumen und eine grünlich goldene Sonne schimmerte durch das Blätterdach der hohen Eichen und Platanen. Friedfertigkeit lag über dem Ort. Eine Friedfertigkeit, die Skorni schon lange nicht mehr gespürt hatte und ihm seltsam unwirklich erschien. Vor allem, wenn man gerade durch das von Bomben geschundene, zerstörte Berlin gefahren war.
Er zog die Klingel des schmiedeeisernen Tores und wartete. Nach einer Weile erschienen zwei Männer in Zivil, die Marke und Dienstausweis sehen wollten. Nach genauer Prüfung öffneten sie das Tor.
Schweigend spazierten Skorni und seine Begleiter etwa hundert Meter durch eine gewundene Allee bis zum Hauptportal der Villa. Dort wurde die Tür von einem ältlichen Diener in Livree geöffnet, der ihn wortlos in einen eleganten, mit Jugendstilornamenten verzierten Raum führte, in dessen Mitte ein Billardtisch im Licht einer breiten Fensterfront stand, die sich zum Park hin öffnete. An den Wänden hingen alte, gerahmte Seekarten und Ölgemälde von Segelschiffen. Dazu diverse Sextanten, Zirkel, Winkelmesser auf kleinen Beistelltischen und ein wurmstichiger Jakobsstab in einer wurmstichigen Vitrine. Der Besitzer schien sich fürs Maritime zu interessieren. Wenn er noch lebte. Die SS bezog gerne die enteigneten Wohnsitze reicher Juden.
Skorni hatte sich gerade interessiert über einen alten Kompass gebeugt, als hinter ihm die Tür geöffnet wurde. Vier Männer betraten den Raum. Ein Zivilist und drei Offiziere der SS. Die Männer verteilten sich rund um den Billardtisch.
Der Zivilist, hager, glattes blondes Haar, in einem perfekt sitzenden schwarzen Anzug kam mit federndem Schritt auf ihn zu. Er war etwa Mitte Vierzig und trug eine randlose Nickelbrille auf der schmalen Adlernase. Dahinter tief liegende dunkle Augen, die ihn unruhig flackernd abzutasten schienen. Er streckte Skorni seine Hand zum Gruß entgegen.
„Kriminalkommissar Skorni, nehme ich an?“
Seine Stimme war mädchenhaft hoch und eigentümlich arrogant. Der Händedruck seltsam schlaff und feucht. Die Haltung die eines britischen Aristokraten.
„Jawoll. Angenehm. Otto Skorni.“
„Schön, das Sie kommen konnten, Herr Kommissar!“
Skorni wunderte sich etwas über den betont unmilitärischen Umgang, den sein Gegenüber an den Tag legte. Überhaupt wurde er das Gefühl nicht los, dass dieser Mensch versuchte, ihm auf impertinente Weise elitäre Weltläufigkeit vorzugauckeln, die sich jenseits roher Alltäglichkeit befand.
„Man hat wohl keine andere Wahl, wenn Kaltenbrunner einem befiehlt“, lächelte Skorni. „Aber auch so bin ich selbstverständlich gern gekommen.“
„Ja, ja. Der Kaltenbrunner! Ein roher Mensch. Das war noch etwas anderes, als Heydrich der Chef des RSHA war, nicht wahr?! Der war erst in zweiter Linie Militär. In erster ein Kulturmensch sondergleichen. Das Soldatische ist sicherlich nötig, um unserer Sache zum Sieg zu verhelfen, aber danach können wir hoffentlich zu gegebener Zeit darauf verzichten. Das Schöngeistige sollte dann wieder den Vorrang haben, nicht wahr?“
Skorni, der sich nicht in Nachkriegsphantasien ergehen wollte, schaute sich unsicher um. „Ja, sicher“, hauchte er schließlich.
„Ich sollte mich wohl besser vorstellen“, sagte der Aristokrat, und es hörte sich an wie eine Drohung. „Dr. Mannerheim, Kaiser Wilhelm Institut.“ Mit einem Gesichtsausdruck, als habe er etwas vergessen, drehte er sich leicht seitlich und deutete auf den ersten der drei Männer, die mit ihm den Raum betreten hatten. „Und das ist SS-Gruppenführer Kammler vom SS-Wirtschaft- und Verwaltungshauptamt. Amt C.“ Der Gruppenführer hob leicht die Hand zum Gruß, verschränkte sie aber anschließend wieder vor der Brust. Mannerheim deutete auf den nächsten, der sich bereits auf einen Stuhl gesetzt und die Beine übereinander geschlagen hatte. Jünger. Vielleicht Ende Zwanzig, Frauentyp. „Hauptsturmführer von Baselitz. Verbindungsoffizier beim Reichsleiter SS. Und zu guter Letzt ...“, die Hand Mannerheims verschwand in seinen Hosentaschen und ein nicht eben freundliches Nicken deutete auf den dritten SS-Mann „... Hauptsturmführer Schaffell“.
Schaffell, dick, Ende Vierzig. Der Kopf rot, ohne Hals. Der schwarze Kragenspiegel schnitt ihm in die Wabbelwangen.
Mannerheim setzte sich auf ein mit grünem Samt bezogenes Sofa, das leicht quietschte und zog er ein goldenes Etui aus seiner Anzugtasche hervor.
„Sie wollen uns also unterstützen, Herr Kriminalkommissar?“, fragte Mannerheim und deutete mit einer Handbewegung, die für Skorni etwas herablassend wirkte, auf einen leeren Stuhl.
„Jawoll. Mein Kollege Radke und ich haben mit der Verhaftung von Frauke Hiller etwas Pech gehabt ...“
„Sie haben sie entkommen lassen ...“, unterbrach ihn der dicke Schaffell scharf. Mannerheim gebot ihm mit einer schnellen Bewegung seiner Hand zu schweigen.
„Diese Tatsache lässt sich in der Tat nicht leugnen, mein lieber Kommissar. Allerdings tragen Sie und ihr Kollege daran nicht die alleinige Schuld. Die liegt wohl zum Teil bei uns. Wir hätten Sie besser über die Hintergründe informieren sollen.“
Skorni versuchte ein Lächeln. „Wenn Sie es so offen sagen, bleibt mir nichts anderes übrig, als dies zu bestätigen.“ So einfach schiebt ihr mir nicht den schwarzen Peter zu, dachte Skorni grimmig.
„Fakt bleibt“, sprach Mannerheim weiter, „dass wir da alle, entschuldigen sie das Wort, mächtige Scheiße gebaut haben. Scheiße, die sich nicht wiederholen darf, Kommissar. Ihr Auftauchen hier indessen scheint allerdings bered' Zeugnis davon abzulegen, dass Sie gewillt sind, die Scharte wieder auszuwetzen.“
Skorni brummte verstimmt. Damit war der schwarze Peter wieder da, wo er hin gehörte. Bei ihm.
„Nun gut“, fuhr Mannerheim fort, wechselte aber das Thema. „Dann will ich Sie mal ins Bild setzen.“ Er schlug seine langen, dürren Beine übereinander und legte lässig die Arme auf die Lehne des Stuhls. Entspannt schaute er zur Decke des Raums empor, während er im eintönigen Singsang berichtete: „Im Dezember vergangenen Jahres entdeckte eine Aufklärungseinheit, die damit beschäftigt war, mögliche Fabrikanlagen, Infrastruktur, Rohstoffquellen etc. für den Fall eines Rückzuges unbrauchbar zu machen, einen offen gelassenen alten Stollen in den südlichen Karparten, Nähe Lemberg. Die Männer untersuchten den Stollen hinsichtlich seines militärischen Nutzen und schickten Gesteinsproben zum Kaiser-Wilhelms-Institut. Hier nach Berlin.
Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um Urangestein. Allerdings mit einem ungewöhnlich hohen Anteil an Uran 235. Einem Isotop. Sehr ungewöhnlich.“
Skorni versuchte sich nicht ansehen zu lassen, dass er nur Bahnhof verstand. Er hatte nicht die geringste Ahnung von Naturwissenschaften.
„Ich flog sofort mit einem Kollegen zu diesem Bergwerk. Es handelte sich wohl um ein wildes Bergwerk, in dem niemals ernsthaft geschürft worden ist. Der Tunnel war ein reiner Vortrieb. Die Arbeiten daran waren recht schnell aufgegeben worden, als man durch Zufall auf Uranerz gestoßen war. Was dann geschah ist nicht weiter schwer zu erraten. Uranerz setzt beim Abbau feinen Staub frei. Eingeatmet kommt es durch seine Radioaktivität schnell zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen: Nasenbluten, Erbrechen, Haarverlust, organische Schäden, schließlich der Tod. Der ungewöhnlich hohe Anteil an U-235 hat diese Vergiftung noch verstärkt. Der Betrieb wurde also vorzeitig eingestellt und der Stollen vergessen.“
„Ich bin leider nicht sehr bewandert in diesen Dingen“, unterbrach ihn Skorni.
„Das brauchen Sie auch nicht, mein Lieber! Lassen Sie mich fortfahren. Nur soviel. Uran ist nichts besonderes, es kommt überall in der Welt vor, auf den Straßen, im Boden, im Meer, in Zahnpasta. Kaum zu entdecken, aber es ist da. Man kann es auch in größerer Menge in Bergwerken fördern. Aber da ist noch etwas, was im Uran enthalten ist. Besagtes Uran 235. In Spuren nur. Etwa 0,7 Prozent um genau zu sein. Das Uran aus Lemberg enthält aber fast 15 Prozent. Das ist geradezu sensationell. In Friedenszeiten wäre mir der Nobelpreis sicher gewesen, aber so ...“
Mannerheim ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und Skorni wurde klar, wonach es diesem Menschen gierte. Nach Ruhm.
„... aber so ist es auch ein Glücksfall, der mich in die Lage versetzt, das Reich, unserem Volk und dem Führer aus ihrer momentanen prekären militärischen Lage zu retten.“
Pause. Mannerheim gab Skorni Zeit für eine Zwischenfrage. Der Mann liebte anscheinend dramatische Momente.
„Und wie wollen Sie ...?“, hüstelte Skorni etwas beklommen.
„Durch den Bau einer revolutionären Bombe“, unterbrach ihn Mannerheim ungeduldig. „Einer, möchte sagen, evolutionären Bombe. Sie steht am Ende der Entwicklung der Kriegstechnik. Sie ist sozusagen deren Vollendung. Nach ihr kommt nichts mehr. Nur noch die absolute Vernichtung.“
Skorni sah, dass Kammler sich umgedreht hatte und unbeteiligt aus dem Fenster in den Park schaute. Himmlers Verbindungsoffizier hantierte an einer Flasche herum und goss sich ein Glas ein. Schaffell sah Skorni nicht. Er stand wohl hinter ihm. Von dort hörte er kurzatmiges Grunzen. Mannerheim, der einen tiefen Zug aus seiner Zigarette nahm, sprach weiter.
„Dieses Uran-235 ist der Grundstoff für unsere Bombe. Aber die Forschungen auf dem Gebiet der Atomphysik, die von unseren zugegeben brillanten Physikern in den letzten Jahren durchgeführt wurden und noch werden, haben etwas an Biss verloren. Dazu kommt, dass der Führer der ganzen Sache wenig Liebe entgegengebracht hat. Liegt wohl an seiner Abneigung der Physik als eine jüdische Wissenschaft. Der Fund dieses Urans aber hat seine Sicht der Dinge verändert. Ich konnte ihm mit Hilfe von Obergruppenführer Kammler klar machen, dass wir schon bald in der Lage sein werden, einen neuen Supersprengstoff zu entwickeln. Obergruppenführer?“
Kammler drehte sich um und trat ein paar Schritte auf Skorni zu. Lässig lehnte er sich an den Billardtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie haben sicher schon von der V1 gehört?“, fragte er Skorni.
„Ja. Natürlich. Die schießen wir doch gerade auf England ab.“
„Genau. Aber nicht besonders erfolgreich. Zu langsam, zu ungenau, zu kleiner Gefechtskopf. Kurz, das Ganze ist ein gottverdammter Beschiss von einigen Phantasten, die eher an den Weltraum denken, als an die Kriegswichtigkeit ihrer Forschungen.“ Kammlers Stimme schwoll wütend an. Er schien sich persönlich beleidigt zu fühlen. „Ich habe daher auf direkten Befehl des Führers damit begonnen, die Leitung dieses Spinnervereins zu übernehmen und die nächste Weiterentwicklung der V1, die A4 unter die Fittiche der SS gestellt. Für diese Rakete wird es keine Abwehr geben. Sie flieg unerreichbar hoch und stürzt sich dann mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit auf ihr Ziel. Sie ist praktisch unsichtbar, lautlos und tödlich.“
„Das ist ja fantastisch!“, warf Skorni pflichtbewusst ein.
„Natürlich. Ein gewaltiger Sprung der Militärtechnik. Es gibt da allerdings noch einige technische Hürden zu nehmen. Aber das kriegen wir hin. Eines aber haben wir nicht: Einen Sprengstoff, der in den Gefechtskopf passt und die Zerstörung anrichtet, die wir brauchen, um die Alliierten in ihre Schranken zu weisen.“
„Und dieses ... Uran-Zeug, liefert ihnen den Sprengstoff?“
Mannerheim schaltete sich wieder ein. „Ja. Verkürzt gesagt: Wir konnten den Führer davon überzeugen, der Entwicklung dieses neuen Sprengstoffes zuzustimmen. Er hat alle mögliche Unterstützung gewährt und unser Projekt auf der Prioritätenliste nach oben gesetzt. Damit haben wir Zugriff auf alle wichtigen Ressourcen. Materielle wie humane.“
Wieder machte Mannerheim eine dramatische Pause „Leider ...“, fuhr er mit leiser Stimme fort, „leider ist uns ein Fehler unterlaufen, was die Sicherheit des Projektes angeht. Denn ich habe den Kollegen Hiller, den ich nur als einen Fachmann für Strahlungsphysik kannte, mit nach Lemberg genommen. Ich wusste nichts von seiner mehr als dubiosen Vergangenheit!“
Schaffell hüstelte vernehmlich und Mannerheim warf ihm einen bösen Blick zu. Das Verhältnis der beiden schien nicht das Beste zu sein. Skorni nahm sich vor, sofort die Akte über Hiller zu lesen, wenn er zu Hause war.
„Dieser Hiller hat mein Vertrauen aufs Niedrigste missbraucht und es tatsächlich fertig gebracht, etwas vom diesem Uran aus dem Institut zu schmuggeln. Damit ist er nach Köln verschwunden. Ich habe es bemerkt, weil ich die Proben durchnummeriert hatte und eine verschwunden war. Den Hiller habe ich dann festnehmen lassen. Der geht nirgendwo mehr hin.“
„Ist die gesamte Familie Hiller so unzuverlässig?“, wollte Skorni wissen.
„Das ist schwierig zu beantworten. Fritz Hillers Vater war Schrotthändler, der es schon vor dem ersten Weltkrieg zu einem beträchtlichen Vermögen gebracht hat. Er hat den Führer schon früh finanziell gefördert. Das ist, glaube ich auch der Grund, warum Professor Hiller noch nicht im KZ ist. Obwohl der Alte tot ist und seinen Sohn nicht mehr schützen kann. Kurz gesagt, die Hillers sind eine wohlbetuchte Familie aus Köln. Fritz Hiller hat noch einen jüngeren Bruder, der den Betrieb heute leitet und darüber hinaus das goldene Parteiabzeichen besitzt. Der hat sozusagen das politische Erbe seines Vaters angetreten. Da ist wohl einiges durcheinander gegangen bei den Hillers, in politischer Hinsicht, meine ich. Der eine strammer Nationalsozialist und der andere Kommunist.“
„Kommunist?“, warf Skorni ungläubig ein.
„Ja. Haben Sie die Akten noch nicht gelesen?“
Skorni fühlte sich ertappt. „Nein. Bis jetzt noch nicht.“
Schaffell schaltete sich ein. „Wie auch immer. Das kleine Flittchen scheint nach ihrem Onkel geraten. Extrem abenteuerlustig. Durch ihre Flucht hat sie sich denn auch als Reichsfeindin und Agentin enttarnt. Wir müssen davon ausgehen, dass sie praktisch alles, was Hiller wusste, dem Feind verraten hat. Wenn sie bei den Alliierten angekommen ist, was ich sicherheitshalber mal annehme, dann wissen die da drüben über unsere Operation gut Bescheid. Allerdings wusste Professor Hiller noch nichts über den Bau der Anlage Nemesis II. Weder das Wo, noch das Wann. Und jetzt ist er ja sowieso von der Außenwelt abgeschirmt.“
„Was heißt das?“, wollte Skorni wissen.
„Hausarrest!“
„Warum haben sie ihn nicht liquidiert?“
„Wir brauchen ihn noch. Warum, steht in der Akte.“
„Und was ist Nemesis II?“
Mannerheim warf einen fragenden Blick auf Kammler, dessen stummes Einverständnis einholend. Kammler nickte zustimmend und Mannerheim sprach weiter: „Nemesis ist der Tarnname für unser Projekt. Göttin des gerechten Zorns. Aber auch Rachegottheit in der griechischen Mythologie. Ich fand den Namen überaus passend. Es gibt zwei versteckte Anlagen in denen das Projekt voran getrieben wird. Nemesis I ist in Betrieb. Dort werden Anlagen zur Herstellung von U-235 gebaut. Zum Beispiel Zentrifugen, die Uran 238 in seine Bestandteile zerlegt. Mit diesen Zentrifugen wird dann in Nemesis II der Bombenstoff selbst gewonnen. Die Anlage ist noch im Bau, steht aber kurz vor der Vollendung.“
Mannerheim stand auf, ging zum Billardtisch, nahm eine Kugel und blickte sie an, wie Hamlet den Schädel seines Vaters. „Zu dumm, das mit Hillers Nichte. Dabei hätten wir es wissen müssen. Sie hatte im Internat in der Schweiz eine Segelflugausbildung erhalten. Zumindest diese kleine Information hätten wir Ihnen nicht vorenthalten dürfen. Unser Fehler! Bitte untertänigst um Verzeihung.“
„Das zu wissen, wäre wirklich ... nicht schlecht gewesen, Herr Mannerheim!“
„Dr. Mannerheim, bitte. Wie gesagt. Verzeihen Sie uns, mein Freund. Aber jetzt sind Sie ja da und werden schon dafür sorgen, dass alles wieder ins Lot kommt! Nicht wahr?“
„Werde mein Bestes tun“, raunte Skorni, und dachte an seinen Urlaub, der soeben endgültig vorbei war.
„Nun zu den Anstrengungen, die wir bis jetzt unternommen haben, um Projekt Nemesis bis zum Winter in die Tat umzusetzen.“
Mannerheim verfiel wieder in seinen geschäftsmäßig bürokratischen Ton. „Insgesamt besteht das Projekt aus drei Stufen. Stufe eins: Abbau des S-Urans im besagten Stollen, den wir Lager „Höhle“ nennen. Dabei werden Häftlinge eingesetzt, deren Wachmannschaften Urlaubssperre haben. Wenn die Front der Bolschewiken zu nahe kommt, was zu erwarten steht, wird das Lager mitsamt der Häftlinge eliminiert. Was mit den Wachmannschaften passiert, liegt ab sofort bei Ihnen. Sorgen Sie nur dafür, dass nichts nach außen dringt. Stufe zwei: Fertigstellung Nemesis II für die Sprengstoffgewinnung. Professor Hiller wird dort beschäftigt sein und die Arbeiten überwachen. Wenn die Anlage reibungslos läuft, ist er sofort der Sonderbehandlung zuzuführen. Stufe drei: Bis zum Anfang des neuen Jahres: Lieferung des fertigen Sprengstoffes nach Thüringen. Dort wird anhand von Tests die Wirksamkeit der Waffe demonstriert. Der Führer wird anwesend sein. Danach Übergabe an die Waffen-SS, die sich um die strategische Anwendung kümmern wird. Nach dem ersten militärischen Einsatz ist dann wohl keine strikte Geheimhaltung mehr nötig.“
Mit Schwung rollte Mannerheim die Billardkugel über den grünen Filz. Ein vielfaches Klackern der angestoßenen Kugeln war die Folge. Sie liefen in verschiedene Richtungen. Wie Skornis Gedanken.
„Sie, mein Lieber, sind ab sofort für die Sicherung des Projektes verantwortlich. Sie bekommen alle Unterstützung, die Sie brauchen. Wenn Probleme auftauchen, melden Sie sich bei Kammler oder Schaffell. Dieses Projekt hat Vorrang. Absoluten Vorrang. Alles, was seinen Fortschritt gefährdet, wird beseitigt. Machen Sie alles dicht, Skorni. Und wenn der Krieg vorbei ist, Europa deutsch und Asien unser neuer Lebensraum, werden wir hier zusammen eine ruhige Kugel schieben, nicht wahr!“
Mannerheim lachte leise über seinen Witz.