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Kapitel 11

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Als sich Cyrus unter seinem Fallschirm hervor gekämpft hatte, blickte er über eine mondhelle Lichtung, während er mit schmerzverzerrtem Gesicht sein rechtes Bein massierte, das von einem heftigen Krampf geschüttelt wurde. Die Zähne zusammen beißend robbte er hinter einen aufgeschichteten Heuhaufen in Deckung. In der Ferne hörte er das schnell näher kommende brummende Geräusch der Mosquito, die zum zweiten Anflug auf die Lichtung ansetzte. Vorsichtig blickte er in den nächtlichen Himmel empor und sah gerade noch, wie die längliche Versorgungsbombe aus dem Schacht des Flugzeugs fiel und etwa fünfzig Meter von seiner Postion aus niederging. Darauf entfernte sich das Motorengeräusch in Richtung Westen.

Sofort begann Cyrus, sich aus seinem verstärkten Absprungsoverall zu schälen, was angesichts des schmerzenden Beines nicht einfach war. Aber wenigstens ebbte der Krampf nun langsam ab. An den Heuhaufen gelehnt zog er seine Automatik aus dem Halfter und schraubte den Schalldämpfer auf die Mündung. Dann setzte er sich in Bewegung und schlich gebückt von einem Heuhügel zum nächsten. Sein Ziel war die Burg.

Dort hatte er undeutlich ein flackerndes Licht in einem der oberen Stockwerke gesehen. Das restliche Gemäuer lag dunkel und still. Im Innenhof lehnten gleich neben dem Hauptportal zwei Fahrräder an der Wand. Die Burg war anscheinend nicht verlassen und er musste damit rechnen, dass die Bewohner ihn bei seiner Landung beobachtet hatten. Cyrus handelte. Die Tür zum Haupthaus war nicht abgeschlossen, nur angelehnt. Er trat leise in den Vorraum, der von einem großen Kamin und einer auf der linken Seite gelegenen breiten Treppe beherrscht wurde. Lautlos schlich er in eine Nische und stieg aus seinen Springerstiefeln. Dann verharrte er still und unbeweglich. Manchmal war es das Beste, einfach zu abzuwarten.

Er horchte in die Dunkelheit. Zuerst war nichts zu hören. Nach etwa fünf Minuten aber hörte er eilige Schritte die Treppe hinunterkommen. Undeutlich erspähte er eine dickliche Gestalt, die ein Gewehr in der Hand hielt und dicht an Cyrus vorbeilief, ohne ihn zu bemerken. Der folgte ihm auf Socken, sich immer wieder umschauend. Wo war Fahrradfahrer Nummer zwei?

Auf Zehenspitzen folgte er den polternden Tritten ein paar Stufen tiefer und dann einen Flur entlang. Schwaches Licht schimmerte vom anderen Ende her. Cyrus erkannte eine Tür, die anscheinend in die Küche des Anwesens führte. Töpfe und Pfannen hingen an einem Gitter von der Decke hinab. Abrupt blieb er stehen. Deutlich erkannte er einen alten Mann mit einer grauen Halbglatze, der sich an einem Telefon zu schaffen machte, das auf einem Küchenschrank stand. Der Alte schlug ein paarmal auf die Gabel und flüsterte ängstlich: „Vermittlung, Vermittlung“. Cyrus sprang vor und war im Nu hinter dem Mann. Er schlang ihm seinen linken Arm um den Hals, hielt ihm den Mund zu und drückte seine Automatik gegen die Schläfe.

„Sofort auflegen!“

Der Alte ließ den Hörer sinken.

„Sind sie allein, alter Mann?“

„Allein, ja! Allein!“ Der Mann zitterte am ganzen Körper und Cyrus konnte riechen, dass er log.

„Legen Sie das Gewehr auf den Tisch.“

Der Mann tat wie ihm geheißen.

„Jetzt gehen Sie voran in die Halle. Dort werden Sie rufen, dass Sie telefoniert haben und jetzt Hilfe mit der Eingangstür brauchen. Sagen Sie, sie klemmt. Und denken Sie daran: Ich bin hinter Ihnen! Wenn ich jetzt sage, gehen Sie los.“

Cyrus schloss die Augen für einen Augenblick und schaltete dann das Licht aus. Erst dann öffnete er seine Augen.

„Jetzt!“, raunte er.

Der Alte setzte sich in Bewegung und Cyrus folgte ihm mit etwas Abstand in die Eingangshalle. Dort stellte er sich wieder in seine Nische. Der Mann drehte sich unsicher um und versuchte Cyrus zu entdecken. Dann rief er laut: „Ich hab angerufen! Kannst runterkommen. Wir müssen die Eingangtür schließen, aber die klemmt.“

Zuerst war alles still. Dann erschien eine zweite Gestalt, die sich auf der Treppe als Frau entpuppte. „Mach´ nicht so einen Lärm, Hubert! Vielleicht ist der Pilot schon zu uns unterwegs. Wir sind ganz allein!“ Die Frau kam eilig die Treppe hinunter und trat zu ihrem Mann. „Was ist mit dir? Warum guckst du so ...“

Cyrus unterbrach sie.

„Bleiben Sie wo Sie sind! Knien Sie sich hin. Und drehen sie sich zum Kamin.“

Cyrus stieg schnell wieder in seine Stiefel und trat aus seinem Versteck hervor.

„Tun Sie uns nichts“, hauchte die Frau mit zitternder Stimme und versuchte vorsichtig über ihre Schulter zu blicken.

„Lassen Sie den Kopf vorne. Ist besser für Sie, wenn Sie mich nicht sehen. Hände hinter den Kopf und raus auf den Hof. Und drehen Sie sich nicht noch einmal zu mir um“, befahl Cyrus emotionslos.

Die beiden Alten, allem Anschein nach schon in ihren Sechzigern, schauten sich ängstlich an, erhoben sich stöhnend und gingen, ohne noch einmal den Versuch zu machen, sich umzudrehen auf den Hof der Burg. Die Frau bettelte weinerlich: „Wir sind nur die Verwalter hier. Lassen Sie uns laufen. Wir sagen auch nichts“.

„Seien sie still!“, herrschte Cyrus sie an, „nehmen Sie Ihre Fahrräder. Vorwärts! Auf die Wiese!“

Cyrus schloss die schwere Tür des Haupthauses hinter sich und dirigierte sie zur Versorgungsbombe.

„Schaffen Sie das da in den Wald dort!“

Die beiden taten wie befohlen und schafften ächzend die Bombe über die taunasse Wiese bis zum Waldrand. Dort ließen sie sie fallen.

„Was werden Sie mit uns machen?“, fragte der Alte.

Statt einer Antwort erhob Cyrus seine Automatik und zielte auf den Hinterkopf des Mannes. Es würde schnell gehen, dachte er. Erst der Mann, dann seine Frau. Plopp, Plopp. Cyrus Finger verstärkte den Druck auf den Abzug. Irgendetwas aber sträubte sich in ihm. In Frankreich hatte er Leute auf diese Art und Weise erschossen. Wachsoldaten, Verräter, Kollaborateure. Für ihn Soldaten. Teilnehmer des Krieges. Aber diese beiden Alten, die mit dem Rücken zu ihm standen?

Sie hatten sein Gesicht nicht gesehen. Nur seine Stimme gehört. Dummerweise hatte er deutsch gesprochen. Gutes Deutsch. Bei einer Vernehmung der beiden würde schnell klar werden, dass er kein einfacher Pilot war. Trotzdem konnte er sich nicht dazu durchringen abzudrücken. Stattdessen dirigierte er sie zurück zum Schloss.

In einem der oberen Zimmer befahl er der Frau, ihrem Mann erst die Augen zu verbinden und ihn dann an einen Heizkörper zu fesseln. Zwei Räume weiter wiederholte er das gleiche mit der Frau selbst. Zusätzlich stopfte er ihnen noch Taschentücher in den Mund. Das musste reichen. Es war nicht professionell war. Er hätte abdrücken müssen.

Zurück im Wald holte er aus der Versorgungsbombe die Wehrmachtsuniform hervor und zog sie an. Dazu Stiefel und Ausweise. Letztere steckte er in die Brusttasche seiner Uniform zusammen mit den als Füllfederhalter getarnten Zünder. Dann packte er sich seinen Rucksack. Kaffee, Zigaretten, Verpflegung, Socken, Unterwäsche und die als Butterpakete getarnten Sprengstoffe. Dazu einen Zivilanzug. Im doppelten Boden seines Reisekoffers, der das Funkgerät enthielt, steckte er seine Automatik und eine Woolworth. Eine zweite verbarg er in seiner Hosentasche. Bis auf die zwei Maschinenpistolen war die Versorgungsbombe leer, aber wenn die Nazis die beiden Alten fanden, würden die sie hierher führen. Aber was würde man aus dem Fund schon schließen? Cyrus entschloss sich, alles einfach liegen zu lassen.

Mit dem Kompass in der Hand radelte er schließlich in Richtung Osten auf zerfahrenen Wirtschaftswegen durch den Wald. Inzwischen hatten die Bombardement aufgehört und nach einer Viertelstunde erreichte er den Waldrand. Es war Mitternacht. Im Norden erkannte er einen rötlich oranges Flimmern. Dazwischen gelegentliche Ausbrüche weißen Lichts. Jüngersdorf brannte. Der Wind trieb hin und wieder das Heulen einer Sirene zu ihm herüber. Die Löscharbeiten hatten schon begonnen. Nachdem er den Wald hinter sich gelassen hatte, entdeckte Cyrus eine Landstraße, die ihn nach Westen führte. Vereinzelte abgedunkelte LKW's, Pferdefuhrwerke und Leute mit Rücksäcken begegneten ihm, denn nachts war man vor Tieffliegerangriffen sicher. Das galt auch für Cyrus, und so trat er eifrig in die Pedale. Nach einer Stunde hatte er Düren erreicht.

Auf einer Brücke, die über die Ruhr führte, wurde er zum ersten Mal kontrolliert. Zwei Feldpolizisten standen gelangweilt an ihren Kübelwagen gelehnt. Beide trugen umgehängte Maschinenpistolen und das fast brustbreite, silber glänzende Blechschild der Feldpolizei. Cyrus radelte langsam auf sie zu und versuchte, seine Aufregung mit einigen Atemstößen zu verscheuchen. Jetzt würde sich herausstellen, ob die Fälschertruppe des OSS gut gearbeitet hatte.

Der Größere der beiden trat auf die Straße und hielt die Hand hoch.

Cyrus stoppte.

„Ausweiskontrolle“, rief der Feldpolizist und watschelte schwerfällig auf ihn zu. Sein Kamerad blieb gähnend am Kübelwagen stehen und steckte sich eine Zigarette an.

Cyrus zog seine gefälschten Ausweise hervor und reichte sie dem Soldaten. Dann ließ er seine Rechte in die Hosentasche gleiten und umfasste die Woolworth. Er hatte nur einen Schuss. Sollten die beiden etwas riechen, würde er schnell den Mann vor ihm greifen und den am Kübelwagen erschießen. Langsam blickte er sich um. Die Häuser lagen in tiefem Schlaf, aber der Schuss würde sicherlich einige Schläfer auf ihn aufmerksam machen. Keine schönen Aussichten.

Der Soldat durchwühlte seine Ausweispapiere. „Fronturlaub, hä? Wo waren se denn eingesetzt?“

„Vitebsk, Mittelabschnitt“, sagte Cyrus kurz.

„Habt' dem Iwan ordentlich eingeheizt, was?“

„Nein, die haben uns eingeheizt. Ich bin nur durch Glück

rausgekommen.“

Der Soldat schaute ihn missmutig an und blätterte weiter die Papiere durch. Urlaubsschein, Wehrpass.

„Warum kommen se aus dem Westen? Sie wohnen doch in Kerpen, oder? Ist nen bisschen aus der Richtung.“

Cyrus verdrehte die Augen. Nur nicht zu unterwürfig erscheinen. „Ich bin heute morgen zu einem Onkel nach Jüngersdorf gefahren. Hab ihn da besucht und ...“

„Und nebenbei nen bisschen gehamstert, was!“, ergänzte der Feldpolizist mit quäkender Stimme. „Lassen se mich mal nen Blick innen Rucksack werfen.“

Cyrus gab dem Feldpolizisten den Rucksack. Der öffnete ihn und wühlte darin herum. Cyrus dachte an den Koffer, der hinten auf dem Gepäckträger klemmte. Wenn er den auch zeigen sollte ...

„Bohnenkaffee? Wo haben se den denn her? Und Butter! Da hat sich Ihr Ausflug aber gelohnt, was? Und jetzt den Koffer! Mal gucken, was se noch für Schätze mithaben.“

Cyrus stellte den Rucksack auf den Boden. Dann griff er in seine Hosentasche und umklammerte seine Woolworth. Außer den beiden Polizisten war niemand zu sehen. Es musste schnell gehen. Seine Muskeln spannten sich, als er sich langsam zum Gepäckträger umdrehte.

„Mensch, Hans, jetzt lass doch den Landser in Ruhe.“

Der andere war rauchend auf sie zugetreten. „Die haben genug Scheiße in Russland erlebt. Mein Vetter ist auch da. Von mir aus können die ruhig ein bisschen hamstern. Komm, lass ihn!“

Der Dicke schaute Cyrus mürrisch an, so als habe man ihm ein nettes Spiel versaut. „Na gut, Soldat. Haun se bloß ab. Und lassen se sich nich noch mal erwischen.“

Wortlos schulterte Cyrus wieder seinen Rucksack, setzte sich aufs Fahrrad und radelte davon. Der Dicke rief ihm noch hinterher: „Und wenn se wieder in Russland sind, immer feste drauf!“

Cyrus winkte noch einmal und dann verschwanden die beiden Polizisten in der Dunkelheit. Während er durch das stille und dunkle Düren fuhr, presste er wütend seine Lippen zusammen und beschloss, das Funkgerät bei der erst besten Gelegenheit zu beseitigen. Der Gedanke, solch´ einen Kasten mitzunehmen, war von vornherein idiotisch gewesen. Ein halbe Stunde nachdem er die kleine Stadt verlassen hatte, warf er den Koffer in weitem Bogen in einen Wald nahe der Landstraße. Die Automatik hatte er vorher herausgenommen und mit dem Halfter unter seiner Uniformjacke verstaut.

Cyrus fuhr die ganze Nacht. Es war klar und kühl. Über sich hörte er immer wieder entferntes Brummen, das ihn an einen Bienenscharm erinnerte, den sie im Garten ihres Hauses in Chicago gehabt hatten. Die Bomber flogen die ganze Nacht über Deutschland hinweg und suchten ihre Ziele.

Als der Morgen dämmerte, erreichte er Köln. Die Stadt war zerstört. Fast vollständig. Eine menschengemachte Trümmerwelt. Im ursprünglichsten Sinne des Wortes. Zerhackt, zerstückelt, zerrissen. Sie war nicht mehr Stadt, Wohnort oder Lebensraum, sondern totes Gebiet, Ruine, Brache, Wüste.

Zwischen schwarz-braun verbrannten Fassaden, in denen hohläugige leere Fenster auf Cyrus hinabblickten, lagen meterhohe Geröllhügel aus Ziegelstein, Beton und verbogenem Stahl. Bald war an ein Fortkommen mit dem Fahrrad nicht mehr zu denken, und Cyrus ging zu Fuß weiter. Er umging metertiefe wassergefüllte Krater, die wahllos über das weite Stadtgebiet gesprenkelt verteilt lagen. Vereinzelte Brände, Rauch. Kaum Menschen. Was er sah war wie ein verblichenes Foto einer Stadt, die einstmals mit Menschen, Grün, Geschäftigkeit und Leben angefüllt gewesen war. Jetzt aber herrschte Ödnis, Dumpfheit und das Königreich der Ratten, die in Scharen durch die verlassenen Häuserkadaver zogen. Über allem lag kalter Brandgeruch vermischt mit dem süßlichen Gestank unentdeckter verwester Leichen.

Cyrus´ Weg in die Innenstadt verlangsamte sich zusehends. Er hatte zwar in Carisbrooke-Castle Luftbilder von Köln studiert, aber trotzdem hatte er schon bald die Orientierung verloren. Denn die Straßen waren nur zum Teil geräumt und oftmals war lediglich ein schmaler Fußpfad frei geschaufelt worden, dem aber schwer zu folgen war. Längere Strecken waren wegen Blindgängergefahr abgesperrt, und so war Cyrus gezwungen sich immer wieder neu zu orientieren. Ganze Wohnungseinrichtungen standen verlassen auf den Straßen. Tische, Stühle, Schränke, sogar Badewannen. Ihre Besitzer waren längst verschwunden. Nur hin und wieder sah Cyrus einzelne Menschen, die wie die Bewohner eines scheuen Gebirgsstammes in den Trümmern herumkletterten.

Manche Stadtteile waren durch Bombenteppiche vollständig ausgelöscht worden, und Schneisen der Vernichtung zogen wie Narben einer übergroßen Raubtierkralle durch die einstige Häuserwelt. Es gab keine Straßennamen mehr oder markante Punkte, vom weithin sichtbaren Dom einmal abgesehen, der sich steil in den blauen Morgenhimmel streckte. Nur gleichförmige Verwüstung so weit das Auge reichte. Das alles mutete Cyrus wie ein Friedhof an, auf dem Schutthügel wie Gräber nebeneinanderlagen und ausgebrannte Fassaden schmalen Grabsteinen darauf glichen. Ein toter Ort. Cyrus fühlte sich wie ein Besucher, der einen bestimmten Grabstein auf diesem gigantischen Gräberfeld suchte.

Obwohl Briten und Amerikaner die Stadt wöchentlich, manchmal sogar täglich heimsuchten, hatten es die letzten Bewohner Kölns geschafft, sich innerhalb der Trümmerwelt einzurichten. An vielen Stellen sah er Räumtrupps oder Bombenentschärfungskommandos. Das waren fast immer Männer in Häftlingskleidung, bewacht von Uniformierten. Sie versuchten Kellereingänge freizuräumen oder kletterten in Bombentrichter, wo sie nach Blindgängern suchten. An den großen Einfallstraßen in die Stadt warteten Kolonnen von Löschfahrzeugen und Instandhaltungstrupps auf ihren nächsten Einsatz. Aus einigen Ruinen stieg aus rostigen Röhren Rauch auf.

Banden von Kindern tollten laut kreischend auf den Schuttbergen. Im Kontrast dazu abgekämpfte müde Frauen und Männer mit Handkarren oder mit Rucksäcken auf ihren Schultern. Vor vielen zerstörten Häusern sah er ehemalige Bewohner, die ihr Hab und Gut, ihr früheres Leben, aus den Ruinen herausschafften und es auf der Straße abstellten.

Auf freien Plätzen versorgten Wasser- oder Lebensmittelwagen die Menschen mit Trinkwasser, Milch, Wurstbrote, Reis und sogar Kuchen. Die Wagen trugen Aufschriften wie: Wir wanken und weichen nicht oder Für den Endsieg. Menschentrauben bildeten sich darum. BDM und HJ organisierten das Verteilen der Rationen. Das Stimmengewirr der vielen Menschen war für Cyrus unwirklich. So wie die Menschen unwirklich wirkten, die in ihren halb zerstörten Wohnungen, die aussahen wie Puppenhäuschen, ihrem Tagwerk nachgingen. Sogar Geschäfte, die noch nicht ausgebombt waren, schienen bereit, den kompletten Verfall der Stadt zu ignorieren. Man schien tatsächlich trotzig entschlossen und bewahrte sich seinen Humor. Vor einem Kaufhaus nahe der Innenstadt, in der ein riesiges Loch von der Vorder- bis zur Rückseite klaffte, hing ein Spruchband: Durchgehend geöffnet.

Cyrus hockte sich in den Schatten einer halb zerstörten Mauer, von der aus er den Friesenplatz überblicken konnte und suchte in seinem Rucksack nach Essbaren. Er lehnte sich zurück, aß und beobachtete.

Die Straßenbahn fuhr. Es gab sogar Busse. Menschen standen oder liefen über den Platz, als gäbe es keinen Krieg, keine Zerstörung. Nur vereinzelt hatte der Puls der Stadt sich nicht verlangsamt. Hier herrschte hektische Betriebsamkeit. Eine Gulaschkanone der Volkswohlfahrt hatte sich postiert. Vor ihr eine lange Reihe Männer, Frauen und Kinder.

Cyrus schaute auf die Uhr. Zwölf. Er hatte knapp fünfzig Kilometer zurückgelegt, war seit vierzehn Stunden auf den Beinen und unendlich müde. Grob gerechnet würde er noch vier Kilometer laufen müssen, um das Haus der Hillers zu erreichen. Da der Stadtteil, in dem sie wohnten, nicht so dicht bebaut war, würde es schwieriger sein, sich dort zu verbergen. Also beschloss er nachts dort anzukommen. Das war unter Umständen sicherer. Obwohl er mit Streifen, die das Plündern in den leerstehenden Ruinen unterbinden sollten, zusammen treffen konnte. Für die Zeit seines Aufenthaltes war die Bombardierung Kölns für drei Tage eingestellt worden. Von dort drohte also keine Gefahr. Er hätte die ganze Nacht und den darauffolgenden Tag Zeit, sich zu verbergen und das Haus der Hillers zu observieren. Er rechnete fest damit, dass die Gestapo, Abwehr oder SD die Familie nicht unbeaufsichtigt ließ. Er musste vorsichtig sein.

Durch ein zerstörtes Fenster schlüpfte er schließlich in eine verlassene Ruine, stieg in den Keller und legte sich schlafen.

Kleine Sonne

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