Читать книгу COLLEGIUM. - Wolfgang Priedl - Страница 34

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Als sie vor das Haus traten, schneite es noch immer. Eine solche Menge Schnee war seit Jahren nicht mehr gefallen. Nicht Ende November.

Peter balancierte mithilfe seines Stockes zum Auto. Seine Westernstiefel mit den glatten Sohlen waren nicht die beste Wahl. Er fuhr mit dem Finger der Fuge der Wagentür entlang und öffnete sie einen Spalt, gerade so viel, dass er sich den Schneebesen aus dem Fußraum angeln konnte.

Er benötigte drei Anläufe, um mit durchdrehenden Rädern aus der Parklücke zu kommen.

Auf der Fahrt lauschten sie den Nachrichten, die den größten Teil ihrer Sendezeit dem gestrigen Flugzeugcrash widmeten. Zweiundachtzig Verletzte, fünfzehn Schwerletzte und drei Tote. Eine erschreckende Bilanz.

»Ich muss Sarahs Mann anrufen«, erinnerte sich Peter und wählte die Festnetznummer am Display aus. »Guten Morgen. Holzinger spricht ... da fällt mir ein Stein vom Herzen ... Ja, gebe ich an die Personalabteilung weiter ... Mindestens sechs Wochen? … Wir wünschen ihr gute Besserung. Danke für die Info.« Peter unterbrach die Verbindung. »Sarah wird für zwei Monate im Krankenstand sein«, seufzte er und schob seinen Unterkiefer zur Seite. »Wir brauchen Unterstützung. Zu zweit ist das alles nicht zu schaffen.«

»D … Du kennst doch fähige Kollegen, die du anfordern kannst.«

»Einige ... Problem ist nur, dass man ihnen Zeit geben muss, um sich mit dem Aufgabengebiet vertraut zu machen. Sie haben keine internationalen Verbindungen. Sarah und ich haben uns in den letzten zwei Monaten eingearbeitet. Du bist drei Jahre in Den Haag gewesen, kennst dich ja aus.« An der Ampel legte Peter seinen Kopf schief. »Ich denke, ich hätte da eine Idee.«

Lucas kam nicht dazu, den Einfall zu hinterfragen, denn sein Smartphone vibrierte. Er streckte das Bein und zog das Mobile aus der Hosentasche. ›18:00 Seilerstätte vor dem Ronacher? lga‹, las er und wandte sich an Peter. »I ... Ich muss um sechs Uhr in der Innenstadt sein.« Er biss sich mit einem Schmunzeln auf die Unterlippe, während er ›Passt! Freu mich. lgl‹ tippte.

»Warum?«

»I ... Ich habe mir gestern Abend eine Wohnung gemietet. Um sechs ist Schlüsselübergabe.«

»Das ging aber schnell. – Dann kann ich Richard sagen, dass du von seinem Vorschlag keinen Gebrauch machst?«

»Ja, bi … bitte und richte ihm meinen besten Dank für sein Angebot aus.«

»Und wie bist du dazu gekommen? Wir waren doch ...«

»A … Annas Junggesellenwohnung – mit Glasfaserkabel«, unterbrach er ihn und erzählte, wie der weitere Abend verlief.

»Das ging aber schnell«, wiederholte Peter mehrdeutig.

»Kei … Keine Fehlinterpretationen, Chef«, erwiderte Lucas langsam.

Holzinger fuhr in den Innenhof der Bundespolizeidirektion.

»Komm, unsere Büros sind im sechsten Stock.«

»Ho … Hoffentlich mit Blick über Wien«, grinste Perez, während sie sich in den Aufzug zwängten.

»Du wirst nicht viel Zeit haben, den Panoramablick zu genießen. Denke an den Bericht.«

»I ... Ich denke an nichts anderes«, antwortete er mit gespielter Ernsthaftigkeit, während der Fahrstuhl hüpfend anhielt.

Peter zeigte zum linken Korridor, ging vor und zog die gläserne Gangtür auf, deren Feder widerwillig knarzte. Von dem Gang zweigten zu beiden Seiten jeweils vier Zimmer ab, den Boden schmückte eine abgetretene Auslegeware aus ehemals dunkelbraunem Filz. Die Wände zierten alte Werbeplakate der Bundespolizeidirektion, die mit vergilbten Klebestreifen befestigt waren. Ein A0-Bogen erklärte die Rangabzeichen. Daneben hing zwischen zwei Glasplatten ein welliger Druck von Albrecht Dürers betenden Händen. Abgestandene Luft stieg Lucas in die Nase. »Ri … Riecht ein wenig muffig ...«, bemerkte er.

Peter klopfte seinem Freund aufmunternd auf den Rücken. »... man gewöhnt sich daran.«

»Vo ... Vorsicht, mein Computer«, fauchte Lucas und duckte sich zur Seite. Wie ein rohes Ei zog er den Rucksack von der Schulter. »U … Und welches ist mein Büro?«

»Dritte Tür rechts. Zwischen uns ist Sarahs Zimmer.«

»Da … Dann bis später.«

Lucas ließ seinen Chef am Gang stehen und stapfte davon. Die Büros hielten, was der Korridor versprach. Das ehemals weiß getünchte Arbeitszimmer hatte schon lange keinen Maler gesehen. Dunkle Ränder markierten die Plätze, wo einst Bilder gehangen haben. Krumme Stahlstifte ragten in unregelmäßigen Abständen aus den Wänden. Er nahm seine Schirmkappe ab und platzierte sie an einem der Nägel.

Die Verbindungstür zu Sarahs Zimmer stand offen. Er steckte seinen Kopf durch den Rahmen. Sieht wenigstens bewohnt aus, dachte er und fragte sich laut: »Warum habe ich mich überreden lassen?«. Die Antwort blieb er sich schuldig. Er vermisste sein gläsernes Büro in Den Haag und zog den Laptop aus dem Rucksack.

Während er ihn hochfahren ließ, schaute er aus dem Fenster über die Dächer Wiens, hinüber Richtung Stephansdom, dessen Turm sich schattenhaft hinter dem dichten Schneefall abzeichnete.

Anschließend warf er einen Blick unter seinen Schreibtisch, wo er einen funkelnagelneuen Computer erblickte, an dem zwei ausladende Monitore angeschlossen waren.

Er ließ sich auf den federnden, mit Skai bezogenen Chefsessel fallen, der seine beste Zeit längst hinter sich hatte. Lucas zog seinen Laptop zu sich und hämmerte in die Tasten, während er sich weiter im Zimmer umsah. Er hielt inne, zog ein Kabel aus seinem Backpack, steckte es seitlich in den Rechner und verkabelte den HDMI-Ausgang mit einem der Bildschirme. Anschließend überprüfte er die Einstellungen seiner Firewall, startete die Hotspot-App auf dem Smartphone und verband es mit dem Laptop.

Lucas schob ein Fenster nach dem anderen auf den Standmonitor. Eines zeigte eine Passagierliste. Er drückte auf die Aktualisierungstaste. Er loggte sich ins lokale Netzwerk ein, fand einen Drucker und sandte die Aufstellung – mit einer Weiteren – zweifach ab. Er lauschte. In Sarahs Zimmer sprang der Laserdrucker an. Er ging hinüber und verglich die Ausdrucke. Die neue Liste der Passagiere war mittlerweile in Abschnitte eingeteilt worden: Unverletzt – verletzt – Schwer verletzt – Tot und vermisst. Unter dem Punkt ›Schwerverletzt‹ fand er Sarah Mutes` Namen, daneben der Hinweis: ›Donauklinik‹. Am Ende der Liste befanden sich unter der Rubrik ›Vermisst‹ zwei Namen.

Lucas grinste und schüttelte den Kopf.

»Pe ... Peter, wir werden vermisst«, rief er durch die Verbindungstür.

»Wie? Wir werden vermisst?«

Lucas stellte sich in den Türrahmen und hielt eine Liste in die Höhe.

»Ste ... Steht auf der Passagierliste der AUA.«

Holzinger runzelt die Stirn und bat seinen Kollegen, ihm das Blatt zu reichen. Er überflog es mit einem argwöhnischen Blick, während Lucas sich auf den Besuchersessel fallen ließ.

Bedächtig legte Peter seinen Kopf schief und starrte sein Gegenüber an.

»Ich habe vorhin eine Mail bekommen, dass ich mich gestern vom Flughafen aus in meinen Account eingeloggt hätte, und mit ›Gefahr in Verzug‹ auf das Netzwerk der AUA zugegriffen habe. Die wollen von mir eine Sachverhaltsdarstellung. Warst du das?«.

»Ja. Wa ... Warum? Wo ist das Problem?«

»Sag, spinnst du? Ich habe dir gesagt: Kein Hacken! Wir halten uns an den Dienstweg!«, brüllte ihn sein Chef an.

»I ... Ich habe doch nicht gehackt«, erwiderte Lucas gelassen. »Ich habe mich nur in deinen Account eingeloggt, weil ich meine Zugangsdaten noch nicht hatte.«

»Und woher hast du meine Daten, wenn ich fragen darf?«

»Na von ... von dir. Wer dich kennt, kennt auch das Passwort, Herr Gleitschirm, geboren 1991. Ich habe mich lediglich in deinen Geschäftsaccount eingeloggt. Oder haben wir in unserem Job Geheimnisse voreinander? Also, beruhige dich. Und weil wir gerade dabei sind: von wegen Routinejob. Vergleiche die beiden Listen! Fünf Fluggäste stehen auf der Besucherliste des Kongresses. Einer davon ist ein Vorstandsmitglied. Das war kein Unfall, mein Lieber.«

Peter rang nach Worten.

In diesem Augenblick machte sich ein Uniformierter in der Eingangstür breit.

»Hallo. Ich habe gehört, dass ihr in dem Flugzeug gewesen seid? Wie war es?«

»Servus. Du – ich habe keine Zeit. Vielleicht später«, winkte Holzinger genervt ab.

Die Nachricht von ihrer Anwesenheit hatte sich in Windeseile im ganzen Haus verbreitet. Immer mehr Kollegen kamen vorbei, jeder mit den gleichen Fragen.

»Könnt ihr bitte allen sagen, …«

Peter setzte sich an seinen Schreibtisch.

» … dass Frau Mutes eine schwere Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Oberarm hat. Sie fällt für sechs Wochen aus. Wenn nicht länger. Wir beide sind ›Okay‹«, rief er schließlich in die Menge und schob seine Kollegen aus dem Zimmer. »Startet lieber eine Kollekte: Die Frau Chefinspektor wird sich über eure Blumen freuen.«

Er seufzte und wartete, bis sie alleine waren.

»Apropos Sarah, ...«

Sein Streitgespräch mit Lucas hatte er mittlerweile verdrängt.

»… wir brauchen rasch geeigneten Ersatz. – Ich hätte eine Idee ...«

COLLEGIUM.

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