Читать книгу "Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland - Wolfram Knauer - Страница 27
Der Tanz zum großen Crash
ОглавлениеAm 24. Oktober 1929 kam es an der New Yorker Börse zu einem Kurssturz ungeahnten Ausmaßes. Mit diesem Schwarzen Donnerstag, dessen Folgen Europa einen Tag später, am Schwarzen Freitag, erreichten, begann die Weltwirtschaftskrise, und mit der Weltwirtschaftskrise gingen die scheinbar so sorglosen Goldenen Zwanziger Jahre zu Ende. Zwischen 1929 und 1933 verfünffachte sich die Zahl der Erwerbslosen, während das Realeinkommen um ein Drittel sank. Anfangs merkte man im Showgeschäft noch wenig von der Rezession, im Gegenteil neigten die Menschen sogar dazu, sich im Angesicht größter Sorge ablenken zu lassen. Die ersten Fabriken schlossen zwar, das hielt aber niemanden davon ab, auszugehen und zu tanzen.
Unter den Ensembles, die auch in diesen Jahren große Erfolge feierten, sind vor allem zwei erwähnenswert, die bis weit in die 1930er Jahre hinein einflussreich waren. Eines davon sind die Comedian Harmonists, ein Gesangsquintett mit Klavierbegleitung, deren Arrangements dicht und schwungvoll klingen, auch wenn die Mischung aus Barbershop-Gesang und Music-Hall-Boygroup nicht viel mit Jazz zu tun hat. Tatsächlich waren die direkten Vorbilder die amerikanischen Revelers. Ab 1928 hatten die Aufnahmen des Ensembles mit deutschen Texten große Erfolge. Die Titel waren meist fest durcharrangiert, und die Comedian Harmonists boten sie mit Virtuosität und einer gehörigen Portion Humor dar. Ihre Konzerte waren ausverkauft, ihre Aufnahmen wurden zu Gassenhauern, die noch Generationen später bekannt sind. »Veronika, der Lenz ist da« oder »Ein kleiner grüner Kaktus« stehen bis heute für die Unterhaltungsmusik jener späten Weimarer Republik. Drei der Mitglieder waren Juden, was dazu führte, dass die Nationalsozialisten 1935 die Auflösung des Ensembles erzwangen.
Die zweite Band, die die späten 1920er, frühen 1930er Jahre entscheidend prägte, sind die Weintraubs Syncopators, die der 1897 geborene Pianist Stefan Weintraub 1924 in Berlin gegründet hatte. Die Kapelle machte lokal von sich reden und wurde 1927 für die Bühnenmusik zu Frank Wedekinds Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten mit Tilla Durieux in der Hauptrolle engagiert. Hier war der Komponist Friedrich Hollaender so begeistert von der Band, dass er sie wiederum für seine eigenen Revuen buchte und dabei selbst als Pianist einsprang, während der Bandleader sich ans Schlagzeug setzte. Von nun an waren die Weintraubs, wie sie allseits nur genannt wurden, in den großen Revuen der Stadt präsent, wirkten bei großen Bällen mit und spielten in der Operette Fräulein Mama als Sextett auf 24 Instrumenten die Musik, die eigentlich für ein 20-köpfiges Ensemble geschrieben war. Ab 1927 ging die Kapelle regelmäßig ins Studio, spielte Instrumentals wie Vokalstücke ein und war 1930 gleich in vier frühen Tonfilmen zu sehen, darunter im Liebeswalzer mit Lilian Harvey und Willy Fritsch sowie in Der Blaue Engel mit Marlene Dietrich und Emil Jannings.
Ende 1930 stieß der Trompeter Adi Rosner (geb. 1910) zur Band, der hinsichtlich Intonation, melodischem Einfallsreichtum und rhythmischer Sicherheit seinen Kollegen weit voraus war. Als Louis Armstrong Rosner 1934 in einem Club in Brüssel hörte, bezeichnete er ihn als den besten Trompeter, den er in Europa gehört habe. Auch die Weintraubs Syncopators nahmen viele Schlager auf, die vor allem auf den populären Markt schielten. Statt es aber bei der Effekthascherei witziger Texte oder jazziger Klischees zu belassen, gelangen ihnen Schallplatten, die geschickt mit den verschiedenen Genres spielten: dem Schlager, der Tanzmusik, der Schnulze, dem Kabarett-Song, dem Jazz.
Wer versucht, die Qualität dieser und anderer Bands nur anhand der überlieferten Plattenaufnahmen zu beurteilen, liegt leicht falsch. Die Plattenfirmen schielten auf den großen Markt und befürworteten im Zweifel immer den Schlager vor instrumentalen Jazzarrangements. Neben ihren großen Hits ist es daher aufschlussreich, in die Jazztitel der Weintraubs hineinzuhören, die sie ebenfalls einspielten. So orientieren sich etwa »Jackass Blues« oder »Up and at ’Em« (um 1928) beide deutlich an der Klanggestalt des afro-amerikanischen Jazz der frühen 1920er Jahre. Obwohl es rhythmisch noch etwas holpert und die Musiker in ihren Soli nicht wirklich wissen, wie sie eine überzeugende Melodielinie improvisieren sollen, ist der Gesamteindruck des Ensemblespiels weit überzeugender als der vieler anderer Tanzorchester der Zeit. Und in »Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen« stimmt alles: der Unterhaltungswert, die Komik, das Arrangement und die solistischen Beiträge.
Die Weintraubs waren laufend auf Tournee und befanden sich gerade in Kopenhagen, als sie davon unterrichtet wurden, dass ihnen, größtenteils »nicht-arischen« Musikern, die Einreise nach Deutschland verwehrt werden würde. Sie flogen von Dänemark in die Niederlande, wo Adi Rosner die Band verließ, dann ging es nach Italien, Wien, Prag, in die UdSSR, nach Ungarn, Rumänien, 1936 bis 1937 sogar nach Japan, dann nach China, bis sie schließlich in Australien landeten, wo die Band, die inzwischen etliche Umstrukturierungen durchgemacht hatte und zum Schluss mit Weintraub selbst, dem Klarinettisten Horst Graf und dem Pianisten Leo Weiss noch drei deutsche Mitglieder hatte, bei Kriegsbeginn auseinanderbrach. Rosner floh 1939 erst nach Polen, dann nach Weißrussland und hatte in den 1940er Jahren großen Erfolg in der UdSSR, wo er die Leitung des staatlichen Jazz- und Unterhaltungsorchesters übernahm. 1946 versuchte er nach Polen zurückzukommen, wurde verhaftet, konnte aber auch in Lagern in Sibirien und Magadan weiter Musik machen. Nach Stalins Tod kam Rosner frei und begann eine zweite Karriere als Musiker und Bandleader. Anfang der 1970er Jahre durfte er nach acht erfolglosen Anträgen nach Deutschland ausreisen und verstarb 1976 verarmt in Berlin.
Mit den beginnenden 1930er Jahren war der Jazz endgültig in Deutschland gelandet: nicht nur als Modeerscheinung, nicht nur als exotisches Faszinosum, sondern als eine Musik, die Musikern genauso wie dem Publikum weit mehr bedeutete, die sie emotional traf, die einen anderen Weg ging als klassische Musik und Schlagermusik der Zeit – und die bei alledem enorm viel Spaß bereitete. Deutschland litt zwar wie alle anderen Länder unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise; im Jazzleben der frühen 1930er Jahre aber sind zugleich eine Aufbruchsstimmung und eine Hoffnung zu spüren, die leider nicht lange währen sollte.