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Swing im Auftrag des Führers

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Viele Orchester mussten sich mit Kriegsbeginn 1939 auflösen, da ihre Musiker zur Wehrmacht eingezogen wurden. Viele Bandleader beantragten zugleich eine Freistellung vom Wehrdienst für »Wehrbetreuungszwecke«.157 Der Pianist und Bandleader Erich Börschel etwa ging zur Grundausbildung zum Heeresnachrichtendienst am Flughafen Königsberg, wurde aber im Herbst 1940 aus Gesundheitsgründen aus der Wehrmacht entlassen.158 Anfang der 1940er Jahre wurde es jedenfalls wegen der Einberufung vieler Musiker zur Wehrmacht immer schwerer, eine »gute« Band zusammenzustellen.

Etliche deutsche Musiker wurden bis 1943 in der Wehrmachtsbetreuung eingesetzt, die den Soldaten das Gefühl von fröhlicher Normalität geben sollten. Im Verlauf des Jahres 1943 allerdings wurden auch viele dieser Musiker eingezogen.159 Lubo D’Orio, ein bulgarischer Saxophonist, gründete 1940 sein eigenes Orchester, mit dem er im Tanzcafé des Berliner Uhlandeck nahe des Kurfürstendamms spielte, das sich in den ersten Kriegsjahren zu einem Treffpunkt der Berliner Swingszene entwickelt hatte und bei der Gestapo gar im Ruf stand, »der größte Jazztempel von Berlin« zu sein. Er und seine Musiker waren regelmäßigen Vorladungen durch die Gestapo ausgesetzt; ab 1942 musste er die eingezogenen deutschen Musiker seines Orchesters nach und nach durch solche aus Holland und Italien ersetzen. Nach 1943 spielte die Band dann, wie Knud Wolffram recherchierte, nur noch »zur Unterhaltung für Bombengeschädigte und für Fronturlauber, die auf ihre Züge warten«.160 Als Erich Börschel Anfang der 1940er Jahre eine neue Kapelle gründete, verpflichtete auch er, weil es nicht genügend deutsche Musiker gab, kriegsgefangene Musiker belgischer und französischer Nationalität aus einem Gefangenenlager bei Allenstein.161

So zeigt sich die Schizophrenie der Nazidiktatur: Auf der einen Seite versuchten die Nazis, die Ausübung, das Hören von und das Tanzen zu Jazz zu unterdrücken oder zumindest weitgehend zu kontrollieren. Auf der anderen Seite entstand direkt aus dem Zentrum der Macht heraus, auf Anweisung des Reichspropagandaministeriums, in den Kriegsjahren ein ganz legales, hochkarätig besetztes Swing-Orchester, in dem viele der großartigen Solisten, von denen bereits die Rede war, mitwirkten: die Band Charlie and his Orchestra.

Das gleich nach der Reichstagswahl 1933 neu gegründete Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda wurde von Joseph Goebbels angeführt. Anfangs mag die »Volksaufklärung« im Fokus seiner Arbeit gestanden haben, also der nach innen gerichtete Versuch, die deutsche Bevölkerung mit propagandistischen Mitteln im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu erreichen. Und während zwischendurch – insbesondere zur Zeit der Olympischen Spiele in Berlin 1936 – das Thema »Imagepflege« im Mittelpunkt seiner Agenda stand, wurde spätestens mit Kriegsbeginn die Auslandspropaganda immer wichtiger. Von vornherein hatte Goebbels neben den Medien die Künste als bedeutsames Propagandainstrument erkannt und benutzt. Er hatte den Bildhauer Arno Breker gefördert, der anders als Ernst Barlach muskelbepackte Männerskulpturen schuf, aber auch die Filmemacherin Leni Riefenstahl, die 1934 Triumph des Willens drehte, einen Film über den Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg, und die 1936 die Olympischen Spiele in Berlin dokumentierte.

Goebbels wusste, dass die Künste einen noch direkteren Zugang zu den Herzen der Menschen ermöglichten als jede noch so zackig vorgetragene Rede. Und er wusste auch, wie einflussreich Musik sein konnte, als Identifikation, als Ablenkung von der Realität, als Motivationshilfe für den bedingungslosen Einsatz für Deutschland. Anlässlich der Reichsmusiktage in Düsseldorf hielt Goebbels 1938 eine vielbeachtete Rede, in der er »Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens« erläuterte. Kurz zusammengefasst: Melodie vor Experiment; auch Unterhaltungsmusik hat ihre Berechtigung; »jüdische« Einflüsse in der Musik sind zu bekämpfen; jeder soll am Musikleben teilnehmen können; vor allem aber: »Die Sprache der Musik ist manchmal durchschlagender als die der Worte.«162 Hier erklärte er ganz offen, dass Musik ein politisches Instrument sein konnte, wenn man sie nur richtig einsetzte. Diese Überzeugung muss auch Pate gestanden haben, als Goebbels 1940 verfügte, ein vom Reichspropagandaministerium finanziertes Swing-Orchester zusammenzustellen, um die Feinde auf kulturellem Terrain quasi mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.

Goebbels war sich genauso wie Außenminister Ribbentrop spätestens nach dem »Anschluss« Österreichs und der Sudetenkrise 1938 des Nutzens von Auslandspropaganda bewusst. Anfangs war es nur ein englischer Sprecher, der als »Lord Haw Haw« in der Propaganda-Sendung »Germany Calling« auf dem deutschen Kurzwellensender pro-deutsche Kommentare Richtung England ausstrahlte. Im Oktober 1939 wurden die ersten musikalischen Aufnahmen der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft mit Propagandatexten eingespielt, begleitet vom Orchester Erhard Bauschke. Da diese Band viel auf Tournee war, stellte man Ende 1939 ein eigenes Orchester aus freien Musikern zusammen. 1940 übernahm der Saxophonist und vielbeschäftigte Studiomusiker Lutz Templin die Leitung dieses Orchesters, das ab dem Herbst 1940 bereits unter dem Namen Charlie and his Orchestra Aufnahmen vorlegte. Namensgeber war Karl Schwedler (geb. 1902), der im Außenministerium arbeitete und nebenher Kabarettsendungen für den vor allem aufs Ausland gerichteten Kurzwellensender machte. Über die Jahre gehörten der Band einige der besten deutschen Instrumentalisten an, etwa der Trompeter Charly Tabor, der Posaunist Willy Berking, der Klarinettist Benny de Weille, der Saxophonist Eugen Henkel, Teddy Kleindin am Altsaxophon, Meg Tevelian an der Gitarre und der Schlagzeuger Fritz (später Freddie) Brocksieper. Als er etliche dieser Musiker 1942 an das Deutsche Tanz- und Unterhaltungsorchester verlor, gelang es Templin dank ausländischer, insbesondere belgischer Musiker aus dem Ernst van’t Hoff Orchester, die Qualität der Band zu halten.163


Lutz Templin Orchester, um 1942

Das Konzept des Orchesters war simpel: Es spielte aktuelle amerikanische Titel in Swing-Arrangements, in denen allerdings spätestens im zweiten Vokalchorus der originale Text gegen einen Propagandatext in englischer Sprache ausgetauscht wurde, der sich gegen die Kriegsgegner oder gegen eine vermeintliche jüdische Aggression richtete. Adressaten der Musik waren keinesfalls die deutsche Bevölkerung – tatsächlich standen die Platten nie zum Verkauf –, sondern die Radiohörer im feindlichen Ausland, speziell in Großbritannien, die der deutsche Auslandsrundfunk über Kurzwelle erreichen wollte. Ziel war die Demotivation der Zivilbevölkerung und potentiellen Soldaten. Von den Platten wurden jeweils nur 50 bis 100 Exemplare gepresst, die dann zur Ausstrahlung durch Auslandssender oder in Kriegsgefangenenlagern bestimmt waren. Zwischen Herbst 1940 und September 1943 nahm das Orchester weit über 100 Titel auf. Als die Bombardierung Berlins zunahm, wurden die Musiker nach Stuttgart evakuiert, wo sie zwar weiter in Livesendungen zu hören waren, aber mangels Equipments keine professionellen Platteneinspielungen mehr machten.164

Lange Zeit war Charlie and his Orchestra eine Art Legende gewesen. Der Schellacksammler und Jazzexperte Rainer E. Lotz brachte 1975 zwei LPs mit Aufnahmen des Orchesters heraus, denen die kompletten Texte der Stücke beilagen, musste die Veröffentlichungen dann aber zurückziehen, als ein deutscher Musikverlag mit juristischen Schritten drohte, »weil die nicht autorisierten anti-amerikanischen und anti-semitischen Verballhornungen [der ursprünglichen amerikanischen Kompositionen] den Interessen des amerikanischen Mutterhauses zuwiderliefen«.165 Zehn Jahre später übernahm ein britisches Label die Aufnahmen, die jetzt auf größeres historisches Interesse trafen und 1988 unter anderem in einem weit beachteten Artikel im Spiegel resultierten.

Die Sängerin Evelyn Künneke kannte viele der Mitglieder von Charlie and his Orchestra gut und beschrieb eine Besetzung, die »hauptsächlich aus italienischen, belgischen und tschechischen Musikern bestand; es gab ein paar Halbjuden und Zigeuner, Freimaurer, Jehovas Zeugen, Homosexuelle und Kommunisten – nicht gerade die Art von Menschen, mit denen die Nazis sonst Karten spielen würden. Aber weil ihre Arbeit als kriegswichtig angesehen wurde, saßen sie hinter den Notenständern in Berlin und nicht hinter Stacheldraht, und machten Swing.«166 Zu den Musikern also gehörten neben deutschen Jazzern Kollegen aus den erwähnten Nationen, darüber hinaus aber auch aus Schweden und sogar Kuba (via Spanien). Templin wurde eine Genehmigung erteilt, offiziell Auslandssender abzuhören, um von ihnen die neuesten Stücke und Arrangements mitzuschneiden und diese dann selbst oder mit Hilfe einiger seiner Musiker zu transkribieren.

Das Repertoire der Band bestand größtenteils aus den amerikanischen Schlagern der Zeit, Stücken wie »Bei mir bist du schön«, »The Sheik of Araby«, »Bye Bye Blackbird« oder »Dinah«. In der Umsetzung der Arrangements standen dabei neben den amerikanischen Originalen auch die Interpretationen britischer Tanzorchester Pate, die etwas weniger vom Blues beeinflusst waren und dafür etwas stärker die Schlager der Music-Hall im Blick hatten. Anfangs köderte man das Publikum durch die swinggerechte Interpretation einschließlich Originaltext, dann folgte, meist nach einer förmlichen Ansage, der Propagandatext, eher in deutlicher Sprech- als Singstimme intoniert. In einigen der Titel wurde das Orchester um Streicher erweitert. Es gibt vereinzelte, wenn auch meist nur kurze, selten mehr als acht Takte lange Solopassagen; am jazzigsten ist in vielen der Titel die Klavierbegleitung zu den Propagandatexten, die stellenweise wie ein davon völlig unabhängiges swingendes Pianosolo klingt (so beispielsweise der Pianist Franz Mück in »Nice People« vom Herbst 1940). Später wurde immer öfter auf die Originaltexte verzichtet, was zum einen der Tatsache zu verdanken sein mag, dass irgendwann ein etwas geübterer Muttersprachler die Texte verfasste, die durchaus Sprachwitz aufweisen konnten (etwa »The Man With the Big Cigar« vom Januar 1942 oder Cole Porters »You’re the Top« vom August 1942), und was zum zweiten dazu führte, dass die Textierung der dreieinhalb Minuten nur noch etwa die Hälfte der Aufnahmen ausmachte, die Musik drumherum also interessanter gestaltet werden konnte.

Textlich sind die Aufnahmen reine Kriegspropaganda; und es verstört vielleicht am meisten, dass man noch heute beim Anhören zu verstehen meint, wie direkt und unmittelbar Musik Stimmung machen kann. Am harmlosesten wirken da noch die Texte, die einfach nur die Stärke Deutschlands beschwören, gegen das Krieg zu führen einfach keinen Sinn mache, »Tea for Two« etwa aus dem Sommer 1941, das sich auch dadurch auszeichnet, dass es mit dem Thema des »St. Louis Blues« beginnt und der Klarinettist (wahrscheinlich Benny de Weille) im zweiten Teil dieses Parts Klarinettenläufe und -glissandi spielt, die klingen, als habe er viel Barney Bigard gehört. Nach dem Propagandapart steht fast die ganze zweite Hälfte der Aufnahme für einen arrangierten Orchesterchorus zur Verfügung, einschließlich eines weiteren relaxten achttaktigen Klarinettensolos, das bis in den Schlussteil hineinreicht.

Ende 1940 spielte das Orchester aber auch den originalen »St. Louis Blues« ein, von Anfang an als Parodie, und damit zumindest indirekt an ein Beispiel aus den USA anknüpfend: Schon Glenn Miller hatte W. C. Handys Komposition 1939 in einem Arrangement von Jerry Gray im strammen Marschrhythmus interpretiert. Die Fassung von Charlie and his Orchestra beginnt eher wie eine Art Stomp, dann heißt es: »A Negro from the London docks sings the black-out blues«. Der Text der Parodie bezieht sich jetzt nur noch auf den Kriegskontext, auf die Tatsache nämlich, dass Deutschland gerade 65 Nächte hintereinander Bomben auf London geworfen habe. Nach dem Textteil ist noch ein Klarinettensolo zu hören, für das ebenfalls wahrscheinlich Benny de Weille zuständig war.

In »You’re Driving Me Crazy« vom Herbst 1940 wettert Schwedler »als Winston Churchill« gegen die Juden, auf die kein Verlass sei, und verdammt den Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan, der den Briten nur Sorge und gewiss nicht den Sieg bringen würde. Irving Berlins »Slumming on Park Avenue« wird 1940 zu »Let’s Go Bombing«, und »Goody Goody« vom Sommer 1941 zu einer Anti-Churchill-Parodie. »Makin’ Whoopee« vom Februar 1942 beginnt mit den Zeilen: »Another war, another profit, another Jewish Business trick! Another season, another reason, for makin’ whoopee!« Und in »You’re the Top« vom August 1942 dichtet der unbekannte Texter Cole Porters sprachwitzige Zeilen in eine Art furchterregendes Nazi-Poem um. Wo Porter die angebetete Liebste mit schönen, wenn auch absurden Kunstwerken und Alltagsgegenständen vergleicht, heißt es jetzt: »You’re the top – you’re a German flyer. You’re the top – you’re machine-gun fire. You’re a U-Boat chap with a lot of pep. You’re grand. You’re a German Blitz, the Paris Ritz, an army van. You’re the Nile, an attack by Rommel. You’re the mile that I’d walk for a Camel. I’m a Soviet check, a total wreck – a fluff! But it’s baby: I’m the bottom you’re the top!« Ja, es mag wie eine Art makabrer Humor wirken, Luftangriffe (»German raid«, »Stuka noise«), die Stimme des deutschen Oberbefehlshabers (»Göring’s voice«) und die Stärke der Nazis (»Nazi might«) als Komplimente an die Liebste zu verstehen, im Propagandaministerium aber war man sich sicher, dass solche Texte, die Lässigkeit, mit der der Sänger die deutsche Überlegenheit suggerieren wollte, genauso wie der schmissige Bigband-Sound einschließlich hinreißender Soli und swingender Riffs ihre demotivierende Wirkung der feindlichen Bevölkerung und Truppen nicht verfehlen würde. Was diese Aufnahmen aber wirklich bewirkten bei denen, für die sie bestimmt waren, lässt sich schwer sagen.

Schwedler hatte als Kabarettist begonnen, und anfangs kam dieser Kabarett-Charakter in seiner Interpretation, dem steifen, so überdeutlich intonierten Sprechgesang, auch klar hervor. Dann aber waren irgendwann Arrangeure beteiligt, denen es durchaus gelang, die Musik und die Texte zusammenzubinden, interessante Klangfarben einzubauen, die Titel eher wie Schlagerkompositionen zu behandeln (in denen Schwedler mehr sang als deklamierte). »Blue Moon« vom Mai 1942, umgetextet zu »Red Star«, ist eingebettet in ein musikalisch gelungenes Swing-Arrangement, in dem auch die Übergänge zum Vokalchorus interessant bleiben. Und »Hold Tight« vom Februar 1943, umgetextet zu »Red Front«, ist ein musikalisch rundherum stimmiges Bigband-Arrangement mit einem großartigen Trompetensolo, wahrscheinlich gespielt vom aus Sizilien stammenden Nino Impallomeni, und einem exzellent zusammenspielenden Saxophonsatz. Von kabarettartigen Ansätzen über eine plump die Gegner verspottende Botschaft bis hin zu stimmigen Arrangements von musikalischem Eigenwert reichte also die Bandbreite dessen, was da ausgestrahlt wurde. Natürlich erkannte, wer immer das hörte, sofort, dass es sich hier um Propaganda handelte. Aber wie es so ist mit Propaganda, egal ob plump oder subtil: Wenn diese auf Ängste und bereits vorhandene Zweifel trifft … vielleicht wirkt sie dann ja auch tiefer.



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