Читать книгу "Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland - Wolfram Knauer - Страница 40
»Die Trommel und ihr Rhythmus«
ОглавлениеEs stimmt, für Lutz Templins Orchester spielte die Crème de la Crème der in Deutschland verfügbaren Swingmusiker. Doch waren diese, zumindest in den Propagandaaufnahmen, nur für den professionellen Background verantwortlich und für vereinzelte, immer nur kurze solistische Partien. Was sie wirklich drauf hatten, hört man stattdessen auf Aufnahmen, die ihnen im Rahmen ihrer Arbeit in anderem Umfeld genehmigt wurden – als Tanzorchester Lutz Templin oder insbesondere in kleineren Besetzungen um den Schlagzeuger Fritz Brocksieper, der zwischen 1941 und 1944 um die 30 Titel einspielte, in denen der Bezug auf die afro-amerikanischen Vorbilder nun so gar nicht mehr zu verleugnen war.
Brocksieper wurde 1912 als Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer Griechin in der Türkei geboren und war mit ihnen zum Ende des Ersten Weltkriegs nach München gezogen. In den 1930er Jahren spielte er mit diversen Bands in ganz Deutschland und ging 1939 nach Berlin. Ab Frühjahr 1940 war er Mitglied in Templins Orchester, als solcher wie auch die anderen Musiker der Band als »unabkömmlich« eingestuft worden und damit nicht in Gefahr, eingezogen zu werden. Neben den Aufnahmen von Charlie and his Orchestra ging Brocksieper mit den besten Solisten der Band zwischendurch immer wieder ins Studio und nahm Jazztitel auf, die zum Besten gehören, was in Deutschland in jenen Jahren eingespielt wurde.
Seine Aufnahmen der Kriegsjahre 1941 bis 1944 stellen vor allem die von ihm bevorzugte kleine Quartettbesetzung heraus. Ob mit Saxophon (Detlev Lais, Teddy Kleindin, Eugen Henkel oder Jean Robert), mit Trompete (Fernando Diaz, Rimus van den Broek oder Nino Impallomeni) oder mit Posaune (Josse Breyre) – gerade diese kleine Besetzung bot den Musikern Gelegenheit, ihr improvisatorisches Können zu zeigen.
Brocksiepers Tenoristen hatten offenbar alle eine Vorliebe für das Klangideal ihres amerikanischen Kollegen Coleman Hawkins. Diese Vorliebe hört man gleich 1941 bei Detlev Lais. Lais besitzt einen vollen Ton, ist in seinen Phrasen rhythmisch aber oft auch reichlich steif, was besonders im »Brocksi-Foxtrott« vom Oktober 1941 auffällt, den der Schlagzeuger fünf Monate später unter dem Titel »Die Trommel und ihr Rhythmus« noch einmal aufnahm. In der späteren Einspielung spielt Teddy Kleindin zwar technisch nicht so flott wie Lais, swingt aber müheloser. Lais’ Problem liegt vor allem in der Intonation. Sein Sound orientiert sich, wie gesagt, am Klangideal Coleman Hawkins’, in lang gehaltenen Tönen aber – beispielsweise in »So ist es …« vom Oktober 1941 bzw. vom März 1942 – misslingt ihm der dramatische Einsatz des Vibratos, das bei Hawkins und anderen amerikanischen Meistern des Instruments immer auch rhythmisch-swingende Aspekte besaß. Ähnliche Probleme hat anfangs übrigens auch Eugen Henkel. Zumindest in seinen frühen Aufnahmen (»Rampenlicht«, »Habe Vertrau’n«, beide vom August 1942) wirkt sein Vibrato oft zu unkontrolliert eingesetzt. Er spielt schnell, technisch versiert, aber seine Phrasen besitzen kaum melodisches Interesse, wirken wie eingeübte Floskeln, die ohne größeren Sinn für den Gesamtverlauf aneinandergehängt werden. Das wird sich bei ihm in späteren Aufnahmen ändern.
Das Problem mit dem swing ist übrigens nicht nur eines der Saxophonisten. Fernando Diaz spielt in »Ernst und heiter« vom April 1942 deutlich einstudierte Trompetenphrasen, steht einem Riff-Chorus vor, der rhythmisch etwas misslingt, und zeigt auch ansonsten eine eher unsichere Intonation. Rimus van den Broek ist im Vergleich zu ihm ein erheblich besserer Improvisator. Der Einfluss von Harry James ist beispielsweise in »Mir ist’s so leicht« vom Mai 1942 unverkennbar. Allerdings hat auch er beim Aushalten langer Töne in der Themenexposition zur lyrischen Ballade »Leise klingt’s übers Wasser« vom Mai 1942 Probleme mit dem effektvollen und damit organisch wirkenden Einsatz eines jazz-gemäßen Vibratos. Von den Blechbläsern am hörenswertesten in diesen frühen Aufnahmen sind die Besetzungen mit dem Posaunisten Josse Breyre bzw. mit dem Trompeter Nino Impallomeni. In »Peinlich« vom September 1942 mit Breyre schafft das Quartett eine gelungene Einbettung des Schlagzeugsolos in die zurückhaltende Riffphrase von Posaune und Klavier, bevor das Thema die Aufnahme beendet. Impallomenis Kunst kommt beispielsweise in »Taktik« vom April 1943 gut zur Geltung oder in »Swinging Tom-Tom« vom April 1944.
Der Star dieser Aufnahmen ist – neben Brocksieper selbst – der Pianist Primo Angeli. Angeli war ein brillanter Techniker, in seinen Soli allerdings steht nie die Technik, sondern der musikalische Zusammenhang im Vordergrund. In den häufigen Boogie-Partien, den gegenläufigen Linien, in effektvoll eingesetzten Oktavtremoli über Stride-Bässen hört man den Einfluss des amerikanischen Pianisten Joe Sullivan. »So ist es …«, »Ernst und Heiter« und besonders »Peinlich«, alle von 1942, sind hierfür beste Beispiele. In langsameren Stücken wie »Kosende Hände« vom April 1942 scheint in den Dezimengängen der linken Hand, im gemächlichen Stride, in typischen Arpeggien der Einfluss Teddy Wilsons durch. Und in »Cymbal-Promenade« vom Juli 1943 spielt Angeli am Cembalo einen wirkungsvollen, deutlich markt-orientierten Blues-Boogie mit vielen gelungen eingefügten Barock-Klischees.
Der Bandleader Fritz Brocksieper selbst steht beispielsweise in »Verrückte Beine« vom Januar 1943 im Vordergrund: Er passt sich den verschiedenen Teilen des Arrangements exzellent an, variiert virtuos die Drum- Technik – unter Trompeten- und Basssolo, in den Schlagzeugbreaks, unter dem Riff-Chorus, im langsamen Outro usw. – und beeinflusst damit den dramaturgischen Gang der gesamten Aufnahme. In vielen der Arrangements seiner Band spielen Tempowechsel eine wichtige Rolle: 8- bis 32-taktige Doubletime-Passagen (»So ist es …«), oder langsame Abschnitte inmitten schneller Stücke (»Liebeslaunen«, »Verrückte Beine«, beide vom Januar 1943). Im Vergleich der Aufnahmen gleicher Titel übrigens kann man auch Unterschiede im Spiel des Schlagzeugers selbst feststellen: In »Brocksi-Foxtrott« vom Oktober 1941 setzt er seine Akzente stark vor den Beat und treibt kräftig; in »Die Trommel und ihr Rhythmus« vom Februar 1942 sind die Schlagzeugfiguren in der Begleitung wie auch in den Soli weit zurückhaltender und besser ins Ensemble eingepasst. Brocksieper erhält immer wieder kurze Solopartien, aber eigentlich steht er auch dort im Mittelpunkt der Aufnahmen, wo er nur als Begleiter fungiert: Er treibt seine Kollegen an, strukturiert das musikalische Geschehen, ändert die Klangfarben der Begleitung. Es gab zu dieser Zeit wohl kaum einen anderen europäischen Schlagzeuger, der so »musikalisch« spielte wie Fritz Brocksieper.
Georg Haentzschels »Ich wüsst’ so gern« vom Februar 1942 zeigt, dass sich auch ein deutscher Schlager hervorragend für jazzige Interpretationen eignen kann. Ansonsten allerdings finden sich in diesen Aufnahmen auch die bekannten Harmonien amerikanischer Hits – allerdings im Gewand neuer Themen und mit neuen Titeln: »Brocksi-Foxtrott« oder »Die Trommel und ihr Rhythmus« beispielsweise über die Harmonien von George Gershwins »I Got Rhythm«, »Ich sing mir eins« vom März 1943 über die Harmonien von »You’re Driving Me Crazy«.
Die vom Jazz-Standpunkt her am besten gelungenen Aufnahmen Brocksiepers aus diesen Jahren sind die auf Decelith-Folie festgehaltenen und leider nur in äußerst schlechter Tonqualität überlieferten Quintett/Sextett-Einspielungen aus dem Reichssender Stuttgart vom April 1944. In »Swinging Tom-Tom« und »Kosende Hände« hört man, wie gut die Rhythmusgruppe – insbesondere Gitarre, Kontrabass und Schlagzeug – swingen konnte. Und der »Shoe Shine Boy« ist trotz des hier extrem starken Rauschens und Knisterns ein Beispiel exzellenter Smallband-Swingmusik, die neben amerikanischen Aufnahmen der Zeit durchaus bestehen kann.
Einige der Mitglieder von Charlie and his Orchestra wurden nach dem Krieg bekannte Bandleader oder Orchestermusiker. Viele der ausländischen Musiker blieben nach Kriegsende aus Furcht, in ihrem Heimatland als Kollaborateure beschuldigt zu werden, in Deutschland. Sie sprachen nicht von ihrer Zeit im Charlie-Orchester oder aber spielten den Anteil, den sie an der Musik hatten, herunter. Brocksieper selbst erzählte später, er habe die Propagandatexte gar nicht so wahrgenommen. »Musikalisch«, sagte er, »spielten wir die beste Bigband-Musik, weil wir die besten Jazzmusiker hatten, die man kriegen konnte, alle in einem Orchester.«167 Nach dem Krieg tauften Freunde seinen Vornamen in Freddie um, und Brocksieper blieb in den späten 1940er und 1950er Jahren eine feste Größe des deutschen, insbesondere des Münchner Jazz. Als er in der Nachkriegszeit in einem der amerikanischen Soldatenclubs spielte, ereignete es sich, dass »einige Amerikaner zu uns aufs Podium [kamen] mit der Armeezeitung ›Stars and Stripes‹ in der Hand und wollten Autogramme. Da sahen wir, dass in der Zeitung Fotos von uns abgedruckt waren. Der Bildtext unter den Fotos lautete: ›You got the band of Mr. Goebbels‹. Die waren ganz aus dem Häuschen. Die Sache war uns natürlich ziemlich peinlich. Dennoch erfüllten wir die Autogrammwünsche, schon allein deshalb, damit wir sie vom Halse hatten.«168