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Alternative Jugendkultur

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Noch bis 1939 konnte man in ausgewählten Kinos amerikanische Musikfilme sehen, die meist reich mit Swingmusik durchsetzt waren. Auch ausländische Bands waren noch bis 1939 in Berlin zu hören. Und selbst während der ersten Kriegsjahre gab es durchaus genug Live-Jazz und -Swing in Berlin, amerikanische Arrangements nämlich, gespielt von Bands aus den besetzten Ländern, Ernst van’t Hoff, Jean Omer, Fud Candrix etc.145 Einmal mehr: Wer glaubt, es hätte im Nazi-Deutschland keinen Jazz gegeben, der irrt. In Walter Kempowskis Roman Tadellöser und Wolff (1971) kann man nachlesen, wie die Brüder Kempowski auf nur leichten Umwegen zu den neuesten Swingplatten der späten 1930er und sogar frühen 1940er Jahre kamen. Und auch in Deutschland selbst wurde Swingmusik produziert. Die bedeutendsten Orchester des europäischen Kontinents waren bis weit in die Kriegsjahre hinein Gast in Berliner Studios, wo sie für deutsche Plattenfirmen Aufnahmen aktuellster Swingmusik machten – allerdings für den ausländischen Markt. Die Nazis waren in den von ihnen besetzten Nachbarländern etwas freigiebiger, was die Toleranz gegenüber der in Deutschland verpönten Musik betrifft. Also wurden in Dänemark, den Niederlanden und anderswo Platten einschlägiger Swingbands verkauft, die in Berlin aufgenommen worden waren.

Doch auch in Deutschland gab es durchaus noch Jazzplatten zu kaufen – wenn auch eher versteckt. In der Frühzeit der Schallplatte waren Schallplattenläden regelrechte Luxuswarengeschäfte. Man wurde individuell bedient, konnte sich die Aufnahmen, die man eventuell kaufen wollte, in einer eigenen Kabine anhören, »die mit aufziehbarem Grammophon oder Kofferapparat, Tischchen, Aschenbecher und Sitzgelegenheit ausgestattet waren«, wie Hans Blüthner sich erinnert.146 Plattenläden vertraten Anfang der 1930er Jahre oft nicht die gesamte Bandbreite des Angebots, sondern beispielsweise spezielle Plattenlabels. In Berlin etwa gab es einen Odeon- und einen Grammophon-Laden in der Friedrichstraße oder einen Electrola-Laden in der Leipziger Straße. Im Musikhaus Alberti in der Rankestraße konnte man den Melody Maker und Noten beziehen, später auch Charles Delaunays Hot Discography. Nach der Flucht des Ladengründers hatte Adalbert Schalin das Alberti übernommen, der zugleich Mitglied im etwa Mitte der 1930er Jahre gegründeten Melodie-Club war, der gleich noch Erwähnung finden wird.147

Sammler wie Horst H. Lange oder Hans Blüthner in Berlin, Dietrich Schulz-Köhn und Hans-Otto Jung im westdeutschen Raum wussten sehr wohl, wie man an die ausländischen Produktionen amerikanischer Jazzaufnahmen herankam. Es war vor Kriegsbeginn beispielsweise noch möglich, 10 Reichsmark in Devisen einzutauschen und ins Ausland zu überweisen. Hans Blüthner erzählt, wie er das fleißig tat und sich etwa vom Commodore Music Shop in New York oder einem Fachgeschäft in London Plattenpakete zusenden ließ. Für wenig Geld sei sogar eine Reise nach England möglich gewesen, auf der man sich mit Platten eindecken konnte.148 Bis Kriegsbeginn hatten ernsthafte Sammler außerdem oft ausländische Tauschpartner oder freundeten sich mit in Berlin spielenden ausländischen Musikern an, die ihnen Platten aus ihren Heimatländern mitbrachten. Bei den ausländischen Tauschpartnern wiederum waren deutsche Pressungen von Aufnahmen begehrt, die im Ausland bereits vergriffen waren. Und selbst im tiefsten Nationalsozialismus waren Jazzplatten zu erhalten, wie Hans Blüthner berichtet, der gegen 1936/37 ein Plattengeschäft am Sophie-Charlotte-Platz in Berlin beriet, dessen »Jazzabteilung« quasi aufbaute und im Gegenzug seine eigenen Erwerbungen zum Einkaufspreis erhielt.149

Jazzfreunde trafen sich in gleichgesinnten Kreisen, die einmal in der Woche zusammenkamen, um Informationen auszutauschen, gemeinsam die neuesten Scheiben zu hören und darüber zu diskutieren. Man darf es sich als eine Art selbstorganisierter Volkshochschulabende in Sachen Jazz vorstellen. Günter Boas beispielsweise bereitete dann in Jena einen Abend über die amerikanische Bluessängerin Bessie Smith vor, brachte etliches akustisches Anschauungsmaterial mit (natürlich alles auf Schellackplatten), berichtete über ihre Biographie und charakterisierte ihren musikalischen Stil. Etliche dieser Jazz-Zirkel überlebten auch nach dem Krieg und bildeten dann die Keimzelle der ersten Jazzclubs in Frankfurt, Berlin, Köln, Düsseldorf oder München. Die Musiker in solchen Zirkeln trafen sich aber auch zu kleinen Konzerten, den Jam-Sessions, bei denen sie ihre eigenen Versionen der amerikanischen Tagesschlager spielten. Noch kurz vor dem Krieg machte in der Augsburger Straße in Berlin die Swing Bar auf, in der ausschließlich Platten internationaler Bands gespielt wurden, »ein heißes Eisen«, wie Hans Blüthner anmerkt, der selbst Zeitzeuge dieser Abende war.150

Die Nazis, die ja eigentlich versuchten, ein ganzes Land in Gleichschritt zu versetzen, waren nicht davon begeistert, dass der Jazz trotz aller Restriktion so hartnäckig wie vielfältig weiter existierte. Im Rückblick vermischt sich das alles oft zu einem geschlossenen Bild einer Szene: die Musiker, die Fans und die Tanzverrückten der Zeit – man stellt sie sich unweigerlich vor, wie sie zusammen und in Eintracht ihrer Leidenschaft nachgehen. Tatsächlich waren die Swingtänzer bei Gastwirten und auch bei Musikern und Jazzfans nicht nur beliebt; ihr Interesse lag ja weniger in der Musik als im sportiven Element des wilden Tanzes begründet, in der Abgrenzung zur älteren Generation. Ihre Begeisterung für den Jazz war Teil einer Jugendkultur, war, wie Knud Wolffram schreibt, »zugleich Ausdrucksform eines bestimmten Lebensgefühls, einer – im eigentlichen Sinne zumeist unpolitischen – Protesthaltung«.151

Sie forderten, ob sie es wollten oder nicht, eine Reaktion des Systems heraus. Nicht jeder »Jazzer«, der verfolgt wurde, wurde dezidiert wegen seiner Liebe zum Jazz verfolgt. Das Verbrechen der sogenannten »Swingheinis« in Hamburg, wo die Gestapo schärfer durchgriff als anderswo und die Jugendlichen zur »Umerziehung« in Konzentrationslagern landeten, war eigentlich weniger, dass sie sich für Swing begeisterten, als vielmehr die Tatsache, dass sie sich der faschistischen Ästhetik widersetzten, deren Ideal natürlich begeisterte Hitlerjungen verkörperten.

Sie trugen die Haare länger, trugen weite, modische Hosen, oder, wie die Mitglieder der Hamburger Swingjugend von 1942 in einer Denkschrift der Reichsjugendführung beschrieben wurden, »lange, häufig karierte englische Sakkos, Schuhe mit dicken, hellen Kreppsohlen, auffallende Shawls, auf dem Kopf einen Unger-Diplomaten-Hut, über dem Arm bei jedem Wetter einen Regenschirm und als Abzeichen im Knopfloch einen Frackhemdknopf mit farbigem Stein«.152 Häufig kamen diese Swinganhänger aus wohlhabendem Haus; Arbeiterkinder konnten sich weder die Klamotten noch die Jazzplatten leisten, die man haben musste, um dazuzugehören. Man gab sich englisch klingende Namen; die Jungs trugen möglichst sichtbar eine ausländische Zeitung in der Tasche, die Mädchen schminkten sich und benutzten eine Zigarettenspitze.

In Frankfurt taten sich Swingfans im Harlem-Club oder in der O. K. Gang zusammen, wie Jürgen Schwab in seiner Geschichte des Jazz in Frankfurt schildert. Sie wurden, wie die Swingfans in Hamburg und anderswo, spätestens ab Ende der 1930er Jahre von der Gestapo beobachtet, mitunter aggressiv verhört und in »Schutzhaft« genommen.153 Tatsächlich aber handelt es sich bei ihnen weit weniger um Jazzfans im eigentlichen Sinne als vielmehr um Jugendliche, die sich weder um Politik noch wirklich um die Musik scherten. Im Nachhinein mag es scheinen, als seien sie am Jazz vor allem als an einer Mode interessiert gewesen. Tatsächlich verband sich mit diesem Interesse auch die Vorstellung, dass anderswo freiere Länder existierten, dass England oder die USA ein anderes Lebensgefühl ermöglichten – und so steckte auch im scheinbar Unpolitischen Politisches.

Neben den Angehörigen der sogenannten Swingjugend gab es aber auch die ernsthaft am Jazz interessierten Jugendlichen, die entweder Platten sammelten, über alle aktuellen Aufnahmen aus den USA oder England Bescheid wussten oder gar selbst ein Instrument spielten, das sie vielleicht klassisch gelernt hatten, auf dem sie aber lieber Jazz machen wollten. Sie fanden sich in Freundeskreisen zusammen, gründeten Hot-Clubs nach dem Vorbild des Hot Club de France, in denen sie sich regelmäßig treffen, austauschen, gemeinsam Platten hören, vielleicht sogar musizieren konnten. In Berlin gab es den bereits erwähnten Melodie-Club, dessen Mitglieder sich jeden Donnerstag in einem Café am Kurfürstendamm trafen. Hans Blüthner, der diesem Club angehörte, erzählt, dass jedes Mitglied eine Liste seines eigenen Plattenbestands abgeben musste, der dann in einen allgemeinen Katalog übertragen wurde, so dass man wusste, wer welche Aufnahme besaß.154 Diese Kladde mit dem Jazzplatten-Bestand der Berliner Sammler der 1930er Jahre kam knapp 60 Jahre später auf Umwegen ins Archiv des Jazzinstituts Darmstadt, und man sieht in der Bestandsliste besonders häufig den Namen »Wolff«, der für keinen Geringeren als Francis Wolff steht, der 1939 in die USA auswanderte und mit seinem Jugendfreund Alfred Lion das Label Blue Note gründete.

Der Melodie-Club teilte sich nach einer Weile in zwei Clubs, von denen der eine einen völlig privaten Charakter hatte, wie sich Hans Blüthner erinnert, »wogegen der andere auf etwas Zuwachs bedacht war und, als ›Magische Note‹ von Domizil zu Domizil wandernd, schließlich auch in Privatwohnungen seine Zusammenkünfte um den Plattenteller abhielt« – was bis in den Krieg hinein anhielt.155 Dem Melodie-Club gehörte ab 1938 auch Hans-Otto Jung an, Pianist und Winzersohn aus Rüdesheim, der bald darauf in Frankfurt zu studieren begann und sich dort mit anderen Swing-Begeisterten zusammentat. Mit einigen von ihnen ging er am 30. Juli 1941, finanziert durch ein spendables Taschengeld seiner Eltern, in ein Studio, in dem sie eine Reihe an Aufnahmen machten, denen man den Amateurstatus der Musiker genauso anhört wie den Enthusiasmus für den Jazz. Dem Hot-Club Frankfurt, wie dieser Kreis bald genannt wurde, gehörten neben Jung der Trompeter Carlo Bohländer an, der Klarinettist Charlie Petri, der Schlagzeuger Hans Podehl und Emil Mangelsdorff, der anfangs noch Akkordeon spielte, von 1942 bis 1943 an Dr. Hoch’s Konservatorium Klarinette studierte und nach dem Krieg als Altsaxophonist und Flötist bekannt wurde. Mangelsdorff erzählt später, wie er Anfang der 1940er Jahre mehrere Tage lang in der Gestapo-Zentrale verhört und danach so lange zum Friseur geschickt wurde, bis seine Frisur dem Gestapo-Beamten zusagte, und wie er dabei über seine Freunde ausgefragt wurde, mit denen er sich regelmäßig zum Musikmachen in der »Rokoko-Diele«, dem Hinterzimmer eines Frankfurter Hotels, traf. 1943 wurde Mangelsdorff verhaftet und beschuldigt, er habe einen Freund vom Wehrertüchtigungslager abhalten wollen. Die Gestapo veranlasste daraufhin – und dies war eine damals übliche und vielleicht noch brutalere Strafe für die jungen Jazzer –, dass er erst zum Reichsarbeitsdienst, dann zur Wehrmacht und schließlich an die Ostfront beordert wurde, wo er nach Kriegsende in russische Gefangenschaft geriet, aus der er erst 1949 wieder freikam.156 Ja, die Nazis hassten den Jazz. Sie fürchteten – wie später auch die Führer vieler anderer totalitärer Regime –, dass die Betonung des Individuums, die dieser Musik innelag, die Jugendlichen, auf deren Konformität sie für die Aufrechterhaltung des Systems angewiesen waren, für ihre Zwecke verderben würde.



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