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Von »White Jazz« bis »Delphi Fox«
ОглавлениеDer Geiger (nebenbei Sänger und Trompeter) Heinz Wehner (geb. 1908) hatte seit 1925 eine kleine Tanzkapelle, mit der er in und um Hannover, aber auch im Bergischen Land oder auf Norderney auftrat. Über die Jahre erweiterte er die Band zu einem Orchester und konnte mit dem Posaunisten Willy Berking und dem Saxophonisten und Klarinettisten Herbert Müller zwei Musiker gewinnen, die sich neben der Satzarbeit auch solistisch einsetzen ließen. 1934 ging er nach Berlin und machte sich dort schnell einen Namen, auch deshalb, weil es seiner Band gelang, die Arrangements der weißen amerikanischen Bands, die ihm und vielen anderen deutschen Orchestern als Vorbild dienten, perfekt nachzuspielen. Ein Beispiel ist der Titel »White Jazz« aus dem Jahr 1935, den Wehner im originalen Arrangement sowie in der Soloabfolge an die Aufnahme des Casa Loma Orchestra von 1931 anlehnte. Das Casa Loma Orchestra war die vielleicht einflussreichste weiße amerikanische Band, bevor Benny Goodman 1935 seinen Durchbruch hatte. Sie verdankte ihren Erfolg nicht so sehr den Solisten, sondern vielmehr den effektvollen Arrangements Gene Giffords, dem es gelang, Komplexität mit Leichtigkeit zu verbinden und so selbst den eindeutig probe-intensivsten Titeln eine improvisatorische Qualität zu verleihen. Casa Loma fand bei vielen europäischen Bands Bewunderer, auch deshalb, weil die Arrangements versprachen, jene Leichtigkeit, mit der sich europäische Ensembles nach wie vor schwer taten, allein durch die in der Orchestrierung vorgegebenen Klangwechsel zumindest ansatzweise zu erreichen.
Mit »White Jazz« also – der Titel ist übrigens eher als Wortspiel denn als kulturpolitische Botschaft zu verstehen – lässt sich, da Wehner entweder Giffords Arrangement vorlag oder aber einer seiner Musiker es wirklich eins zu eins transkribiert hatte, der direkte Vergleich gut anstellen. Insbesondere Willy Berkings Posaunensolo muss sich in seiner Expressivität nicht hinter dem im Original von Pee Wee Hunt gespielten Solo verstecken. Die Unsicherheit mit dem Idiom hört man dann, wenn sich der Schlagzeuger gerade ein wenig zu viel Mühe gibt oder wenn – insbesondere gegen Schluss – die Rifffiguren der Bläser nicht flüssig, sondern von Noten abgespielt wirken. Und doch klang es für zeitgenössische Ohren offenbar anders, jedenfalls wurde Wehner gerade dafür gelobt, dass alles »wie frei improvisiert« klinge – »und doch ist hier höchste Disziplin oberstes Gesetz!«128 Wenn man sich allerdings einige der weitaus holprigeren Interpretationen anderer Bands der Zeit vor Augen hält oder Aufnahmen, die deutlich machen, dass Kollegen Wehners die viel statischere rhythmische Auffassung der 1920er Jahre noch nicht hinter sich gelassen hatten, dann wird verständlich, warum Wehner schnell breiten Erfolg hatte. Im selben Monat nahm übrigens auch die Band von James Kok »White Jazz« auf, was einen Vergleich zweier deutscher Kapellen erlaubt. Die Ensemblepartien sind bei Kok weit unsauberer; mit dem Klarinettisten und Saxophonisten Erhard Bauschke und dem Pianisten Fritz Schulz-Reichel hatte er zwei großartige Solisten im Ensemble. Auch Kok scheitert allerdings am Riffchorus des Schlusses, der nirgends nach vorne drängt, sondern seltsam statisch und von Noten abgelesen wirkt.
1935 wurde Wehner bei der damals noch jungen Plattenfirma Telefunken unter Vertrag genommen, die sich Bands sichern wollte, die noch bei keinem der Konkurrenzlabel untergekommen waren. In Aufnahmen, die er im Februar für Telefunken einspielte, firmierte seine Band als »Telefunken-Swing-Orchester«, und Gerhard Conrad erklärt in seiner Biographie des Bandleaders die Versuche von Musikern in jenen Jahren, den Funktionären der Reichsmusikkammer zu vermitteln, dass Swing »im Gegensatz zum Jazz kultiviert« sei.129 Ähnlich wie in den USA war es mittlerweile auch in Deutschland wichtig, einen klar erkennbaren Bandsound zu entwickeln, und so beschäftigte Wehner ab 1936 mit dem Geiger Walter Leschetitzky erstmals einen festen Arrangeur.
Wehners Band war schnell so bekannt, dass sie im Dezember 1935 für einen Orchesteraustausch nach Stockholm reiste, während der schwedische Bandleader Arne Hülphers in Berlin auftrat.130 Auch Wehner hatte einige Angriffe von Seiten der Reichsmusikkammer zu bestehen. Im Delphi gab es in jenen Jahren zwar »Aufpasser«, die Bescheid gaben, wenn sie vermuteten, dass einer von deren Kontrolleuren den Saal betrat.131 Trotzdem wurden Wehner Ermahnungen zugestellt, und er wird ganz froh gewesen sein, der Reglementierung im Juni 1937 auf einer Amerikafahrt des Ozeanriesen »Hansa« für eine Weile entkommen zu können, zumal dies den Musikern erlaubte, in New York einige amerikanische Swingbands live zu erleben.132 In Wehners Repertoire spiegelt sich diese Erfahrung etwa darin, dass er 1937 Jimmy Mundys Arrangement »Madhouse« für Benny Goodmans Orchester in einer notengetreuen Fassung nachspielte, wie Douglas McDougall damals im amerikanischen Magazin Down Beat berichtet. Vom Januar 1938 stammt »Dämmerung in der Türkei«, eine überaus gelungene Übertragung des von Raymond Scott mit seinem Quintett im Februar 1937 zuvor aufgenommenen »Twilight in Turkey«; die Aufnahme belegt exzellent eingespielte Satzgruppen, wenn sie auch ohne jedes Solo auskommt.
Wehners Band entwickelte mit den Jahren immer mehr an Routine, wie man etwa im »Aunt Hagar’s Blues« von September 1938 merkt. Was ihr immer noch fehlt, ist der amerikanische swing, der ja nicht so sehr durch die rhythmisch korrekte Setzung der Töne entsteht, sondern eher aus einem Gefühl für die dramaturgischen Bögen der Klein- und Großphrasen wie auch der gesamten Melodielinie. Nun wäre die einfachste Erklärung für den mangelnden swing bei Bands wie der von Wehner und anderen einfach die geringe Erfahrung in Verbindung mit fehlender Kenntnis des Originals. Dem steht entgegen, dass es ja durchaus Aufnahmen aus jenen Jahren gibt, die swingen, dass die Musiker also offenbar im Ansatz verstanden, worum es bei diesem so besonderen Phänomen des Jazz ging. Vielleicht also sollte man nicht von einem generellen Unvermögen deutscher Musiker, zu swingen, ausgehen, auch nicht davon, dass sie so steif spielten, um die Kontrolleure von der Reichsmusikkammer auszutricksen, sondern vielleicht ist diese klischeehaft genaue Betonung in Wahrheit ein Zugeständnis an den breiten Musikgeschmack, der mit der relaxten Wirkung des amerikanischen swing weniger anzufangen vermochte als mit der klaren Ansage. Vielleicht, meint man bei einer Aufnahme wie dem »Aunt Hagar’s Blues« zu ahnen, war dem Publikum die klare Form, eine eher traditionelle Sanglichkeit, ein klar akzentuiert statt virtuos verwischt gespielter Bläserchorus oder gar ein deutlich marschierender Rhythmus einfach vertrauter. Wehner spielte Schallplatten mit Peter Igelhoff, Eric Helgar und anderen populären Sängern ein, witzige bis harmlos schlüpfrige Texte, die seine Musik einerseits in die Tradition des Weimarer Kabaretts stellten, wie man etwa in »Meine Adelheid« vom Mai 1936 hört, andererseits in die des populären deutschen Schlagers, wenn er im September 1936 Peter Kreuders »Ich wollt’ ich wär ein Huhn« aufnimmt, das dieser für den im selben Jahr in die Kinos gekommenen Film Glückskinder geschrieben hatte.
Die Anpassung des Aufnahmerepertoires an die Regeln der Reichsmusikkammer sind in Wehners Diskographie deutlich nachzuvollziehen. Straffere Arrangements, deutsche Titel und deutschsprachiger Gesang, und nur in begründeten Ausnahmefällen eine Reverenz an amerikanische Originale, etwa 1940, als Wehner zwei Titel aus dem Hollywoodfilm Der Zauberer von Oz einspielte, nämlich »Over the Rainbow« und »We’re Off to See the Wizard«. Beide Titel allerdings wurden nur ein Vierteljahr später verboten und durften nur noch im Export verkauft werden.133 Deutschland befand sich ja seit dem 1. September 1939 im Krieg, der für Tanzkapellen aus mehreren Gründen spürbar war: Zum einen wurde sofort im ganzen Reich ein Tanzverbot erlassen, zum zweiten wurden etliche Musiker eingezogen. Teddy Kleindin, der für Herbert Müller als Saxophonist zur Band gestoßen war, erinnert sich allerdings auch, dass, als das Orchester im Februar 1939 wieder in Schweden engagiert war, das Repertoire, von Kontrolleuren ganz unbeaufsichtigt, auf amerikanische Titel umgestellt wurde und die Solisten weit mehr Freiraum für Improvisationen erhielten. Einen Eindruck von den Fähigkeiten der Musiker vermittelt der »Delphi Fox« von 1941, ein Arrangement des Trompeters Theo Ferstl und eine Hommage an den Delphi-Palast in Berlin, in dem Wehner seit Februar 1937 immer wieder aufgetreten war und dessen Besitzerin er im Mai 1941 geheiratet hatte.134 Der Bandleader hatte mittlerweile an den vormals so schweren Blechakzenten gearbeitet, die hier etwas weicher als sonst klingen, und seine Rhythmusgruppe swingt, four-to-the-beat, verlässlich. Wehner wurde 1941 eingezogen und zur Wehrmachtsbetreuung im besetzten Norwegen eingesetzt. Ende 1944 wurde er – aus bislang unbekannten Gründen – in ein Strafbataillon versetzt und an die Ostfront geschickt, von der er nicht zurückkam.
Wehners Orchester war eine von etlichen gefeierten Tanzkapellen, die in den 1930er Jahren meist von Berlin aus agierten, aber auf Tournee im gesamten Deutschen Reich zu hören waren. Andere Bands der Zeit, die einen ähnlich guten Ruf hatten, waren etwa die von Oskar Joost, Bernard Etté, James Kok oder Kurt Widmann. Ihrer aller Repertoire changierte zwischen an den amerikanischen Swing angelehntem Jazz und populärem deutschen Schlager. Der Idealfall eines Engagements für eines dieser Tanzorchester war ein Monatsengagement in einem Hotel oder großen Ballsaal. Tourneen führten in andere Städte, gern auch durch die Bäder, etwa an der Ostsee. Und auch der Rundfunk sendete regelmäßige Tanzmusikprogramme, die ab Mitte der 1930er Jahre vornehmlich deutsche Ensembles herausstellten.