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Fallbeispiel Herr D.

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Stellen Sie sich dafür folgendes Szenario auf einer stationären Behandlungseinheit des niederschwelligen Drogenentzugs vor: Es ist um die Mittagszeit. Das Team ist mit neu aufgenommenen Klienten beschäftigt, es herrscht eine rege Betriebsamkeit und alle sind bemüht, »fertig« zu werden – das Team mit der Arbeit und die neu aufgenommenen Klienten mit dem Aufnahmeprozedere. Plötzlich wird es laut. Von dem Lärm aufgeschreckt treffen sich Pflegefachpersonen und Klienten auf dem Stationsgang und beobachten, wie Herr D. mit dem Fuß gegen Türen und Wände tritt. Als Herr D. die Pflegefachpersonen wahrnimmt, bricht er sein Tun ab und setzt sich auf den Boden des Flures. Die Interpretation der Pflegenden zu diesem Zeitpunkt lautete: »Herr D. ist aggressiv – er hat Suchtdruck –, vielleicht möchte er die Behandlung abbrechen.« Diese Interpretation wird anschließend in den Pflegebericht geschrieben und an die nächste Schicht übergeben. Diese weiß dann gleich, auch ohne den Klienten kennen zu müssen, dass Herr D. aggressiv ist und zum Selbstschutz einer engmaschigen Überwachung bedarf.

Aus diesem Problemlösungsansatz können wir ableiten, dass Pflegefachpersonen ihren Fokus auf das Verhalten des Klienten und nicht auf die individuelle Handlung und dem damit verbundenen Wissen um das Handlungsmotiv richteten. Das Ziel dieser diskursiv entstandenen Wahrheit führte zum Sanktionieren und dem Erzwingen einer Verhaltensänderung. Die subjektivierte pflegerische Fürsorge diente in ihrer Funktion der sozialen Regulierung.

Einen anderen Verlauf nahm das Geschehen als die Pflegefachpersonen, vor dem Hintergrund ihrer Beobachtung und der eingeschlossenen Interpretation, Herrn D. folgende Frage stellten: »Sie treten gegen Türen und Wände. Wir haben den Eindruck, sie sind gereizt. Warum tun sie das?« Herr D. schaute auf und antwortete: »Es ist Mittag, auf der Rampe steht der Essenswagen und keiner holt ihn rein – ich habe Hunger.«

Mit dieser Frage an Herrn D. sind wir bei der individuellen Handlung und dem Handlungsmotiv: dem Verstehen des subjektiven Sinns, um den Genesungsweg des Klienten begleiten und unterstützen zu können. Die Fürsorge und damit verbunden das Verstehen um das subjektive Erleben des Klienten wurden für die Pflegefachpersonen handlungsleitend.

Dieses Beispiel fasst sehr gut zusammen, worum es in diesem Aufsatz gehen soll. Die erste Problemlösung zeigt, dass die Pflegefachpersonen die Individualität der sozialen Regulierung angenommen haben. Sie fungieren im gesellschaftlichen Diskurs als Subjekt, und als Teil der Gesellschaft können sie nicht über das Ablösen aus gesellschaftlichen Verhältnissen ent-subjektiviert werden.

Beim zweiten Lösungsansatz wurde das beobachtete Geschehen nicht in bestehendes Vorwissen eingeordnet. Die Differenzerfahrung löste einen Problemlöseprozess aus, in dessen Verlauf der gegebene Fall neu interpretiert werden konnte.

Die Fallbearbeitung und Problemlösung erfolgen auf der Grundlage von Assessments, lebensweltorientiert und unter Zuhilfenahme hermeneutischer Verfahren. Im Ergebnis können Pflegefachpersonen beobachtete Phänomene mit Hilfe eines fachlichen Repertoires interpretieren und reflektieren sowie ihr Handeln gegenüber der eigenen Professionsgemeinschaft und auch über diese hinaus theoriegestützt begründen, was wiederum einer lokalen Ent-Subjektivierung der psychiatrischen Pflege entsprechen würde.

Wie wir gesehen haben, ist mit jedem Lösungsansatz Wissen verbunden. Um die Relevanz der Phänomenologie und des Konzepts der Lebenswelt für die psychiatrische Pflege begreifen zu können, deren Einführung das Ziel dieser Arbeit ist, werde ich im theoretischen Rahmen sozial- und geisteswissenschaftliche Theorien und Quellen aufgreifen. Nach der Auseinandersetzung mit dem Subjekt-Begriff nach Michel Foucault (1926–1984) nutze ich die gesellschaftlichen Verhältnisse als Verstehenszugang und gehe dabei u. a. auf die Argumentationslinie von Ulrich Beck (1944–2015) bis Andreas Reckwitz (*1970) ein. Anschließend werde ich die Analyse der Lebenswelt nach Edmund Husserl (1859–1938) und Alfred Schütz (1899–1959) beschreiben und die Bedeutung der Phänomenologie im Konzept der Lebenswelt für die psychiatrische Pflege herausarbeiten.

Verstehen in der Psychiatrischen Pflege

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