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Definition Bio-Macht

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Der Foucaultsche Begriff Bio-Macht kann in seiner Funktion u. a. als Regulierung des Gesundheitsniveaus verstanden werden. Die Bio-Macht ist auf die Fürsorge der Bevölkerung gerichtet. Sie vereint das Individuum und die Bevölkerung als Gegenstand der Macht, indem sie aufgrund ökonomischer Berechnungen direkt Einfluss auf die Bevölkerung nimmt (Weißflog 2014).

Worauf ich hinaus möchte ist, dass im Feld der Psychiatrie seit der Psychiatrie-Enquete (1975) Fragen über Macht, Gewalt und Zwang im psychiatrischen Alltag und in der psychiatrischen Publizistik eine zentrale Rolle spielen. Bereits vor zwanzig Jahren zeigte Kate Irving (2002) auf, dass eine körperliche Fixierung zur Kontaktbarriere im Pflege-Klienten-Geschehen führen kann, da das Monopol auf die absolute Wahrheit beim Gesundheitsteam liegt und diese Art der Ausgrenzung schließlich nicht zur Förderung eines selbstbestimmten Lebens der erkrankten Menschen beiträgt (Irving 2002). Das Studienergebnis von Irving eröffnet, dass die Fürsorge, u. a. die Unterstützung psychisch erkrankter Menschen auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben, durch diskursive Prozesse subjektiviert wurde. Als Objekt der Macht, der Subjektmacht, hat sie die Funktion, das Verhalten der »Patienten« zu ändern. »Through these discursive practices we can understand how staff maintain a monopoly over the truth and perpetuate claims about the inevitability of restraint use.« (Irving 2002, S. 405)

Wie uns die Geschichte aufzeigt, hatte die staatliche Repression des Wahns ihren Ursprung im »[…] Dekret der Gründung des Hôpital général in Paris [1656].« (Foucault 1969, S. 71) Diese Einrichtung spiegelte die monarchisch-bürgerliche Ordnung in Frankreich und eine Politik der Fürsorge den Armen gegenüber wider. Zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden die ersten Irrenhäuser errichtet, denen neben dem Behandlungsauftrag eine Ordnungsaufgabe zugewiesen wurde (Foucault 1969). Die Aufseher sollten den Psychiater über die Kranken informieren. Mit Muskeln und Stärke, einer unerschrockenen Haltung, Rechtschaffenheit und lauteren Sitten waren sie für die Ausführung der Anordnungen des Arztes zuständig. In der Hierarchie den Aufsehern untergeordnet, waren es die Wärter, die mit besonderer Feinfühligkeit und Sauberkeit den Kranken auf einer Alltagsebene »umdrehen« sollten. Indem sie vortäuschten, dem Kranken zu Diensten zu sein, erhielten sie Kenntnisse über die innere Seite des Menschen. Das Wissen gaben sie an die Aufseher weiter, die dann den Arzt informierten. Die fraktionierten Aufgaben und Funktionen bildeten die innere Ordnung der Irrenanstalt und dienten gleichzeitig als Grundlage für das Machtsystem, welches darauf ausgerichtet war, den Irren zu beherrschen (Foucault 2005). Kontrolle und Überwachung stellten zentrale Aspekte der »Wahrheit« um die Behandlung der Irren dar. Die Aufseher und Wärter übernahmen diese Aufgaben. In diesem unverwechselbaren Tätigkeitsbereich erkannten sie sich selbst und wurden von anderen erkannt; sie wurden zum Subjekt und gleichzeitig zum Objekt und Gegenstand der Machttypen Disziplinarmacht und Körperpolitik, die auf die Bevölkerung und deren Lebensoptimierung sowie auf die Kontrolle über das Leben zielen (Foucault 1976).

Die diskursiven Praktiken führten also dazu, dass sich Pflegefachpersonen im Feld der psychiatrischen Behandlung mit der Funktion sozialer Regulierung identifizierten. Nicht das subjektive Erleben der Menschen, sondern die »Patienten« und deren Krankheit sowie beobachtbare Symptome wurden handlungsleitend, wofür es der Stimme des erkrankten Menschen nicht bedurfte (Weißflog 2014). Auch wenn Foucault gesamtgesellschaftliche Prozesse analysierte, die über Lebenswelten der Individuen hinausgingen, sehen wir die Wirkung der Prozesse und Praktiken in der Subjektivierung mit dem Einfluss auf die Lebenswelt, so wie sich die Individuen selbst wahrnehmen, an ihrem Denken und an ihren Handlungsweisen. Herr D. äußerte über weitere Gespräche an den nächsten Tagen: »Ich bin immer übersehen worden – erst als ich laut wurde, hat man etwas für mich getan.« An dieser Äußerung wird deutlich, dass der Diskurs durch die Macht reguliert und im Sinn ausgetragen wird.

»Wenn die Macht zur sozialen Existenz gehört, […] dann geht es nicht um Freiheit, sondern nur um lokale, temporare Befreiungen, also Praktiken, die eine lokale Machtbeziehung verändern, ihre Rationalität angreifen, untergraben, ihr die Grundlagen entziehen. Doch an die Stelle dieser Macht wird eine andere treten.«

(Demirović 2008, S. 58)

Eine Strategie des Widerstandes könnte zu einer temporären Befreiung führen, wäre aber letztlich nicht zielführend. Vielmehr scheint mir an dieser Stelle ein Ansatz der kritischen Haltung passender zu sein, den Foucault als »[…] die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992, S. 12)3 charakterisiert. Für Foucault ist der »[…] Entstehungsherd der Kritik im wesentlichen das Bündel der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt […].« (Foucault 1992, S. 14 f.) Er versteht unter der Kritik eine moralische und politische Haltung und eine Denkart. Das Subjekt nimmt sich das Recht heraus, die Wahrheit auf die Machteffekte und die Macht auf die Wahrheitsdiskurse hin zu befragen. Für Foucault ist die Funktion der Kritik die Entunterwerfung. (Foucault 1992) Folgen wir dem foucaultschen Gedanken, geht es um »[…] ein Denken der Transformation, der Metamorphose« (Foucault & Trombadori 1996, S. 32) und um eine Neuverteilung von Selbst- und Fremdregierung mit einem letztendlich emanzipatorischen Ziel. »Ein solches Unternehmen ist das einer Ent-Subjektivierung.« (Foucault & Trombadori 1996, S. 27) Die Auseinandersetzung mit und an sich selbst verfolgt das Ziel, dass »wir […] zu dem, um das es geht, in neue Beziehungen treten können.« (Foucault & Trombadori 1996, S. 29)

Meine Frage ist nun: Welche theoretische Grundlage ermöglicht die Entidentifizierung bzw. Ent-Subjektivierung der psychiatrischen Pflege als lokale Emanzipation? Wie wir seit Foucault wissen, ist nicht das Individuum/Subjekt die gesellschaftliche Substanz, sondern das gesellschaftliche Verhältnis (Demirović 2008). Folglich können wir die Transformation des Subjekts nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen behandeln. Auch wenn existierende gesellschaftliche Praktiken Veränderungen bedürfen würden, stellen sich gesellschaftliche Verhältnisse so dar, dass uns Kritik nicht möglich erscheint. Wir leben in einer empirischen Epoche – des Positivismus, der Objektivität und der Rationalisierung, die sich durch Vernunft auszeichnet. Das ist der allgemeine Rahmen meines Textes.

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