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Der Diskurs um die Wahrheit stellte eine zentrale Problematik der Philosophie dar. Der Naturwissenschaft reicht es nicht aus, andere Menschen von einer Hypothese zu überzeugen. Die Hypothese muss durch empirische Befunde überprüfbar und wiederholbar sein. Für die Naturwissenschaft ist die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse zentral, um Regelmäßigkeiten erkennen zu können.

Auch wenn Husserl von einer vorurteilsfreien Wissenschaft ausging, bestritt er, dass der naturwissenschaftliche Ansatz der einzige Weg sei, um Erkenntnisse gewinnen zu können. Er sah die Sachnähe, den objektiven Erkenntnisgewinn im Bereich des Bewusstseinslebens der Menschen wissenschaftlich vernachlässigt, dem er sich deshalb in seinen Untersuchungen zuwandte. Für eine vorurteilsfreie Wissenschaft reduzierte er die Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung, die Vorannahmen und Interpretationen und intendierte so zu reinen psychischen Phänomenen zu gelangen. Diese für ihn vorurteilsfreie Sachnähe, die sich an der Sache und damit an den subjektiven Gegebenheitsweisen ausrichtete, nannte er Phänomenologie. Die Phänomenologie möchte die Menschen im unmittelbar Gegebenen verstehen, so wie die Welt dem Menschen als absolute Wahrheit erscheint. Unter den subjektiven Gegebenheitsweisen verstand Husserl das Erfahren, das Erleben und das Erkennen (Husserl 2018). »Die Gegenstände im Wie ihres Erscheinens in zugeordneten Gegebenheitsweisen sind die ›Phänomene‹, die ›Erscheinungen‹, von denen die danach benannte ›Phänomenologie‹ handelt.« (Husserl 2018, S. 16)

Wie wir nun durch Husserl wissen, möchte die Phänomenologie das essentiell Individuelle vom Allgemeinen abheben. In einer Zeit, in der die psychiatrische Pflege den Recovery-Ansatz diskutiert und zunehmend umsetzt, genauer gesagt die Sichtweise Betroffener stärker beachtet und ihre Erfahrungen einbeziehen möchte, scheint mir eine theoretische Fundierung für die psychiatrische Pflege des Individuums notwendig. Für die Auseinandersetzung mit und an der psychiatrischen Pflege, mit dem Ziel, in eine neue Beziehung treten zu können, ist es aus meiner Sicht unverzichtbar, die gegenstandsbezogenen Grundbegrifflichkeiten und den theoriegeschichtlichen Zusammenhang der Arbeiten von Edmund Husserl und Alfred Schütz zur Phänomenologie und dem Konzept Lebenswelt für die Pflegewissenschaft und das Handlungsfeld zu explizieren. Weil meine Ausführungen detaillierter werden, bleibt es nicht aus, dass die Zitatdichte höher wird.

Die Phänomenologie versteht unter den Phänomenen alle Erscheinungen im Bewusstsein der Menschen und das Bewusstsein der Menschen ist immer das Bewusstsein von etwas. Dieser neue philosophische Denkansatz eröffnete Husserl einen Analysezugang, um zu erkennen, wie die Menschen subjektiv und intersubjektiv die Welt, sich selbst und andere Menschen erleben. Unter dem Begriff Welt verstand Husserl die Gegenstände im Wie ihres Erscheinens. Die objektiven materiellen oder realen Gegenstände und das subjektive Erleben sowie Erkennen standen für Husserl immer in Beziehung zueinander. Deshalb untersuchte er sie aus der Perspektive der ersten Person und in ihren verschiedenen Weisen des Erscheinens. Die für die Menschen objektiv bestehenden Gegebenheitsweisen der Gegenstände verknüpfte er mit dem subjektiven Erleben und Erkennen.

»Durch Sehen, Tasten, Hören usw., in den verschiedenen Weisen sinnlicher Wahrnehmung sind körperliche Dinge in irgendeiner räumlichen Verteilung für mich einfach da, im wörtlichen oder bildlichen Sinne ›vorhanden‹, ob ich auf sie besonders achtsam und mit ihnen betrachtend, denkend, fühlend, wollend beschäftigt bin oder nicht. Auch animalische Wesen, etwa Menschen […] sind in meinem Anschauungsfeld als Wirklichkeit vorhanden, selbst wenn ich nicht auf sie achte.«

(Husserl 2018, S. 131)

Die Welt bestand für Husserl nicht nur aus der räumlichen, sondern auch aus der zeitlichen Welt, die neben dem Gegenwärtigen eine »[…] unmittelbar lebendige und unlebendige Vergangenheit und Zukunft […] [hat] […].« (Husserl 2018, S. 132)

In Rück- und Vorbezogenheit erhalten Dinge durch das Erleben und Erfahren einen Sinn und eine Bedeutungszuschreibung. Weil die Menschen auch Dinge unabhängig vom eigenen Bewusstsein erleben, bezeichnete Husserl diesen Teil als Umwelt, respektive als äußere Welt und erklärte:

»Es ist aber nicht nötig, daß sie, und ebenso sonstige Gegenstände, sich gerade in meinem Wahrnehmungsfelde befinden. Für mich da sind wirkliche Objekte […] [und die] unmittelbar mitbewußte Umgebung […], [die] einen beständigen Umring des aktuellen Wahrnehmungsfeldes ausmacht […].«

(Husserl 2018, S. 132)

Auch wenn aus objektiver Sicht die Menschen ihre Umwelt als dieselbe auffassen, betrachten und interpretieren sie die Dinge mit einem anderen Bewusstsein. Deshalb müssen wir sie mit ihren subjektiven Gegebenheitsweisen auf ihre natürliche Umwelt beziehen.

Der natürlichen Welt, als das aktuell Wahrgenommene und Mitgegenwärtige, schrieb Husserl eine unbestimmte Wirklichkeit zu. Erinnerungen schließen sich mit dem aktuellen Wahrnehmungsfeld »[…] als der zentralen Umgebung […] [zusammen] […] [Die] […] Unbestimmtheit bevölkert sich mit […] Vermutlichkeiten, und nur die ›Form‹ der Welt, eben als ›Welt‹ ist vorgezeichnet.« (Husserl 2018, S. 132)

Den Gegebenheiten sprechen die Menschen einen Sinn zu und geben ihnen Bedeutungszuschreibungen. Denn das Bewusstsein, immer bezogen auf die Umwelt, wechselt zwischen »[…] forschenden Betrachtens, des Explizierens und Auf-Begriffe-bringens in der Beschreibung, des Vergleichens und Unterscheidens, des Kolligierens und Zählens, des Voraussetzens und Folgerns, kurzum des theoretisierenden Bewußtseins in seinen verschiedenen Formen und Stufen. Ebenso die vielgestaltigen Akte und Zustände des Gemüts und des Wollens […].« (Husserl 2018, S. 134)

Das Denken über die erscheinende Welt führte Husserl zum Lebensweltbegriff. Im Verlauf seiner Analysen wurde aus der Welt die natürliche Welt und schließlich die Lebenswelt. Die Menschen leben in ihrer alltäglichen Lebenswelt, die ihnen jederzeit verfügbar ist (Husserl 2018).

Die subjektive menschliche Wahrnehmung wollte Husserl um die transzendentale Phänomenologie »[…] in konsequenter phänomenologischer Reduktion das Eigenwesentliche der Bewußtseinssubjekte in eidetischer Allgemeinheit […] enthüllen, nach allen seinen möglichen Gestalten.« (Husserl 2018, S. 210 f.) Um die intersubjektive Verständigung untersuchen zu können, versuchte Husserl den Schritt von der Subjektivität menschlicher Wahrnehmung zur intersubjektiven Verständigung. »Ich und Wir setzt ein (apperzipierendes) Ich und Wir voraus, f ü r das es vorhanden ist, das aber nicht selbst wieder im selben Sinn vorhanden ist.« (Husserl 2018, S. 213)

Die Phänomenologie, die Lehre vom Erscheinen und das Erscheinen, hatte für Husserl einen Doppelsinn: das Erscheinen aus Sicht des jeweiligen Subjektes (wie es dem Menschen erscheint) und das objektive Vorliegen einer Erscheinung. Das Subjekt kann über eine Sache nur dann objektiv reden, wenn es sie auch objektiv selbst erlebt hat. Eine vorurteilsfreie Erkenntnis von der Welt erfassen zu wollen heißt, von Deutungen und Theorien abzusehen und die Sache zu beschreiben, um so den wahren Wesensgehalt der Sache erkennen zu können. Da die menschliche Wahrnehmung grundsätzlich subjektiv geprägt ist, möchte die Phänomenologie für einen vorurteilsfreien Erkenntnisgewinn die Sachen im Bereich des Bewusstseinslebens, als reines sich im Bewusstsein der Menschen befindendes Phänomen, ohne Vorannahmen und Interpretationen beschreiben. Das Bewusstseinsleben nannte Husserl die Transzendentale Subjektivität. Um das Bewusstseinsleben beschreiben zu können, bediente er sich der Reduktion. Für das Erkennen des wahren Wesensgehalts eines Gegenstandes muss die Einstellung zum Gegenstand geändert und jegliches (Vor-)Urteil ihm gegenüber zurückgehalten werden. Damit Husserl die intersubjektive Verständigung erforschen konnte, erweiterte er die Subjektivität um die transzendentale Intersubjektivität, die nur durch die Konstitution des Anderen und in der Folge durch die Konstitution der objektiven Welt möglich wurde. Nur reduzierte er dafür im Rahmen seiner analytischen Betrachtung der Dinge des unmittelbar Erscheinenden die subjektiven Anteile der menschlichen Wahrnehmung: die Anteile der äußeren Welt und die Anteile der inneren Welt, wie die Gefühle der Personen und ihre Verhaltensweisen. Husserl richtete den Blick auf den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Dennoch versetzt er uns in den Stand, Fragen des Alltags besser beantworten zu können.

Einen Schritt weiter geht Alfred Schütz, der die Sozialwissenschaften durch eine phänomenologische Analyse der Lebenswelt und differenziert in lebensweltliche Strukturen – räumliche, zeitliche und soziale Aufschichtung der Lebenswelt, Struktur subjektiven Wissensvorrates, Theorie der Typik und Relevanz – begründen wollte. Seine Theorie des Fremdverstehens vertieft die Bedeutung der Phänomenologie für das Handlungsfeld der psychiatrischen Pflege.

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