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1.3 Diskurs gesellschaftlicher Verhältnisse

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Die gesellschaftstheoretische Perspektive, mit der ich mich nun in Auszügen auseinandersetzen möchte, eröffnet uns auf der einen Seite eine Struktur der Standardisierung, Messbarkeit, Verifizierbarkeit und Verallgemeinerbarkeit. Wissenschaftliche Erklärungen, welche auf standardisierte Verfahren der empirischen Sozialforschung zurückzuführen sind, wie die randomisierte kontrollierte Untersuchung (RCT), die als »Goldstandard« betrachtet wird, versprechen den höchsten Evidenzgrad. Die Wirkungen von Interventionen sind an größeren Fallzahlen untersucht, das Studiendesign arbeitet mit einer Kontrollgruppe, die Zuordnung zur Behandlungsgruppe unterliegt dem Zufall und die Einflussnahme des Untersuchers ist ausgeschlossen. Das Untersuchungsergebnis belegt die aufgestellte Hypothese empirisch und die Aussage kann verallgemeinert werden. In der medizinischen Behandlung und gestützt auf naturwissenschaftliche Modelle müssen patientenorientierte Entscheidungen auf der Grundlage dieser empirisch nachgewiesenen Wirksamkeit getroffen werden. Die Behandlungsleitlinien geben den aktuellen Standard der Wissenschaft wieder. Ihre Empfehlungen sollen die Behandlungsqualität verbessern und Interventionen, die nicht durch Evidenz begründet sind, verringern (AWMF 2019). »Gute« psychiatrische Pflege möchte erkrankte Menschen auf dem Genesungsweg selbstbestimmten Handelns unterstützen. Dem entgegen stehen jedoch häufig Herausforderungen aufgrund von Phänomenen, die nicht immer einfach zu erklären und vorhersagbar sind. Um das alltagspraktische Handeln zu stärken, knüpft z. B. das Training der Alltagsfertigkeiten an den Voraussetzungen, Bedürfnissen und Wünschen der Menschen an. Auch wenn durch das Training die Symptomschwere positiv beeinflusst werden kann, sind die gemessenen Effekte auf die Verbesserung der Lebensqualität und auf die Behandlungszufriedenheit eher gering (AWMF 2019). Damit sind wir erkenntnistheoretisch bei einer Wahrheit, die eine subjektive Auffassung von Wahrheit nur zu einer bestimmten Zeit abbilden kann und bei einem guten Übergang zur zweiten Seite der gesellschaftlichen Perspektive.

Spätestens mit der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre vollzog sich in Deutschland ein gesellschaftlicher Wertewandel von der Fügsamkeit zur Selbstbestimmung. Die Thematisierung der Individualisierung als Phänomen geht auf die soziologischen Klassiker der Jahrhundertwende zurück. Die stark kritische Begründungslinie führt zu den Arbeiten von Foucault. Eine weitere Argumentationslinie führt von Georg Simmel über Norbert Elias zu Ulrich Beck. Die Modernisierung der Gesellschaft führte nach Beck zu einer dreifachen Individualisierung:

»Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (Freisetzungsdimension), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (Entzauberungsdimension) und - womit die Bedeutung des Begriffs gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird - eine neue Art der sozialen Einbindung (Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension).« (Beck 1986, S. 206)

Individualisierung bewirkt auf diese Weise »eine Rationalisierung sozialer Beziehungen im Hinblick auf ihren persönlich-privaten Sinn.« (Brock 1994, S. 259)

Die biographische Sichtweise hob die Norm der Familie und der Klasse auf, an ihre Stelle trat die Norm des Arbeitsmarktes. Auch wenn die Individuallage von der institutionsabhängigen Kontrollstruktur, aufgrund der Abhängigkeit vom Arbeitsmarkt, der Bildung und den sozialrechtlichen Regelungen, vergesellschaftet wurde, hätte die industrielle Moderne zu einer klassenlosen Gesellschaft führen können. Als Folge der ökonomischen Vernunft, in Strukturen der Macht unterlag die Individualisierung dem Herrschaftsverhältnis. Rückblickend ist die Herrschaftsfreiheit in der nachindustriellen Gesellschaft für Andreas Reckwitz (2020) eine optische Täuschung und in der Folge »[…] die Singularisierung des Sozialen in der Spätmoderne nicht das Ende, sondern [der] Anfang einer neuen Klassengesellschaft […].« (Reckwitz 2020, S. 276) Die spätmoderne Gesellschaft löste die Moderne ab und folgt der sozialen Logik des Besonderen: »[Die] Etablierung einer postindustriellen Ökonomie der Singularitäten und der Aufstieg der digitalen Kulturmaschine bilden das strukturelle Rückgrat der spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten.« (Reckwitz 2020, S. 273) »[…] [A]llgemeine Prozesse der Ökonomie, der Technologien und auch des Wertewandels wirken sich auf die gesamte Gesellschaft und auf alle in ihr lebenden Subjekte in sämtlichen Milieus aus.« (Reckwitz 2020, S. 274) Der singularistische Lebensstil ist getragen von Authentizität und Selbstverwirklichung sowie von Lebensqualität und Kreativität, in seiner reinsten Form in der neuen Mittelklasse, die über ein hohes kulturelles Kapital in Form akademischer Bildungsabschlüsse verfügt und in Berufen der Wissens- und Kulturökonomie tätig ist. Auch wenn es sich bei dieser Klasse um ein Drittel der Bevölkerung in der westlichen Welt handelt, wirkt die Sozialstruktur auf alle Klassen. Die materiellen Ressourcen (Einkommen und Vermögen) bestimmen den Lebensstil und unterscheiden die Klassen voneinander. Die ehemalige Mitte – mit ihrem »sozialdemokratischen Konsens« und niederem oder auch keinem kulturellen und ökonomischen Kapital – bildet die neue Unterklasse, die auch ein Drittel der Bevölkerung ausmacht. Zwischen der neuen Mittelklasse und der neuen Unterklasse befindet sich die alte nichtakademische Mittelklasse. Die Klassenunterschiede und soziale Ungleichheiten werden durch materielle Ressourcen bestimmt, wobei für die Akademikerklasse das kulturelle Kapital bestimmend ist. In der spätmodernen Gesellschaft entscheidet der Faktor Bildung über den Lebensstandard und Lebensstil (Reckwitz 2020). Auch wenn der singularistische Lebensstil der Spätmoderne allen Individuen die Selbstverwirklichung verspricht, können nicht alle davon profitieren. Deshalb stellt sich an dieser Stelle fast zwingend die Frage: Welche Antworten hat die Sozialpolitik auf die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft?

Die Theorie der deutschen Sozialpolitik geht auf Gerhard Weisser und die Verteilung von Lebenslagen zurück. Eng verknüpft ist dieses Lebenslagenkonzept mit dem Godesberger Programm der SPD (1959): »[…] gerechte Beteiligung aller am Ertrag der Volkswirtschaft [und] Lebensbedingungen schaffen, unter denen alle Menschen […] eigenes Vermögen bilden können.« (Godesberger Programm 1959).

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