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Einleitung

Welche Denkansätze zur Frage des »Verstehen« gibt es für die klinisch-psychiatrische Pflege in der Wissenschaft? Unter dieser Fragestellung werden sozial- und geisteswissenschaftlich ausgerichtete Betrachtungsweisen zum Verstehen in der psychiatrischen Pflege herangezogen, die in der Diskussion um anwendungsorientierte alternative Entwicklungen von zentraler Bedeutung sind. Ihre Konkretisierung erfahren die jeweiligen Diskurse an spezifischen Gegenstandsbereichen der psychiatrischen Pflege.

Der Beitrag von Sabine Weißflog möchte mit einer kritischen Haltung zur Korrektur des unerreichbaren Ideals quantitativer Verfahren objektivistischer Ansätze anregen – zugunsten verstehender Methoden. Expliziert wird für die psychiatrische Pflege das Konzept Lebenswelt nach Edmund Husserl und Alfred Schütz. Der Blick auf die Neuverteilung von Selbst- und Fremdregierung offenbart im Konzept Lebenswelt einen emanzipatorischen Charakter für die psychiatrische Pflege und für psychisch erkrankte Menschen. Der Auseinandersetzung mit dem Subjekt-Begriff Michel Foucaults folgt die gesellschaftstheoretische Perspektive einer Argumentationslinie von Ulrich Beck bis zu Andreas Reckwitz. Das Wissen um die sinnhafte Vorstrukturiertheit der Sozialwelt hat Konsequenzen für die psychiatrische Pflegepraxis. Das Spezifische des pflegewissenschaftlich-psychiatrischen Gegenstandsbereichs basiert auf dem Verstehen.

Günter Meyer setzt die psychiatrische Pflege in einen größeren kulturellen Zusammenhang, um deren Bedeutsamkeit herauszuarbeiten. Psychische Störungen sind in allen Kulturen und Epochen festzustellen, sie erscheinen wie Bilderfahrzeuge im kulturellen Kontext. Doch die Begriffe »Normalität«, »Krankheit« und »Gesundheit« variieren in der geschichtlichen Entwicklung und ein scheinbar objektives Urteil ist letztlich immer ein kulturelles Konstrukt. In der psychiatrischen Pflegeforschung ist daher vorsichtig mit dem Begriff »Objektivität« umzugehen. Auch wenn der »Mainstream« der Wissenschaft eine Überwindung der subjektiven Betrachtung zugunsten einer größtmöglichen Objektivität anstrebt, sollte diese Objektivität nie ahistorisch betrachtet und der kulturelle Kontext nicht unterdrückt werden.

Der Artikel von Michael Theune nimmt eine berufspolitisch-kritische Haltung ein. Der Autor möchte ein Bewusstsein für die dysfunktionale Systematik generieren und gleichzeitig ein proaktives Interesse für die durchaus bestehenden Wissensbestände wecken. In die Betrachtung einbezogen wird der pflegewissenschaftliche Selbstverpflichtungsanspruch nach Erkenntnisgewinn und der Erkenntnistransfer für das klinische Handlungsfeld. Die Diskussion erfährt ihre Erweiterung im gesellschaftlichen Professionalisierungsdiskurs der Pflegeberufe, dem bidirektionalen Innenverhältnis der Gesundheitsberufe Pflege und Medizin sowie durch eine intrinsische und extrinsische Modellierung des Berufsbildes Pflege. Die theoretische Bezugnahme auf Ulrich Oevermanns doppelte Handlungslogik formt den gedanklichen Rahmen.

Ingo Tschinke möchte in seinem Beitrag zur Auseinandersetzung mit der philosophischen Sichtweise auf die Seins-Ebene und die Sinnhaftigkeit von Leben anregen. Die Werte-Orientierung des Recovery-Konzeptes sieht er als Brücke für das Verstehen der Wandlung psychisch erkrankter Menschen hin zu Menschen, die sich auf ihrem Genesungsweg befinden. Zur Vertiefung werden die Bezugsvariablen des CHIME-Modells unter philosophischen Aspekten der Phänomenologie und des Existenzialismus betrachtet. Zur Werte-Orientierung des Recovery wird die sinnorientierte Psychotherapie (Logotherapie) von Viktor E. Frankl herangezogen. Zukünftige Projekte der Pflegeforschung sollten werteorientiertes Pflegehandeln vor dem Hintergrund der werteorientierten Betroffenenerwartungen aufgreifen.

Das Kapitel von Maren Fries beschäftigt sich mit den Persönlichkeitsrechten psychisch erkrankter Menschen und untersucht die Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts der offenen Tür in der stationären akutpsychiatrischen Behandlung. Theoriegestützt und auf der Grundlage von Expertenmeinungen wird die gängige Praxis des Konzepts der geschlossenen Tür und das konkurrierende Konzept der offenen Tür diskutiert; dabei reflektiert die Autorin ethische Aspekte anhand der biomedizinischen Prinzipienethik nach Beauchamps und Childress (2009). Obwohl das Konzept der offenen Tür den Zwang und die Einschränkungen der Persönlichkeitsrechte verringern kann, sind die Eingangstüren von Stationen, auf denen psychiatrische Akutbehandlungen erfolgen, auch weiterhin überwiegend verschlossen. Daher sollten sowohl wissenschaftliche Erkenntnisse als auch ethische Kriterien herangezogen werden, um zu entscheiden, wie eine gute Praxis bei minimaler Anwendung von Zwang und Einschränkung der Persönlichkeitsrechte für psychisch erkrankte Patienten sichergestellt werden kann.

Der Beitrag von Sonja Freyer thematisiert die Betroffenheit und die Bedürfnisse Angehöriger nach einem vollendeten Suizid von Klienten. Steigende Suizidraten verdeutlichen die Relevanz, sich mit den Themen Suizidprävention und Suizidpostvention auseinanderzusetzen. Für den deutschsprachigen Raum wird die Profilentwicklung einer Advanced Practice Nurse (APN) mit der Spezialisierung auf Suizidprävention und -postvention mittels einer Meta-Synthese (in Anlehnung an die Meta-Ethnographie nach Noblit und Hare, 1988) dargestellt. Zukünftige APNs in diesem Bereich benötigen ausgeprägte kommunikative Kompetenzen, ein hohes Reflexionsvermögen, Fähigkeiten zur Suizidrisikoeinschätzung und umfassende Kenntnisse zu den Auswirkungen eines Suizids auf das familiäre Umfeld. Die Datenlage ist insbesondere zu den Aufgaben, Tätigkeiten und Kompetenzen von Pflegenden im Bereich der Suizidpostvention international gering und für den deutschsprachigen Raum liegen gar keine Daten vor. Hier besteht eine eklatante Forschungslücke, die es mit gezielten pflegewissenschaftlichen Fragestellungen zu verringern gilt.

Im letzten Beitrag geht es um die Beziehungsgestaltung in der psychiatrischen Pflege, denn Verstehen und Verständnis kann nur im Rahmen einer positiven Gestaltung von Beziehungen entwickelt werden. Julia Lademann bezieht sich auf erste pflegewissenschaftliche Theorien und stellt fest, dass ein wissenschaftlich fundiertes Hintergrundwissen, eine gezielte Kompetenzentwicklung bei Pflegefachpersonen sowie angemessene Rahmenbedingungen zur praktischen Umsetzung notwendig sind. Es gilt, psychisch erkrankte Menschen sowohl auf der Grundlage evidenzbasierter Erkenntnisse als auch im Hinblick auf ihre Individualität und Persönlichkeit anerkennend und einbeziehend zu begleiten. In diesem Beitrag werden die in dem vorliegenden Band präsentierten Themen mit Blick auf eine verstehensorientierte Beziehungsgestaltung zusammenfassend und beispielhaft diskutiert.

Verstehen in der Psychiatrischen Pflege

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