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7. Gott und die Offenheit des Textes

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In Mk 2,1–12 wird neben vielem anderen53 auch auf die Differenz hingewiesen zwischen der Art und Weise, wie Jesus die Schrift auslegt und wie dies die Schriftgelehrten tun. Jesus ist ganz bei seiner (Um)Welt präsent, in inniger, affektiver Nähe, und er ist durchdrungen von dem Textkörper der Schrift und ihrem barmherzigen Herzen, aus dem heraus er in der Kraft Gottes heilt und Sünden vergibt. Dagegen bleiben die Schriftgelehrten in sitzender, also unbeweglicher Distanz (Mk 2,6: „Es waren aber einige der Schriftgelehrten dort sitzend […]“) und ersetzen den affektiven durch einen objektivierenden Blick. Dies weist den Leser darauf hin, dass die Bibel nicht einfach als Aneinanderreihung vergegenständlichbarer Inhalte gelesen werden will, sondern eine affektive Landschaft darstellt, in welche der Leser eintritt und die er sich im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut gehen lässt. In dieser Form der Annahme wird sie dem Leser gewissermaßen zur zweiten Haut, zu einem Körper sui generis und zur Kultur einer ganz besonderen Empfindsamkeit, aus der heraus die Welt sympathetisch-compassiv wahrnehmbar wird.

|44|Im Johannesevangelium gibt es viele Signale für eine diesbezügliche Sicht. Bereits der Satz in 1,14 „und wir sahen seine Herrlichkeit […]“, nämlich die des verkörperten Logos, weist nicht zuletzt auf den folgenden Text dieses Buches als Ort der Begegnung der Herrlichkeit Gottes hin. Die Aufforderung Jesu in 2,37 an Andreas und einen anonym bleibenden Schüler (den Leser!) – beide kommen von Johannes dem Täufer her, der im Johannesevangelium als Repräsentant der Propheten des Alten Testaments fungiert, d. h. beide nehmen mit anderen Worten gesagt ihren Ausgangsort aus dem Schriftkorpus (des Alten Testaments) –, zu ihm zu kommen und zu sehen, lädt zu einem Eintritt in diesen Schriftkorpus im Lichte des JHWH-Ereignisses in Jesus ein.

Von besonderer Bedeutung für die Frage nach Gott als Offenheit des Textes sind die Ausführungen ab Joh 14. Bis dahin werden sieben (Zahl der Fülle und Vollständigkeit!) paradigmatische Zeichen Jesu dargestellt, die dessen Existenz als Konkretion des JHWH-Namens deuten („ICH BIN“), wobei das höchste dieser Zeichen die Auferweckung des Lazarus darstellt, die Jesus als „die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,24) ausweisen. Joh 14, in dem gewissermaßen ein neues Zeichen, wiederum als Zusatz und Supplement zu einer in sich vollendeten Totalität, angekündigt wird, führt als Hintergrund den Weg Jesu zur Ausgesetztheit des Kreuzes mit, an dem Jesus verherrlicht, also zur Wohnstatt des Namens JHWHs wird. Diese Verherrlichung wird in der Sicht des Geistes möglich. Als das „achte“ Zeichen wird der Geist in zwei Aussagen thematisch, die in Joh 14 getätigt werden: „Amen, amen, ich sage euch, der an mich Glaubende, die Werke, die ich tue, auch jener wird (sie) tun, und größere als dieser wird er tun, weil ich zum Vater gehe.“ (Joh 14,12). Unmittelbar daran schließt sich die Ankündigung eines „Fürsprechers“ an, des Parakleten, des „Geistes der Wahrheit, den die Welt nicht aufnehmen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht erkennt“ (Joh 14,17).

Was die erste Aussage betrifft, so wird man das „Größere“ der Werke, welches die an Jesus Glaubenden vollbringen, kaum quantitativ verstehen können (etwa in dem Sinne, dass sie noch mehr Tote auferwecken, Lahme heilen, Menschen mit Brot speisen, Wasser zu Wein wandeln usw.). Vielmehr ist das eigentliche größere Zeichen der Text des Johannes-Evangeliums selbst. In diesem wird die gesamte Tora als Herzstück des Tenach rekapituliert54 und auf die Ankunft der Herrlichkeit des Namens JHWHs hin geöffnet. Wie das JHWH-Tetragramm die Signatur eines Eintritts des Göttlichen in den Text, verbunden mit einer Unterbrechung des noetischen und affektiven Selbstverständnisses des Lesers markiert, so bezeichnet jetzt Jesus als das „Tor der Rettung“ (Joh 10,9) die Öffnung des Lesers und der biblischen Textlandschaft auf die Herrlichkeit des Gottesnamens, der Wohnstatt am gekreuzigten Körper Jesu nimmt. Darin liegt die besondere Bedeutung des Parakleten. Dieser eröffnet, wie Joh 20 anhand der Gestalten von Maria von Magdala (die eine zweimalige Wendung des Blicks erfährt, um dem Auferstandenen zu |45|begegnen), des „anderen Schülers“ und von Thomas darzustellen sucht, die spezifische Sicht darauf, dass es sich beim gekreuzigten Körper nicht um einen positivier- und objektivierbaren Leichnam handelt und dass das Grab nicht makabre Aufbewahrungsstätte verlorenen Lebens ist, sondern dass das Grab auf einen Entzug und eine Abwesenheit verweist (vgl. 20,17), aus der überhaupt erst die tiefere Dimension des Körpers ersichtlich wird. Dessen eigentliche Präsenz besteht in einem Spielraum von Anwesenheit und Abwesenheit, der „ersichtlich“ wird in dem Maß, in dem der „physische“ Körper (falls es so etwas überhaupt gäbe) über sich selbst hinausweist und sich einschreibt in den intersubjektiven, affektiven Körper der Mitempfindenden.

Darüber hinaus ist der Paraklet – als größtes Zeichen! – der Verfasser des Evangeliums, d. h. derjenige, der diesen affektiven Körper in einen Text verwandelt, in dem die gesamte schriftgewordene Heilsgeschichte, d. h. die Bibel, hin auf die Sicht der Herrlichkeit des (Gottes)namens geöffnet wird. Der Paraklet weitet also Jesu Körper zu einem Textkörper, der niemals positiv ausfüllbar ist (Joh 20,30; 21,25: „[…] wenn geschrieben würde, was Jesus tat, nicht, meine ich, könnte die Welt fassen die zu schreibenden Bücher.“), sondern geöffnet bleibt auf einen Zeiten und Räume querenden gemeinsamen affektiven Raum, in dem die Herrlichkeit des JHWH-Namens präsent wird.

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