Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 34

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»Mein ge­lieb­ter, teu­rer Prin­zi­pal,« sag­te er und trock­ne­te sich die schweiß­trie­fen­de Stirn, »hier neh­men Sie, was Sie ge­wünscht ha­ben.« Da­bei reich­te er ihm die Wech­sel hin. »Ja­wohl, ich habe mei­ne Ge­schäfts­la­ge ge­nau ge­prüft, ha­ben Sie kei­ne Angst, ich wer­de zah­len, nur ret­ten Sie, ret­ten Sie Ihre Ehre!«

»Ach, sei­ner war ich ganz si­cher«, rief Cäsa­ri­ne und drück­te krampf­haft Po­pi­nots Hand.

Frau Kon­stan­ze um­arm­te Po­pi­not, der Par­füm­händ­ler rich­te­te sich in die Höhe, wie der Ge­rech­te sich aus dem Gra­be er­hebt, wenn die Po­sau­ne des jüngs­ten Ge­richts er­tönt! Dann streck­te er mit wahn­sin­ni­ger Hast die Hand aus, um die ge­stem­pel­ten Pa­pie­re zu er­grei­fen.

»Ei­nen Au­gen­blick,« sag­te da der furcht­ba­re On­kel Pil­ler­ault und ent­riß Po­pi­not die Wech­sel, »einen Au­gen­blick!«

Und die vier Fa­mi­li­en­glie­der, Cäsar und sei­ne Frau, Cäsa­ri­ne und Po­pi­not, be­stürzt über das Vor­ge­hen und den Ton des On­kels, sa­hen mit Schre­cken, wie er die Wech­sel zer­riß und ins Feu­er warf, ohne daß ihn ei­ner dar­an hin­dern konn­te.

»On­kel!«

»On­kel!«

»On­kel!«

»Herr!«

Die vier Stim­men und die vier Her­zen wur­den in ei­nem ein­zi­gen er­schre­cken­den Zu­sam­men­klang laut. Da faß­te der On­kel Pil­ler­ault Po­pi­not um den Hals, drück­te ihn ans Herz und küß­te ihn auf die Stirn.

»Du bist es wert, daß alle, die ein Herz ha­ben, dich lie­ben. Hät­te ich eine Toch­ter und be­sä­ße sie eine Mil­li­on und du hät­test nichts als das da (da­bei zeig­te er auf die schwar­ze Asche der Wech­sel), so wä­ret ihr, wenn sie dich lieb­te, in vier­zehn Ta­gen Mann und Frau. Dein Prin­zi­pal«, sag­te er und wies auf Cäsar, »ist nicht bei Sin­nen. Lie­ber Nef­fe,« fuhr Pil­ler­ault in erns­tem Tone fort und wand­te sich an den Par­füm­händ­ler, »lie­ber Nef­fe, ma­che dir kei­ne Il­lu­sio­nen mehr! Ge­schäf­te macht man mit Ta­lern, aber nicht mit schö­nen Ge­füh­len. Dies hier war er­ha­ben, aber es nützt nichts. Ich bin zwei Stun­den auf der Bör­se ge­we­sen, du hast nicht mehr für einen Hel­ler Kre­dit: alle re­de­ten über dei­nen Un­ter­gang, über die ver­wei­ger­ten Pro­lon­ga­tio­nen, über dei­ne fehl­ge­schla­ge­nen Bitt­gän­ge zu meh­re­ren Ban­kiers, über dei­ne über­mä­ßi­gen Aus­ga­ben, daß du sechs Stock hin­auf­ge­klet­tert bist, um von ei­nem Haus­be­sit­zer, der schwatz­haft wie eine Els­ter ist, die Pro­lon­ga­ti­on ei­nes Wech­sels über zwölf­hun­dert Fran­ken zu er­bit­ten, über dei­nen Ball, den du ge­ge­ben hast, um dei­ne Ver­le­gen­hei­ten zu be­män­teln. Man ist so­gar so weit ge­gan­gen, zu sa­gen, du ha­best gar nichts bei Ro­guin ste­hen ge­habt. Nach dei­nen Fein­den zu ur­tei­len, ist Ro­guin nur ein Vor­wand. Ei­ner mei­ner Freun­de, den ich be­auf­tragt hat­te, über al­les Er­kun­di­gun­gen ein­zu­zie­hen, hat mei­ne Be­fürch­tun­gen be­stä­tigt. Je­der will be­reits wis­sen, daß Po­pi­not Wech­sel aus­stel­len wird, du hät­test ihn nur eta­bliert, um eine Wech­sel­fa­brik ein­zu­rich­ten. Kurz, alle Ver­leum­dun­gen und bö­sen Nach­re­den, die sich an einen Mann hän­gen, der eine so­zia­le Stu­fe hö­her­stei­gen woll­te, wer­den jetzt in der Han­dels­welt her­um­ge­tra­gen. Du wür­dest acht Tage lang ver­geb­lich Po­pi­nots Wech­sel über die fünf­zig­tau­send Fran­ken in al­len Kon­to­ren an­bie­ten; du wür­dest dich nur de­mü­ti­gen­den Ab­leh­nun­gen aus­set­zen, kein Mensch wür­de sie neh­men wol­len; mit nichts kannst du be­wei­sen, daß nicht noch mehr in be­lie­bi­ger Höhe aus­ge­stellt wer­den, und die Leu­te neh­men an, du woll­test das arme Kind op­fern, um dich zu ret­ten. So wür­dest du ganz um­sonst den Kre­dit der Fir­ma Po­pi­not rui­nie­ren. Weißt du, wie­viel der wag­hal­sigs­te Wu­che­rer dir für die fünf­zig­tau­send Fran­ken bie­ten wür­de? Zwan­zig­tau­send, zwan­zig­tau­send, ver­stehst du? Es kön­nen im Le­ben ei­nes Kauf­manns Zei­ten kom­men, wo er vor den an­dern drei Tage ohne zu es­sen durch­hal­ten muß, als ob er einen ver­dor­be­nen Ma­gen hät­te, dann wird er am vier­ten Tage wie­der zu der Spei­se­kam­mer des Kre­dits zu­ge­las­sen. Du kannst aber die­se drei Tage nicht durch­hal­ten, da­von hängt al­les ab. Mut, mein ar­mer Nef­fe, du mußt Kon­kurs an­mel­den. Hier, Po­pi­not und ich, wir bei­de wer­den uns, so­bald dei­ne Kom­mis schla­fen ge­gan­gen sind, an die Ar­beit ma­chen, da­mit dir die­se Auf­re­gung er­spart bleibt.«

»Aber On­kel«, sag­te der Par­füm­händ­ler und rang die Hän­de.

»Cäsar, willst du eine schmäh­li­che Bilanz vor­le­gen, die kei­ne Ak­ti­va auf­weist? Dein An­teil bei Po­pi­not ret­tet dei­ne Ehre.«

Von die­ser letz­ten ver­häng­nis­vol­len Auf­klä­rung über­zeugt, er­kann­te Cäsar end­lich sei­ne wah­re Lage in ih­rem vol­len Um­fan­ge, fiel wie­der in sei­nen Ses­sel zu­rück und von da auf die Knie, sei­ne Ge­dan­ken ver­wirr­ten sich, er wur­de wie ein Kind; sei­ne Frau, die dach­te, er st­er­be, knie­te nie­der, um ihn auf­zu­he­ben; aber sie be­te­te mit ihm, als sie sah, wie er die Hän­de fal­te­te, die Au­gen nach oben rich­te­te und mit reui­ger Hin­ge­bung in Ge­gen­wart des On­kels, der Toch­ter und Po­pi­nots das er­ha­be­ne Ge­bet der Ka­tho­li­ken sprach:

»Va­ter un­ser, der du bist im Him­mel, ge­hei­li­get wer­de dein Name, zu uns kom­me dein Reich, dein Wil­le ge­sch­ehe wie im Him­mel also auch auf Er­den, un­ser täg­lich Brot gib uns heu­te und ver­gib uns un­se­re Schuld, wie auch wir ver­ge­ben un­sern Schul­di­gern. Amen.«

Dem Stoi­ker Pil­ler­ault tra­ten die Trä­nen in die Au­gen, Cäsa­ri­ne, in Trä­nen auf­ge­löst, hat­te ih­ren Kopf auf Po­pi­nots Schul­ter ge­legt, der bleich und starr wie eine Bild­säu­le da­stand.

»Ge­hen wir hin­un­ter«, sag­te der ehe­ma­li­ge Kauf­mann zu dem jun­gen Mann und nahm ihn beim Arme.

Um halb zwölf Uhr über­lie­ßen sie Cäsar der Sor­ge von Frau und Toch­ter. In die­sem Au­gen­blick er­schi­en Cöles­tin, der wäh­rend der stür­mi­schen Tage, die sich im ge­hei­men ab­spiel­ten, das Ge­schäft lei­te­te, in der Woh­nung und trat in den Sa­lon. Als sie sei­nen Schritt ver­nahm, eil­te Cäsa­ri­ne ihm ent­ge­gen, da­mit er die Nie­der­ge­schla­gen­heit des Prin­zi­pals nicht se­hen soll­te.

»Un­ter der Abend­post«, sag­te er, »be­fin­det sich ein Brief aus Tours mit un­rich­ti­ger Adres­se, der des­halb ver­spä­tet ein­ge­gan­gen ist. Ich nahm an, daß er von Herrn Bi­rot­te­aus Bru­der ist, und habe ihn da­her nicht ge­öff­net.«

»Va­ter,« rief Cäsa­ri­ne, »ein Brief vom On­kel aus Tours.«

»Ach, dann bin ich ge­ret­tet!« schrie Cäsar. »Mein Bru­der! Mein Bru­der!« sag­te er und küß­te den Brief.

Franz’ Ant­wort an Cäsar Bi­rot­teau.

»Tours, den 17. l. M.

»Mein ge­lieb­ter Bru­der, Dein Brief hat mich in leb­haf­te Be­trüb­nis ver­setzt; ich habe da­her, als ich ihn ge­le­sen hat­te, eine Mes­se für Dich ge­le­sen und Gott bei dem Blu­te, das sein Sohn, un­ser himm­li­scher Er­lö­ser, für uns ver­gos­sen hat, an­ge­fleht, einen Blick der Barm­her­zig­keit auf Dei­ne Not zu wer­fen. Als ich das Ge­bet pro meo fra­tre Cae­sa­re sprach, hat­te ich die Au­gen voll Trä­nen in Ge­dan­ken an Dich, von dem ich un­glück­li­cher­wei­se ge­ra­de in den Ta­gen ge­trennt bin, wo Du der Un­ter­stüt­zung brü­der­li­cher Freund­schaft be­darfst. Aber ich den­ke, daß der ver­eh­rungs­wür­di­ge Herr Pil­ler­ault mich Dir si­cher­lich er­set­zen wird. Mein lie­ber Cäsar, ver­giß in Dei­nem Kum­mer nicht, daß das Le­ben dies­seits ein flüch­ti­ges Da­sein vol­ler Prü­fun­gen ist; daß wir ei­nes Ta­ges da­für be­lohnt sein wer­den, daß wir für den hei­li­gen Na­men Got­tes und für die hei­li­ge Kir­che ge­lit­ten ha­ben, weil wir nach ih­ren Vor­schrif­ten tu­gend­haft ge­lebt ha­ben; sonst hät­ten die Din­ge hie­nie­den über­haupt kei­nen Sinn. Ich wie­der­ho­le Dir die­se Grund­sät­ze, weil ich weiß, wie fromm und gut Du bist, denn es kann sol­chen, die wie Du in die Stür­me des Welt­trei­bens und auf das ge­fahr­vol­le Meer der mensch­li­chen In­ter­es­sen­kämp­fe hin­aus­ge­wor­fen sind, bei­kom­men, in­mit­ten ih­rer Nöte und vom Schmerz hin­ge­ris­sen, Ver­wün­schun­gen aus­zu­sto­ßen. Du darfst we­der den Men­schen flu­chen, die Dich be­lei­di­gen, noch Gott läs­tern, der nach sei­ner Weis­heit Dir Bit­ter­nis­se auf­er­legt hat. Sieh nicht auf das Ir­di­sche, son­dern er­he­be Dei­ne Au­gen zum Him­mel; von da­her kommt der Trost der Schwa­chen, dort ist der Reich­tum der Ar­men, dort die Ver­damm­nis der Rei­chen …«

»Aber, Bi­rot­teau,« sag­te sei­ne Frau, »über­geh das doch und sieh nach, ob er uns et­was schickt.«

»Wir wer­den den Brief noch oft le­sen«, er­wi­der­te der Kauf­mann, in­dem er sei­ne Trä­nen trock­ne­te, und fal­te­te das Schrei­ben aus­ein­an­der, aus dem eine An­wei­sung auf die Staats­kas­se her­aus­fiel. »Ich wuß­te, daß ich auf dich rech­nen konn­te, mein gu­ter Bru­der«, sag­te Bi­rot­teau und hob die An­wei­sung auf.

»… Ich bin zu Frau von Li­stomè­re ge­gan­gen«, las er, von Schluch­zen un­ter­bro­chen, wei­ter, »und habe sie, ohne ihr den Grund für mein An­su­chen mit­zu­tei­len, ge­be­ten, mir al­les, wor­über sie für mich ver­fü­gen kön­ne, zu lei­hen, um da­mit den Be­trag mei­ner Er­spar­nis­se er­hö­hen zu kön­nen. Ihre Groß­mut hat mir ge­stat­tet, eine Sum­me von tau­send Fran­ken zu­sam­men­zu­brin­gen, die ich Dir in ei­ner An­wei­sung des Ge­ne­ral­steuer­ein­neh­mers von Tours auf die Staats­kas­se über­sen­de.«

»Eine schö­ne Hil­fe!« sag­te Kon­stan­ze und sah Cäsa­ri­ne an.

»In­dem ich mir ei­ni­ges Über­flüs­si­ge in mei­ner Le­bens­hal­tung ver­sa­ge, wer­de ich im­stan­de sein, Frau von Li­stomè­re in drei Jah­ren die vier­hun­dert Fran­ken, die sie mir ge­lie­hen hat, zu­rück­zu­zah­len, Du brauchst Dich also des­we­gen nicht zu be­un­ru­hi­gen, lie­ber Cäsar. Ich schi­cke Dir al­les, was ich auf der Welt be­sit­ze, und wün­sche, daß die­se Sum­me Dir zu ei­ner glück­li­chen Lö­sung in Dei­ner ge­schäft­li­chen Ver­le­gen­heit ver­hel­fen möge, die si­cher­lich nur vor­über­ge­hend ist. Da ich Dein Zart­ge­fühl ken­ne, will ich Dei­nen Ein­wür­fen zu­vor­kom­men. Du darfst we­der dar­an den­ken, mir Zin­sen zu zah­len, noch mir den Be­trag zu­rück­zu­ge­ben, wenn Du wie­der in gu­ten Ver­hält­nis­sen sein wirst, was ja nicht lan­ge auf sich war­ten las­sen wird, wenn Gott mein Ge­bet er­hört, das ich täg­lich an ihn rich­te. Nach mei­nem letz­ten Be­such vor zwei Jah­ren habe ich Dich für einen rei­chen Mann ge­hal­ten und glaub­te, über mei­ne Er­spar­nis­se zu­guns­ten der Ar­men ver­fü­gen zu kön­nen; jetzt je­doch ge­hört al­les, was ich habe, Dir. Wenn Du Dein Schiff an die­ser Klip­pe vor­bei­ge­steu­ert ha­ben wirst, dann be­wah­re den Be­trag für mei­ne Nich­te Cäsa­ri­ne auf, da­mit sie, wenn sie ver­hei­ra­tet sein wird, sich ir­gend­ei­ne Klei­nig­keit da­für an­schafft, die sie an ih­ren al­ten On­kel er­in­nert, des­sen Hän­de sich im­mer zum Him­mel er­he­ben wer­den, um Got­tes Se­gen auf sie und alle, die ihr teu­er sind, her­ab­zu­fle­hen. Be­den­ke schließ­lich, mein lie­ber Cäsar, daß ich ein ar­mer Pries­ter bin, der mit Got­tes Hil­fe da­hin­lebt, wie die Ler­chen auf dem Fel­de, der sei­nen Weg wan­delt in der Stil­le, den Vor­schrif­ten un­se­res himm­li­schen Hei­lands zu ge­hor­chen sucht und der da­her we­nig zum Le­ben braucht. Ma­che Dir da­her in der schwie­ri­gen Lage, in der Du Dich be­fin­dest, nur ja kei­ne Ge­wis­sens­bis­se und den­ke an mich als an einen, der Dich von Her­zen liebt. Un­ser vor­treff­li­cher Abbé Cha­pe­loud, dem ich nichts von Dei­ner Lage ge­sagt habe, weiß, daß ich an Dich schrei­be, und hat mich be­auf­tragt, die freund­lichs­ten Grü­ße an alle Mit­glie­der Dei­ner Fa­mi­lie zu über­mit­teln und Dir wei­te­ren Wohl­stand zu wün­schen. Leb wohl, lie­ber, teu­rer Bru­der, ich bete zu Gott, daß er Dir in Dei­ner Lage die Gna­de er­wei­sen möge, Dich bei gu­ter Ge­sund­heit zu er­hal­ten, Dich, Dei­ne Frau und Dei­ne Toch­ter; ich wün­sche Euch al­len Ge­duld und Mut bei al­len Wi­der­wär­tig­kei­ten.

Franz Bi­rot­teau,

Pries­ter, Vi­kar an der Ka­the­dral- und Par­ochi­al­kir­che von Saint-Ga­ti­en in Tours.«

»Tau­send Fran­ken!« sag­te Frau Bi­rot­teau miß­mu­tig.

»Be­wah­re sie auf,« er­wi­der­te Cäsar ernst, »er be­sitzt nicht mehr. Im üb­ri­gen ge­hö­ren sie un­se­rer Toch­ter und sol­len uns zum Le­bens­un­ter­halt die­nen, ohne daß wir et­was von un­se­ren Gläu­bi­gern zu er­bit­ten brau­chen.«

»Dann wer­den sie den­ken, daß du ih­nen er­heb­li­che Be­trä­ge vor­ent­hal­ten hast.«

»Ich wer­de ih­nen den Brief zei­gen.«

»Sie wer­den ihn für be­stell­te Ar­beit er­klä­ren.«

»Mein Gott, mein Gott!« rief Bi­rot­teau er­schro­cken aus. »So habe ich auch über arme Men­schen ge­dacht, die si­cher­lich in der­sel­ben Lage wa­ren, in der ich mich be­fin­de.«

Sehr in Sor­ge über Cäsars Zu­stand sa­ßen Mut­ter und Toch­ter, mit Hand­ar­bei­ten be­schäf­tigt, in tie­fem Schwei­gen bei ihm. Ge­gen zwei Uhr mor­gens öff­ne­te Po­pi­not lei­se die Tür des Sa­lons und wink­te Frau Bi­rot­teau, daß sie hin­un­ter kom­men sol­le. Als er sei­ne Nich­te her­ein­tre­ten sah, nahm der On­kel sei­ne Bril­le ab.

»Es gibt noch eine Hoff­nung, mein Kind,« sag­te er, »es ist noch nicht al­les ver­lo­ren; aber dein Mann wür­de die schwan­ken­den Chan­cen der er­for­der­li­chen Un­ter­hand­lun­gen nicht aus­hal­ten; des­halb wer­den An­selm und ich den Ver­such un­ter­neh­men. Ver­laß mor­gen den La­den nicht und no­tie­re alle prä­sen­tier­ten Wech­sel, wir ha­ben bis vier Uhr Zeit. Mein Plan ist fol­gen­der: We­der von Herrn Ra­gon noch von mir habt ihr et­was zu be­fürch­ten. Neh­men wir jetzt an, daß eure bei Ro­guin de­po­niert ge­we­se­nen hun­dert­tau­send Fran­ken den Ter­rain­ver­käu­fern wür­den aus­ge­zahlt wor­den sein, so hät­tet ihr sie eben­so­we­nig ge­habt, wie ihr sie jetzt habt. Ihr habt je­den­falls Wech­sel über hun­dert­vier­zig­tau­send Fran­ken aus­ge­stellt und Cla­paron ge­ge­ben, die ihr in je­dem Fal­le ein­zu­lö­sen habt. Es ist also nicht der Bank­rott Ro­gu­ins, der euch zu­grun­de rich­tet. Um eu­ren Ver­pflich­tun­gen nach­zu­kom­men, habt ihr vier­zig­tau­send Fran­ken, mit de­nen ihr frü­her oder spä­ter eure Fa­brik be­lei­hen las­sen könnt, und sech­zig­tau­send Fran­ken Wech­sel von Po­pi­not. Man könn­te also den Kampf ver­su­chen, denn spä­ter könnt ihr ein Dar­le­hen auf die Ter­rains an der Ma­de­lei­ne auf­neh­men. Wenn da­her euer Haupt­gläu­bi­ger be­reit wäre, euch zu hel­fen, so will ich mein Ver­mö­gen her­ge­ben, mei­ne Ren­ten ver­kau­fen und ohne Ein­kom­men sein. Po­pi­not wird zwi­schen Le­ben und Ster­ben schwe­ben und euch kann die ge­rings­te ge­schäft­li­che Schwie­rig­keit um­wer­fen. Aber das Öl wird un­zwei­fel­haft großen Ge­winn ab­wer­fen. Po­pi­not und ich sind über­ein­ge­kom­men, daß wir euch bei die­sem Kampf un­ter­stüt­zen wol­len. Ach, ich will gern trock­nes Brot es­sen, wenn ich einen Ret­tungs­schim­mer am Ho­ri­zont er­bli­cken könn­te. Aber al­les hängt von Gi­gon­net und Cla­paron und Ge­nos­sen ab. Po­pi­not und ich wer­den zwi­schen sie­ben und acht Uhr zu Gi­gon­net ge­hen und in Er­fah­rung brin­gen, was wir zu er­war­ten ha­ben.«

Kon­stan­ze fiel er­schüt­tert dem On­kel um den Hals und konn­te nichts her­vor­brin­gen als Trä­nen und Schluch­zen. We­der Po­pi­not noch Pil­ler­ault konn­ten ah­nen, daß Bi­dault, ge­nannt Gi­gon­net, und Cla­paron nur du Til­let in dop­pel­ter Ge­stalt wa­ren, und daß du Til­let durch­aus un­ter »Ver­misch­tem« die furcht­ba­re No­tiz le­sen woll­te:

»Durch Ur­teil des Han­dels­ge­richts wur­de Herr Cäsar Bi­rot­teau, Par­füm­händ­ler, wohn­haft in Pa­ris, Rue Saint-Ho­noré Nr. 397, für bank­rott er­klärt und die Er­öff­nung des Kon­kur­ses auf den 16. Ja­nu­ar 1819 fest­ge­setzt. Kom­missa­ri­scher Rich­ter: Herr Go­ben­heim-Kel­ler, Agent: Herr Mo­li­neux.«

An­selm und Pil­ler­ault ar­bei­te­ten an den Ge­schäfts­bü­chern Cäsars bis zum Mor­gen. Um acht Uhr be­ga­ben sich die bei­den hel­den­mü­ti­gen Freun­de, der eine ein al­ter Sol­dat, der an­de­re ein jun­ger Un­ter­leut­nant, die die fürch­ter­li­che Angst der­je­ni­gen, wel­che die Trep­pe zu Bi­dault, ge­nannt Gi­gon­net, hin­auf­stei­gen muß­ten, nur in Ver­tre­tung ken­nen­ler­nen soll­ten, ohne ein Wort mit­ein­an­der zu wech­seln, nach der Rue Grenétat. Bei­den war schmerz­lich zu­mu­te. Wie­der­holt strich sich Pil­ler­ault über die Stirn.

Die Rue Grenétat ist eine Stra­ße, de­ren sämt­li­che Häu­ser, die eine Men­ge von Ge­schäf­ten ent­hal­ten, einen ab­schre­cken­den An­blick ge­wäh­ren. Die Ge­bäu­de sind schau­der­haft. Über­all zeigt sich die häß­li­che Unsau­ber­keit der Fa­bri­ken. Der alte Gi­gon­net be­wohn­te die drit­te Eta­ge ei­nes Hau­ses mit lau­ter Schie­be­fens­tern und klei­nen schmut­zi­gen Schei­ben. Die Trep­pe be­gann di­rekt an der Stra­ße, die Por­tier­lo­ge be­fand sich in ei­nem Ver­schla­ge im Zwi­schen­ge­schoß, der nur von der Trep­pe her Licht er­hielt. Ab­ge­se­hen von Gi­gon­net be­trie­ben sämt­li­che Mie­ter ein Ge­wer­be. Be­stän­dig gin­gen Ar­bei­ter aus und ein. Die Stu­fen wa­ren mit ei­ner Schicht har­ten oder wei­chen Schmut­zes, je nach dem Wet­ter, be­deckt, ein Un­flat, der sich dort stän­dig er­hielt. Auf je­dem Ab­satz der stin­ken­den Trep­pe wa­ren die Na­men der Ge­wer­be­trei­ben­den mit ver­gol­de­ten Buch­sta­ben auf rot­la­ckier­tem Blech nebst Pro­ben ih­rer Meis­ter­wer­ke an­ge­bracht. Den größ­ten Teil des Ta­ges ge­währ­ten die of­fen ste­hen­den Tü­ren einen Ein­blick in die ei­gen­ar­ti­ge Mi­schung von Werk­statt und Haus­halt, aus der ein un­glaub­li­ches Ge­lär­me, Ge­schrei, Ge­sin­ge und Ge­pfei­fe her­vor­drang, das an die Stun­de der Nach­mit­tags­füt­te­rung der Tie­re im Zoo­lo­gi­schen Gar­ten er­in­ner­te. Im ers­ten Stock wur­den in ei­nem ekel­haf­ten Loch die schöns­ten Ho­sen­trä­ger von Pa­ris her­ge­stellt; im zwei­ten, in­mit­ten von wi­der­wär­ti­gem Schmutz, die ele­gan­tes­ten Kar­tons, die zu Neu­jahr die Schau­fens­ter der Bou­le­vards und des Palais Roy­al zie­ren. Gi­gon­net starb, im Be­sit­ze ei­nes Ver­mö­gens von ei­ner Mil­li­on acht­hun­dert­tau­send Fran­ken, in der drit­ten Eta­ge die­ses Hau­ses, ohne daß ihn ir­gend et­was hät­te be­we­gen kön­nen, sie zu ver­las­sen, trotz des Aner­bie­tens der Frau Sail­lard, sei­ner Nich­te, ihm eine Woh­nung in ei­nem Hau­se des Palais Roy­al zur Ver­fü­gung zu stel­len.

»Mut«, sag­te Pil­ler­ault, als er an dem Reh­fuß zog, der an ei­ner Schnur an der grau­en sau­be­ren Tür Gi­gon­nets hing.

Gi­gon­net öff­ne­te selbst. Die bei­den Be­schüt­zer des auf dem Schlacht­feld der Bank­rot­teu­re kämp­fen­den Par­füm­händ­lers schrit­ten zu­erst durch ein nüch­ter­nes, kal­tes Zim­mer ohne Vor­hän­ge an den Fens­tern. Dann nah­men alle drei im zwei­ten Zim­mer Platz, der Wu­che­rer vor ei­nem Ka­min voll Asche, in der sich Holz ge­gen das Feu­er wehr­te. Po­pi­not wur­de eis­kalt beim An­blick der grü­nen Map­pen des Wu­che­rers und der mön­chi­schen Kahl­heit die­ses Zim­mers mit sei­ner Kel­ler­luft. Er be­trach­te­te mit star­rem Aus­druck die bläu­li­che Ta­pe­te mit drei­far­bi­gem Blu­men­mus­ter, mit der die Wän­de seit zwan­zig Jah­ren be­klebt wa­ren, und wand­te sei­ne trau­ri­gen Au­gen dann dem Ka­min zu, auf dem eine Uhr in Ly­ra­form und läng­li­che Va­sen aus blau­em Sèvre­spor­zel­lan mit rei­chen ver­gol­de­ten Kup­fer­ver­zie­run­gen stan­den. Die­ses Strand­gut, das Gi­gon­net bei dem Schiff­bruch von Ver­sail­les, als der Pö­bel al­les zer­stör­te, auf­ge­le­sen hat­te, stamm­te aus dem Bou­doir der Kö­ni­gin; aber ne­ben die­se kost­ba­ren Va­sen wa­ren zwei Leuch­ter elen­des­ter Sor­te aus Schmie­de­ei­sen ge­stellt, die durch ih­ren schrei­en­den Kon­trast dar­an er­in­ner­ten, wel­chem Um­stän­de man sie zu ver­dan­ken hat­te.

»Ich weiß, daß Sie nicht Ihret­we­gen kom­men kön­nen,« sag­te Gi­gon­net, »Sie kom­men für den großen Bi­rot­teau. Nun, was gibt es, mei­ne lie­ben Her­ren?«

»Ich sehe, daß man Ih­nen nichts zu er­klä­ren braucht, wir wer­den also kurz sein,« sag­te Pil­ler­ault, »Sie ha­ben Wech­sel an die Or­der von Cla­paron in Hän­den?«

»Ja.«

»Wol­len Sie fünf­zig­tau­send Fran­ken da­von ge­gen Wech­sel des Herrn Po­pi­not hier ein­tau­schen, wohl ver­stan­den mit ei­nem Ab­zug?«

Gi­gon­net nahm sei­ne scheuß­li­che grü­ne Müt­ze ab, die man für an­ge­wach­sen hät­te hal­ten kön­nen, zeig­te auf sei­nen kah­len Schä­del von der Far­be fri­scher But­ter, ver­zog sein Ge­sicht zu ei­ner Gri­mas­se wie Vol­taire und sag­te: »Wenn Sie mich mit Haar­öl be­zah­len wol­len, was soll ich da­mit an­fan­gen?«

»Wenn Sie scher­zen wol­len, dann kön­nen wir uns zu­rück­zie­hen«, sag­te Pil­ler­ault.

»Sie re­den wie ein Wei­ser, der Sie ja auch sind«, sag­te Gi­gon­net mit schmei­chel­haf­tem Lä­cheln.

»Nun, und wenn ich die Wech­sel des Herrn Po­pi­not gi­rie­ren wür­de?« sag­te Pil­ler­ault, in­dem er einen letz­ten An­griff ver­such­te.

»Sie sind so gut wie un­ge­münz­tes Gold, Herr Pil­ler­ault, aber ich brau­che kein Gold, ich will bloß mein Geld ha­ben.«

Pil­ler­ault und Po­pi­not grüß­ten und ent­fern­ten sich. Am Fuße der Trep­pe wank­ten Po­pi­not noch die Bei­ne.

»Ist das ein Mensch?« sag­te er zu Pil­ler­ault.

»Man be­haup­tet es«, er­wi­der­te der Alte. »Be­hal­te die­se kur­ze Be­spre­chung für im­mer im Ge­dächt­nis, An­selm! Du hast hier das Bank­we­sen ohne die Tün­che sei­ner lie­bens­wür­di­gen äu­ße­ren For­men zu Ge­sicht be­kom­men. Uner­war­te­te Er­eig­nis­se sind die Schrau­be an der Kel­ter, wir sind die Trau­ben und die Ban­kiers sind die Bot­ti­che. Das Ter­rain­ge­schäft ist si­cher gut; Gi­gon­net oder ei­ner sei­ner Hin­ter­män­ner wol­len Cäsar er­wür­gen und sich sei­ner Haut be­mäch­ti­gen: da­mit ist al­les ge­sagt, eine Hil­fe ist un­mög­lich. So ist die Bank­welt, wen­de dich nie­mals an sie!«

Nach dem schreck­li­chen Vor­mit­tag, an dem Frau Bi­rot­teau zum ers­ten­mal die Adres­sen der Leu­te, die ihr Geld ho­len woll­ten, no­tie­ren und den Bank­bo­ten ohne Zah­lung zu­rück­schi­cken muß­te, sah die tap­fe­re Frau, die glück­lich war, ih­rem Man­ne die­sen Jam­mer er­spa­ren zu kön­nen, um elf Uhr Pil­ler­ault und Po­pi­not zu­rück­kom­men, auf die sie mit im­mer wach­sen­der Angst ge­war­tet hat­te; sie las die Ent­schei­dung auf ih­ren Ge­sich­tern. Die An­mel­dung des Kon­kur­ses war un­ver­meid­lich ge­wor­den.

»Der Kum­mer wird ihn tö­ten«, sag­te die arme Frau.

»Ich möch­te es ihm wün­schen,« sag­te Pil­ler­ault ernst, »aber er ist so fromm, daß un­ter die­sen Um­stän­den nur sein Beicht­va­ter, der Abbé Loraux, ihm hel­fen kann.«

Pil­ler­ault, Po­pi­not und Kon­stan­ze war­te­ten, bis ein Kom­mis den Abbé Loraux ge­holt hat­te, be­vor sie die Bilanz, die Cöles­tin fer­tig­ge­stellt hat­te, Cäsar zur Un­ter­schrift vor­le­gen woll­ten. Die Kom­mis wa­ren in Verzweif­lung, denn sie ver­ehr­ten ih­ren Prin­zi­pal. Um vier Uhr er­schi­en der gute Pries­ter, Kon­stan­ze setz­te ihn in Kennt­nis von dem Un­glück, das über sie her­ein­ge­bro­chen war, und der Abbé ging hin­auf, wie ein Sol­dat, der auf die Bre­sche steigt.

»Ich weiß, wes­halb Sie kom­men«, rief ihm Bi­rot­teau ent­ge­gen.

»Mein Sohn,« sag­te der Pries­ter, »Ihre Er­ge­ben­heit in den Wil­len Got­tes ist mir seit lan­gem be­kannt; jetzt han­delt es sich dar­um, sie auch zu be­tä­ti­gen; hal­ten Sie Ihren Blick im­mer auf das Kreuz ge­rich­tet, hö­ren Sie nicht auf, es an­zu­schau­en, und den­ken Sie da­bei an die De­mü­ti­gun­gen, mit de­nen der Er­lö­ser der Mensch­heit ge­prüft wor­den ist. Den­ken Sie an die Angst­ge­füh­le sei­ner Pas­si­on, dann wer­den Sie die Krän­kun­gen, die Gott über Sie ver­hängt hat, bes­ser er­tra­gen kön­nen …«

»Mein Bru­der, der Abbé, hat mich schon dar­auf vor­be­rei­tet«, sag­te Cäsar und zeig­te den Brief, den er von neu­em ge­le­sen hat­te, sei­nem Beicht­va­ter.

»Sie ha­ben einen gu­ten Bru­der,« sag­te Loraux, »eine tu­gend­haf­te, lie­be­vol­le Frau, eine zärt­li­che Toch­ter, zwei ech­te Freun­de, Ihren On­kel und den gu­ten An­selm, zwei nach­sich­ti­ge Gläu­bi­ger, die Ra­g­ons; alle die­se gu­ten Her­zen wer­den be­stän­dig Bal­sam auf Ihre Wun­den gie­ßen und Ih­nen Ihr Kreuz tra­gen hel­fen. Ver­spre­chen Sie mir, die Stand­haf­tig­keit ei­nes Mär­ty­rers zu zei­gen und den Schlag zu er­tra­gen, ohne schwach zu wer­den.« Der Abbé hus­te­te, um Pil­ler­ault an­zu­zei­gen, daß er im Sa­lon sei.

»Mei­ne Er­ge­bung ist un­be­grenzt«, sag­te Cäsar ru­hig. »Die Uneh­re ist da, ich darf an nichts an­de­res den­ken, als mei­ne Ehre wie­der her­zu­stel­len.«

Der Ton des ar­men Par­füm­händ­lers und sein Aus­se­hen über­rasch­ten Cäsa­ri­ne und den Pries­ter. Gleich­wohl war nichts na­tür­li­cher. Alle Men­schen er­tra­gen eher ein fest­ste­hen­des, un­ab­än­der­li­ches Un­glück als die schreck­li­che Un­ge­wiß­heit ei­nes Schick­sals, das sie von ei­nem Au­gen­blick zum an­dern zwi­schen höchs­ter Freu­de und tiefs­tem Jam­mer hin und her schwan­ken läßt.

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

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