Читать книгу Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Оноре де'Бальзак, Honoré de Balzac, Balzac - Страница 38

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Seit die­sem denk­wür­di­gen Tage führ­ten Cäsar, sei­ne Frau und sei­ne Toch­ter ihr Le­ben in volls­tem Ein­ver­neh­men. Der arme An­ge­stell­te woll­te ein, wenn auch nicht un­mög­li­ches, so doch un­ge­heu­res Er­geb­nis er­zie­len: die vol­le Be­zah­lung sei­ner Schul­den! Die­se drei Men­schen, durch das Ge­fühl der glei­chen strengs­ten Red­lich­keit ver­bun­den, wur­den gei­zig und ver­sag­ten sich al­les; je­der Hel­ler war ih­nen hei­lig. Mit vol­ler Ab­sicht wid­me­te sich Cäsa­ri­ne ih­rem Ge­schäft mit der hin­ge­ben­den Schwär­me­rei ei­nes jun­gen Mäd­chens. Sie ver­brach­te die Näch­te, in­dem sie sich den Kopf dar­über zer­brach, wie dem Ge­schäft zu ei­nem wei­te­ren Auf­schwung ver­hol­fen wer­den kön­ne; sie er­fand neue Stoff­mus­ter und ent­fal­te­te ihre an­ge­bo­re­ne kauf­män­ni­sche Be­ga­bung in ge­nia­ler Wei­se. Die Ge­schäfts­in­ha­ber wa­ren ge­nö­tigt, ih­ren Ar­beitsei­fer zu zü­geln, und be­lohn­ten ihn mit Gra­ti­fi­ka­tio­nen; aber wenn sie ihr Putz und Schmuck­sa­chen schen­ken woll­ten, so lehn­te sie ab, sie woll­te nur Geld! Je­den Mo­nat brach­te sie ihr Ge­halt und ihre klei­nen Son­der­ge­win­ne ih­rem On­kel Pil­ler­ault, und eben­so mach­te es Cäsar und eben­so sei­ne Frau. Da alle drei sich nicht für ge­schickt ge­nug hiel­ten und kei­ner al­lein die Verant­wor­tung für eine gute An­la­ge ih­rer Er­spar­nis­se über­neh­men woll­te, so hat­ten sie Pil­ler­ault die end­gül­ti­ge Ent­schei­dung dar­über über­tra­gen. Wie­der zum Kauf­mann ge­wor­den, leg­te der On­kel das Geld in Bör­sen­ge­schäf­ten an. Spä­ter wur­de be­kannt, daß er da­bei von Ju­les Des­ma­rets und Jo­seph Le­bas un­ter­stützt wor­den war, die sich bei­de be­müht hat­ten, ihm si­che­re An­la­gen nach­zu­wei­sen. Der ehe­ma­li­ge Par­füm­händ­ler, der bei sei­nem On­kel leb­te, wag­te nicht, ihn über die Un­ter­brin­gung des Gel­des, das durch sei­ne, sei­ner Frau und sei­ner Toch­ter Ar­beit er­wor­ben wur­de, zu be­fra­gen. Ge­senk­ten Haup­tes ging er über die Stra­ße und ver­such­te, sein nie­der­ge­schla­gens, ent­stell­tes, stumpf ge­wor­de­nes Ge­sicht al­len Bli­cken zu ent­zie­hen. Er mach­te sich so­gar Vor­wür­fe, daß er gute Stof­fe trug.

»We­nigs­tens«, pfleg­te er zu sa­gen und blick­te dank­bar auf den On­kel, »brau­che ich nicht das Brot mei­ner Gläu­bi­ger zu es­sen. Das Brot, das Sie mir ge­ben, wenn es auch nur aus Mit­leid mit mir ge­schieht, schmeckt mir süß, wenn ich be­den­ke, daß dank die­ser himm­li­schen Güte ich nichts von mei­nem Ge­halt weg­zu­neh­men brau­che.« Die Kauf­leu­te, die dem An­ge­stell­ten be­geg­ne­ten, konn­ten kei­ne Spur mehr von dem al­ten Par­füm­händ­ler wahr­neh­men. Die Gleich­gül­tigs­ten be­ka­men einen un­ge­heu­ren Be­griff von dem Sturz der Men­schen aus ih­rer Höhe, wenn sie das Ge­sicht die­ses Man­nes an­sa­hen, in das der schwär­zes­te Kum­mer sei­ne Zei­chen ge­gra­ben hat­te, und das von dem, was es nie­mals frü­her be­schäf­tigt hat­te, zer­stört wur­de: vom Nach­den­ken! Zer­stört aber wird nur der, der sich nicht da­ge­gen sträu­ben will. Leicht­le­bi­gen, ge­wis­sen­lo­sen Leu­ten wird man nie­mals ihr Un­glück an­mer­ken. Das re­li­gi­öse Ge­fühl al­lein ver­mag nie­der­ge­wor­fe­nen Exis­ten­zen sei­nen be­son­de­ren Stem­pel auf­zu­drücken; die­se glau­ben an eine Zu­kunft, an eine Vor­se­hung; es schwebt ein Leuch­ten über ih­nen, das kenn­zeich­nend ist, eine Art from­mer Er­ge­bung mit Hoff­nung ver­mischt, die rüh­rend ist; sie wis­sen, was sie al­les ver­lo­ren ha­ben, wie der ge­fal­le­ne En­gel, der an der Pfor­te des Him­mels weint. Kri­da­re dür­fen nicht an der Bör­se er­schei­nen. Cäsar, aus der Ge­sell­schaft der voll­be­rech­tig­ten Kauf­leu­te aus­ge­sto­ßen, bot das Bild des am Him­mel­stor um Gna­de fle­hen­den En­gels dar. Vier­zehn Mo­na­te hin­durch from­men Grü­belei­en über sein Un­glück hin­ge­ge­ben, ver­sag­te sich Cäsar je­des Ver­gnü­gen. Ob­gleich der un­ver­än­der­ten Freund­schaft der Ra­g­ons si­cher, war es un­mög­lich, ihn zu be­we­gen, zu ih­nen zum Di­ner zu kom­men, eben­so­we­nig wie zu Le­bas, den Ma­ti­fats, den Pro­tez und Chif­fre­vil­les, nicht ein­mal zu Herrn Vau­que­lin, die alle be­müht wa­ren, Cäsars her­vor­ra­gen­dem Ver­hal­ten Ehre zu er­wei­sen. Er zog es vor, al­lein in sei­nem Zim­mer zu blei­ben, um nicht ei­nem sei­ner Gläu­bi­ger un­ter die Au­gen tre­ten zu müs­sen. Das wärms­te Ent­ge­gen­kom­men sei­ner Freun­de er­in­ner­te ihn im­mer wie­der bit­ter an sei­ne Lage. Auch Kon­stan­ze und Cäsa­ri­ne gin­gen nir­gends hin. An Sonn- und Fest­ta­gen, den ein­zi­gen, wo sie frei wa­ren, hol­ten die bei­den Frau­en Cäsar zur Mes­se ab und leis­te­ten ihm, nach Er­fül­lung der re­li­gi­ösen Pf­lich­ten, Ge­sell­schaft bei Pil­ler­ault. Die­ser lud dann den Abbé Loraux ein, des­sen Wor­te Cäsar in sei­nen Prü­fun­gen auf­recht er­hiel­ten, und so blie­ben sie im engs­ten Krei­se zu­sam­men. Der ehe­ma­li­ge Ei­sen­händ­ler war selbst im Punk­te der Ehren­haf­tig­keit zu emp­find­lich, als daß er Cäsars Fein­ge­fühl miß­bil­ligt hät­te. Des­halb sann er dar­auf, die An­zahl der Per­so­nen zu ver­grö­ßern, vor de­nen sich der Kri­dar mit frei­em Blick und er­ho­be­nem Haup­te zei­gen konn­te.

Im Mo­nat Mai des Jah­res 1820 wur­de die­se ge­gen das Un­glück kämp­fen­de Fa­mi­lie für ihre An­stren­gun­gen mit ei­ner Fest­lich­keit be­lohnt, mit der sie der Lei­ter ih­res Ge­schicks über­ra­schen woll­te. Der letz­te Sonn­tag die­ses Mo­nats war der Jah­res­tag von Kon­stan­zes Ver­lo­bung mit Cäsar. Pil­ler­ault hat­te im Ein­ver­ständ­nis mit Ra­gon ein klei­nes Land­haus in Sceaux ge­mie­tet und der frü­he­re Ei­sen­händ­ler woll­te dort das Ein­wei­hungs­fest ge­ben.

»Cäsar,« sag­te Pil­ler­ault zu sei­nem Nef­fen am Sonn­abend Abend, »mor­gen ge­hen wir aufs Land und du wirst mit­kom­men.«

Cäsar, der eine vor­treff­li­che Hand schrieb, mach­te abends Ab­schrif­ten für Der­ville und ei­ni­ge an­de­re Ad­vo­ka­ten. Auch am Sonn­tag ar­bei­te­te er, mit kirch­li­chem Dis­pens, wie ein Skla­ve dar­an.

»Nein,« ant­wor­te­te er, »Herr Der­ville war­tet auf eine Vor­mund­schafts­ab­rech­nung.«

»Dei­ne Frau und dei­ne Toch­ter ver­die­nen wohl eine Be­loh­nung. Du fin­dest auch nur un­se­re Freun­de drau­ßen: den Abbé Loraux, die Ra­g­ons, Po­pi­not und sei­nen On­kel. Im üb­ri­gen wün­sche ich es.«

Cäsar und sei­ne Frau wa­ren bei dem Ge­trie­be ih­rer Ge­schäf­te nie­mals wie­der nach Sceaux ge­kom­men, ob­gleich sie bei­de von Zeit zu Zeit den Wunsch hat­ten, dort den Baum wie­der­zu­se­hen, un­ter dem der ers­te Kom­mis der Ro­sen­kö­ni­gin vor Glück bei­na­he ohn­mäch­tig ge­wor­den war. Wäh­rend der Fahrt, die Cäsar mit Frau und Toch­ter im Wa­gen sit­zend mach­te, den Po­pi­not kut­schier­te, warf Kon­stan­ze ih­rem Man­ne Bli­cke des Ein­ver­ständ­nis­ses zu, ohne je­doch ein Lä­cheln auf sei­ne Lip­pen her­vor­zau­bern zu kön­nen. Sie flüs­ter­te ihm ei­ni­ge Wor­te zu, aber er schüt­tel­te statt al­ler Ant­wort nur den Kopf. Der lie­be­vol­le Aus­druck zärt­li­cher Emp­fin­dung, der, wenn auch er­zwun­gen, so doch un­er­schüt­ter­lich in ih­rem Bli­cke leuch­te­te, mach­te Cäsars Ge­sicht, an­statt es auf­zu­hel­len, nur noch trüber und ließ ihm die zu­rück­ge­hal­te­nen Trä­nen in die Au­gen tre­ten. Vor zwan­zig Jah­ren hat­te der arme Mann den­sel­ben Weg als ein wohl­ha­ben­der, hoff­nungs­freu­di­ger jun­ger Mensch ge­macht, der in ein jun­ges Mäd­chen ver­liebt war, eben­so schön wie jetzt Cäsa­ri­ne; da­mals träum­te er von Glück, und heu­te saß er im Wa­gen, vor ihm sein ed­les Kind, bleich von durch­wach­ten Näch­ten, und sei­ne tap­fe­re Frau, de­ren Schön­heit da­hin­ge­schwun­den war, wie die von Städ­ten, über die die Lava ei­nes Vul­kans sich er­gos­sen hat. Nur die Lie­be war die alte ge­blie­ben! Cäsars Hal­tung dämpf­te die Freu­de im Her­zen sei­ner Toch­ter und An­selms, die für ihn das reiz­vol­le Einst ver­ge­gen­wär­tig­ten.

»Seid glück­lich, Kin­der, ihr habt ein Recht dar­auf«, sag­te der arme Va­ter mit herz­zer­rei­ßen­dem Tone. »Ihr könnt euch in al­ler Sorg­lo­sig­keit lie­ben«, füg­te er hin­zu.

Als er die­se Wor­te sag­te, hat­te Bi­rot­teau die Hän­de sei­ner Frau er­grif­fen und küß­te sie mit so an­dachts­vol­ler Ver­eh­rung, daß Kon­stan­ze mehr da­durch be­wegt wur­de als durch die leb­haf­tes­te Freu­de. Als sie bei dem Land­hau­se an­lang­ten, wur­den sie von Pil­ler­ault, den Ra­g­ons, dem Abbé Loraux und dem Rich­ter Po­pi­not mit Bli­cken und Be­grü­ßun­gen so emp­fan­gen, daß Cäsar sich wohl­fühl­te; alle wa­ren be­wegt, daß die­ser Mann im­mer noch so er­schi­en wie am Tage nach dem Her­ein­bre­chen sei­nes Un­glücks.

»Geht ein biß­chen im Wäld­chen von Aul­nay spa­zie­ren,« sag­te der On­kel Pil­ler­ault und leg­te Cäsars Hand in Kon­stan­zens, »und nehmt An­selm und Cäsa­ri­ne mit! Um vier Uhr er­war­ten wir euch zu­rück.«

»Die ar­men Leu­te, wir wür­den sie nur ge­nie­ren,« sag­te Frau Ra­gon, ge­rührt von der ech­ten Trau­er ih­res Schuld­ners, »er wird bald wie­der froh wer­den.«

»Das nennt man Reue ohne Schuld«, sag­te der Abbé Loraux.

»Er konn­te nur durch das Un­glück groß wer­den«, sag­te der Rich­ter.

Ver­ges­sen kön­nen, das ist das große Ge­heim­nis star­ker, schöp­fe­ri­scher Per­sön­lich­kei­ten, ver­ges­sen, wie die Na­tur, die vom Ver­gan­ge­nen nichts weiß und zu je­der Stun­de das Mys­te­ri­um der un­er­müd­li­chen Zeu­gung sich er­neu­ern läßt. Schwa­che Exis­ten­zen, wie Bi­rot­teau, ver­har­ren in ih­rem Kum­mer, an­statt aus der Er­fah­rung eine Leh­re zu zie­hen, sie sät­ti­gen sich mit ihm und ver­nut­zen sich, in­dem sie tag­aus tagein ihr gan­zes Un­glück von An­fang an wie­der über­den­ken. Als die bei­den Paa­re den Weg nach dem Wäld­chen von Aul­nay be­tre­ten hat­ten, das einen der rei­zends­ten Ab­hän­ge in der Um­ge­bung von Pa­ris be­krönt, und sich der la­chen­de Blick auf das Vallée-aux-Loups öff­ne­te, lös­ten sich bei der Schön­heit des Ta­ges, der An­mut der Land­schaft, dem ers­ten Grün und den sü­ßen Erin­ne­run­gen an den schöns­ten Tag sei­ner Ju­gend die Fes­seln von Cäsars See­le; er preß­te den Arm sei­ner Frau an sein po­chen­des Herz, sein Auge ver­lor die glä­ser­ne Starr­heit und ließ den Glanz der Freu­de auf­leuch­ten.

»End­lich ken­ne ich dich wie­der, mein ar­mer Cäsar«, sag­te Kon­stan­ze zu ih­rem Man­ne. »Ich den­ke, es geht uns jetzt so gut, daß wir uns ab und zu auch eine klei­ne Freu­de ge­stat­ten dür­fen.«

»Darf ich das denn?« sag­te der arme Mann. »Ach, Kon­stan­ze, dei­ne Lie­be ist das ein­zi­ge Gut, das mir noch ge­blie­ben ist. Ja, ich habe al­les ver­lo­ren, so­gar das Ver­trau­en zu mir, ich füh­le kei­ne Kraft mehr in mir, mein ein­zi­ger Wunsch ist, noch so lan­ge zu le­ben, bis ich mei­ne ir­di­schen Ver­pflich­tun­gen er­füllt habe. Du, lie­bes Weib, du, die du für mich im­mer die Vor­sicht und die Klug­heit warst, du, die klar ge­se­hen hat, du, die du dir kei­ne Vor­wür­fe zu ma­chen brauchst, du kannst dir eine Freu­de gön­nen: ich al­lein bin un­ter uns drei­en der Schul­di­ge. Vor an­dert­halb Jah­ren, bei die­sem ver­häng­nis­vol­len Fes­te, da sah ich mei­ne Kon­stan­ze, das ein­zi­ge Weib, das ich ge­liebt habe, viel­leicht in noch strah­len­de­rer Schön­heit vor mir als das jun­ge Mäd­chen, mit dem ich vor zwan­zig Jah­ren auf die­sem Wege wan­del­te, auf dem jetzt un­se­re Kin­der ge­hen! … In an­dert­halb Jah­ren habe ich die­se Schön­heit, mei­nen Stolz, mei­nen be­rech­tig­ten Stolz, ver­nich­tet … Je bes­ser ich dich ken­ne, um so mehr lie­be ich dich. Ach, Liebs­te,« sag­te er mit ei­nem Tone, der sei­ner Frau ans Herz ging, »ich woll­te, daß du mich lie­ber schel­test, als daß ich se­hen muß, wie du dich be­mühst, mir mei­nen Kum­mer zu lin­dern.«

»Und ich, ich habe nicht ge­dacht,« er­wi­der­te sie, »daß nach zwan­zig­jäh­ri­ger Ehe die Lie­be ei­ner Frau zu ih­rem Man­ne noch in­ni­ger wer­den könn­te.«

Die­se Wor­te lie­ßen Cäsar für einen Au­gen­blick all sein Un­glück ver­ges­sen, denn für ein Herz wie das sei­ne be­deu­te­ten sie einen Schatz. Und so ging er bei­na­he hei­ter auf »ih­ren« Baum zu, der zu­fäl­li­ger­wei­se nicht ab­ge­schla­gen wor­den war. Das Ehe­paar ließ sich un­ter ihm nie­der und sah auf An­selm und Cäsa­ri­ne, die um die­sel­be Wie­se her­um­gin­gen, ohne es zu mer­ken, und die wahr­schein­lich glaub­ten, den an­dern noch im­mer vor­aus zu ge­hen.

»Lie­bes Fräu­lein,« sag­te An­selm, »hal­ten Sie mich für so nied­rig ge­sinnt und so hab­gie­rig, daß ich den An­teil Ihres Va­ters an dem Hui­le Cé­pha­li­que er­wor­ben habe, um ihn für mich aus­zu­nut­zen? Mit Freu­den be­wah­re ich sei­ne Hälf­te für ihn auf und lege sie für ihn an. Und wenn mir da­bei Wert­pa­pie­re zwei­fel­haft er­schei­nen, so über­neh­me ich sie auf mei­ne Rech­nung. Wir kön­nen ein­an­der erst am Tage nach der Re­ha­bi­li­tie­rung Ihres Va­ters an­ge­hö­ren, aber ich be­schleu­ni­ge die­ses Da­tum mit all der Kraft, die die Lie­be ver­leiht.«

Der Lie­ben­de hat­te sich wohl ge­hü­tet, sein Ge­heim­nis sei­ner Schwie­ger­mut­ter zu ver­ra­ten. Auch bei den harm­lo­ses­ten Ver­lieb­ten ist im­mer der Wunsch le­ben­dig, in den Au­gen ih­rer Ge­lieb­ten groß zu er­schei­nen.

»Und wird das bald sein?« frag­te sie.

»Bald«, er­wi­der­te Po­pi­not. Die­se Ant­wort wur­de in ei­nem so zu Her­zen ge­hen­den Ton ge­ge­ben, daß die züch­ti­ge, rei­ne Cäsa­ri­ne ih­rem ge­lieb­ten An­selm ihre Stirn dar­bot, auf die er einen hei­ßen, aber re­spekt­vol­len Kuß drück­te – so­viel Adel lag in der Hal­tung die­ses Kin­des.

»Al­les geht gut, Papa«, sag­te sie mit schlau­em Ge­sicht zu Cäsar. »Sei nett, plau­de­re mit uns und lege dei­ne fins­te­re Mie­ne ab.«

Als die so in­nig ver­ein­te Fa­mi­lie in Pil­ler­aults Haus zu­rück­kehr­te, be­merk­te Cäsar, ein so schlech­ter Beo­b­ach­ter er sonst war, doch in Ra­g­ons We­sen eine Ver­än­de­rung, die auf ein wich­ti­ges Er­eig­nis schlie­ßen ließ. Auch Frau Ra­g­ons Be­grü­ßung war so lie­bens­wür­dig, als ob ihr Blick und ihr Ton Cäsar zu ver­ste­hen ge­ben woll­ten: »Wir sind be­zahlt.«

Beim Nach­tisch er­schi­en der No­tar von Sceaux; Pil­ler­ault bat ihn, Platz zu neh­men, und sah Bi­rot­teau an, der eine Über­ra­schung zu ah­nen be­gann, ohne sich ihre Be­deu­tung er­klä­ren zu kön­nen.

»Lie­ber Nef­fe, in die­sen an­dert­halb Jah­ren ha­ben die Er­spar­nis­se dei­ner Frau, dei­ner Toch­ter und die dei­ni­gen zwan­zig­tau­send Fran­ken er­bracht. Ich habe drei­ßig­tau­send Fran­ken als Kon­kurs­di­vi­den­de emp­fan­gen; wir kön­nen also dei­nen Gläu­bi­gern fünf­zig­tau­send Fran­ken be­zah­len. Herr Ra­gon hat als Di­vi­den­de eben­falls drei­ßig­tau­send Fran­ken er­hal­ten; der Herr No­tar bringt dir da­her eine Quit­tung, daß dei­ne Freun­de voll, mit Zin­sen, be­zahlt sind. Der Rest der Sum­me liegt bei Crot­tat, zur Be­frie­di­gung Lour­dois’, der Mut­ter Ma­dou, des Mau­rer- und Tisch­ler­meis­ters und dei­ner dring­lichs­ten Gläu­bi­ger. Im nächs­ten Jah­re wol­len wir wei­ter se­hen. Mit ge­dul­di­gem Aus­har­ren er­reicht man viel.«

Bi­rot­te­aus Freu­de war un­be­schreib­lich und wei­nend warf er sich dem On­kel in die Arme.

»Heu­te darf er sein Kreuz wie­der an­le­gen«, sag­te Ra­gon zum Abbé Loraux.

Der Beicht­va­ter be­fes­tig­te das rote Band am Knopf­loch des An­ge­stell­ten, der sich wäh­rend des Abends zwan­zig­mal im Spie­gel be­sah und eine Freu­de be­zeig­te, über wel­che Leu­te, die sich für er­ha­ben über so et­was hal­ten, ge­lacht hät­ten, die aber die gu­ten Bür­gers­leu­te durch­aus na­tür­lich fan­den. Am nächs­ten Tage be­gab sich Bi­rot­teau zu Frau Ma­dou.

»Ach, Sie sind es, mein gu­ter Kerl,« sag­te sie zu ihm, »ich habe Sie gar nicht er­kannt, so grau sind Sie ge­wor­den. Na, ihr, ihr ver­hun­gert nicht, ihr be­kommt im­mer noch ne Stel­lung. Ich, ich ar­bei­te wie ein Pferd in der Tret­müh­le und ver­die­ne nicht das Was­ser.«

»Aber Frau Ma­dou …«

»Nein, nein, das soll kein Vor­wurf sein,« sag­te sie, »ich habe Ih­nen ja quit­tiert.«

»Ich bin her­ge­kom­men, um Ih­nen zu mel­den, daß ich heu­te bei dem No­tar Crot­tat Ih­nen den Rest Ih­rer For­de­rung nebst Zin­sen be­zah­len wer­de.«

»Ist das wirk­lich wahr?«

»Sei­en Sie um ein halb zwölf Uhr dort …«

»Das ist an­stän­dig; vol­le Zah­lung und vier Pro­zent«, sag­te sie mit nai­ver Ver­wun­de­rung. »Hö­ren Sie, lie­ber Herr, ich ma­che gute Ge­schäf­te mit Ihrem klei­nen Rot­kopp; der is an­stän­dig und läßt mich gut ver­die­nen, ohne den Preis zu drücken, weil er mich ent­schä­di­gen will; wis­sen Sie was, ich wer­de Ih­nen eine Quit­tung ge­ben, aber be­hal­ten Sie Ihr Geld, mein ar­mer Al­ter! Die Ma­dou ist hit­zig und schreit leicht, aber hier hat sie auch was«, sag­te sie und schlug sich da­bei auf die dicks­ten Fleisch­kis­sen, die je­mals in den Markt­hal­len ge­se­hen wor­den sind.

»Kei­nes­falls,« sag­te Bi­rot­teau, »das Ge­setz ist klar und deut­lich, ich wün­sche, Sie voll zu be­zah­len.«

»Na, dann wer­de ich mich nicht län­ger bit­ten las­sen«, sag­te sie. »Aber mor­gen in der Markt­hal­le, da wer­de ich Ihr eh­ren­wer­tes Ver­hal­ten über­all her­u­mer­zäh­len. Ach, das is eine Sel­ten­heit, die­se Ge­schich­te!«

Die­sel­be Sze­ne spiel­te sich bei Crot­tats Schwie­ger­va­ter, dem Stu­ben­ma­ler, aber in et­was an­de­rer Form ab. Es reg­ne­te drau­ßen und Cäsar hat­te sei­nen Schirm an die Tür ge­stellt. Der reich­ge­wor­de­ne Ma­ler­meis­ter war nicht sehr lie­bens­wür­dig, als er be­merk­te, wie das Was­ser auf den Fuß­bo­den sei­nes schö­nen Spei­se­zim­mers lief, wo er mit sei­ner Frau beim De­jeu­ner saß.

»Also was wün­schen Sie, ar­mer Va­ter Bi­rot­teau?« sag­te er in dem gro­ben Tone, in dem die Leu­te mit läs­ti­gen Bett­lern zu spre­chen pfle­gen.

»Herr Lour­dois, hat Ih­nen Ihr Schwie­ger­sohn nicht mit­ge­teilt …«

»Was denn?« frag­te Lour­dois un­ge­dul­dig, der an ir­gend­ei­ne Bet­te­lei dach­te.

»Daß Sie sich heu­te vor­mit­tag um ein­halb zwölf Uhr bei ihm ein­fin­den sol­len, um mir über mei­ne vol­le Zah­lung Quit­tung zu er­tei­len? …«

»Ach, das ist et­was an­de­res; aber neh­men Sie doch Platz, Herr Bi­rot­teau, und es­sen Sie einen Bis­sen mit uns …«

»Ma­chen Sie uns doch das Ver­gnü­gen, mit uns zu früh­stücken«, sag­te Frau Lour­dois.

»Nein, Herr Lour­dois, ich muß alle Tage aus der Hand an mei­nem Schreib­tisch früh­stücken, um et­was Geld zu ver­die­nen; aber mit der Zeit hof­fe ich, al­len Scha­den, den ich mei­nen Nächs­ten ver­ur­sacht habe, wie­der gut­ma­chen zu kön­nen.«

»Wahr­haf­tig,« sag­te der Ma­ler­meis­ter und schob eine Schnit­te mit Gän­se­le­ber­pas­te­te in den Mund, »Sie sind ein Ehren­mann.«

»Und was macht Frau Bi­rot­teau?« sag­te Frau Lour­dois.

»Sie führt Herrn An­selm Po­pi­not die Bü­cher und die Kas­se.«

»Arme Leu­te«, sag­te Frau Lour­dois zu ih­rem Man­ne.

»Wenn Sie mich brau­chen soll­ten, mein lie­ber Herr Bi­rot­teau, kom­men Sie nur zu mir,« sag­te Lour­dois, »viel­leicht kann ich Ih­nen hel­fen …«

»Ich brau­che Sie nur heu­te um elf Uhr, Herr Lour­dois«, sag­te Bi­rot­teau und ent­fern­te sich. Die­ses ers­te Er­geb­nis mach­te dem Kri­dar Mut, wenn es ihm auch noch nicht sei­ne Ruhe wie­der­gab; der Wunsch nach Wie­der­her­stel­lung sei­ner Ehre rieb ihn über­mä­ßig auf; er hat­te sei­ne blü­hen­de Ge­sichts­far­be völ­lig ver­lo­ren, sein Blick war er­lo­schen, sein Ant­litz ab­ge­ma­gert. Wenn alte Be­kann­te Cäsar früh um acht oder nach­mit­tags um vier Uhr auf sei­nem Hin- und Rück­we­ge in der Rue de l’Ora­toire be­geg­ne­ten, in dem­sel­ben Über­rock, den er zur Zeit der Ka­ta­stro­phe ge­tra­gen hat­te, und den er, wie ein ar­mer Un­ter­leut­nant sei­ne Uni­form, schon­te, mit ganz weiß ge­wor­de­nem Haar, bleich und ängst­lich, so hiel­ten ihn ei­ni­ge ge­gen sei­nen Wunsch fest, ob­wohl er, um sich spä­hend, aus­zu­wei­chen such­te, in­dem er wie ein Dieb an den Mau­ern ent­lang­sch­lich.

»Ihr eh­ren­haf­tes Ver­hal­ten ist all­ge­mein be­kannt, lie­ber Freund«, sag­ten sie zu ihm. »Aber alle be­dau­ern, daß Sie, eben­so wie Ihre Toch­ter und Ihre Frau, so hart ge­gen sich selbst ver­fah­ren.«

»Gön­nen Sie sich doch et­was mehr Zeit«, sag­ten an­de­re, »an ei­ner Geld­wun­de stirbt man nicht.«

»Nein, aber an ei­ner See­len­wun­de«, ant­wor­te­te der arme er­mat­te­te Cäsar ein­mal Ma­ti­fat.

Zu Be­ginn des Jah­res 1822 wur­de der Bau des Kanals Saint-Mar­tin be­schlos­sen. Die im Fau­bourg du Tem­ple ge­le­ge­nen Ter­rains er­reich­ten wahn­sin­ni­ge Prei­se. Nach dem Pro­jekt soll­te das Grund­stück du Til­lets, das frü­her Cäsar Bi­rot­teau ge­hör­te, in der Mit­te durch­schnit­ten wer­den. Die Ge­sell­schaft, die die Bau­kon­zes­si­on für den Kanal er­hal­ten hat­te, woll­te ihm einen un­ge­heu­ren Preis zah­len, wenn der Ban­kier das Ter­rain zu ei­nem be­stimm­ten Ter­min über­ge­ben könn­te. Der Miet­ver­trag, den Cäsar mit Po­pi­not ge­schlos­sen hat­te, ver­hin­der­te das. Der Ban­kier such­te des­halb den Dro­gis­ten in der Rue des Cinq-Dia­mants auf. Wenn Po­pi­not auch du Til­let gleich­gül­tig war, so emp­fand Cäsa­ri­nes Ver­lob­ter einen in­stink­ti­ven Haß ge­gen die­sen Men­schen. Er kann­te we­der den Dieb­stahl noch die nie­der­träch­ti­gen Ma­chen­schaf­ten des er­folg­rei­chen Ban­kiers, aber eine in­ne­re Stim­me sag­te ihm: Die­ser Mensch ist ein straflo­ser Dieb. Po­pi­not hät­te nicht das kleins­te Ge­schäft mit ihm ma­chen mö­gen, sei­ne Ge­gen­wart war ihm ver­haßt. Dazu muß­te er ge­ra­de jetzt se­hen, wie du Til­let sich an dem, des­sen er sei­nen frü­he­ren Prin­zi­pal be­raubt hat­te, be­rei­cher­te, denn der Wert der Ter­rains an der Ma­de­lei­ne be­gann schon so zu stei­gen, daß man die Rie­sen­prei­se ah­nen konn­te, die sie im Jah­re 1827 er­reich­ten. Als der Ban­kier da­her den An­laß sei­nes Be­suchs ihm mit­ge­teilt hat­te, be­trach­te­te ihn Po­pi­not mit er­höh­ter Ent­rüs­tung.

»Ich will es nicht ab­leh­nen, von mei­nem Miet­ver­tra­ge zu­rück­zu­tre­ten, aber ich ver­lan­ge da­für sech­zig­tau­send Fran­ken und wer­de kei­nen Hel­ler von die­ser Sum­me ab­las­sen.«

»Sech­zig­tau­send Fran­ken?« rief du Til­let aus und mach­te An­stal­ten, sich zu ent­fer­nen.

»Ich habe noch fünf­zehn Jah­re Kon­trakt und müß­te für eine neue Fa­brik jähr­lich drei­tau­send Fran­ken mehr aus­ge­ben. Also es bleibt bei sech­zig­tau­send Fran­ken, oder wir brau­chen über die Sa­che nicht wei­ter zu re­den«, sag­te Po­pi­not und ging in den La­den zu­rück, wo­hin ihm du Til­let folg­te.

Die Dis­kus­si­on wur­de leb­haft, und es fiel der Name Bi­rot­teau, als Frau Kon­stan­ze ge­ra­de her­un­ter­kam, die du Til­let seit dem be­rühm­ten Ball zum ers­ten­mal wie­der­sah. Der Ban­kier konn­te beim An­blick der Ver­än­de­rung, die das Aus­se­hen sei­ner ehe­ma­li­gen Prin­zi­pa­lin er­fah­ren hat­te, ein Zei­chen der Über­ra­schung nicht zu­rück­hal­ten und schlug, er­schreckt über sein Werk, die Au­gen nie­der.

»Der Herr«, sag­te Po­pi­not zu Frau Bi­rot­teau, »ver­dient an ›Ihren‹ Ter­rains drei­hun­dert­tau­send Fran­ken und will uns nicht sech­zig­tau­send Fran­ken Ent­schä­di­gung für un­sern Miet­ver­trag ge­wäh­ren …«

»Das sind drei­tau­send Fran­ken Ren­te«, sag­te du Til­let em­pha­tisch.

»Drei­tau­send Fran­ken! …« wie­der­hol­te Frau Kon­stan­ze ein­fach, aber mit ein­dring­li­cher Be­to­nung. Du Til­let erblaß­te. Po­pi­not sah Frau Bi­rot­teau an. Es ent­stand einen Au­gen­blick ein tie­fes Schwei­gen, das die­se Sze­ne für An­selm noch un­er­klär­li­cher mach­te.

»Un­ter­zeich­nen Sie Ihren Ab­stand, ich habe das Schrift­stück schon von Crot­tat ent­wer­fen las­sen,« sag­te du Til­let und zog ein ge­stem­pel­tes Pa­pier aus sei­ner Sei­ten­ta­sche, »ich wer­de Ih­nen einen Scheck auf die Bank über sech­zig­tau­send Fran­ken aus­stel­len.«

Po­pi­not sah Frau Kon­stan­ze mit un­ver­hoh­le­nem Er­stau­nen an; er glaub­te zu träu­men. Wäh­rend du Til­let den Scheck an ei­nem Steh­pult un­ter­zeich­ne­te, ver­schwand sie und ging wie­der in den Zwi­schen­stock hin­auf. Der Dro­gist und der Ban­kier tausch­ten ihre Pa­pie­re aus und du Til­let ent­fern­te sich mit küh­lem Gru­ße.

»End­lich!« sag­te Po­pi­not und sah du Til­let nach, der nach der Rue des Lom­bards ging, wo sein Ca­brio­let hielt. »Dank die­sem ei­gen­ar­ti­gen Vor­fall wer­de ich in we­ni­gen Mo­na­ten Cäsa­ri­ne mein nen­nen kön­nen. Mein ar­mes, klei­nes Weib wird sich dann nicht län­ger tot zu ar­bei­ten brau­chen. Aber wie merk­wür­dig! Ein ein­zi­ger Blick Frau Kon­stan­zes hat das be­wirkt! Was für ein Zu­sam­men­hang be­steht zwi­schen ihr und die­sem Räu­ber? Was sich hier eben er­eig­net hat, ist höchst ei­gen­tüm­lich.«

Honoré de Balzac – Gesammelte Werke

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