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Ein Leben ohne Vater

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Es gab etwas, das mich stark belastete in meiner Jugend. Ich wuchs ohne Vater auf. Mein Papa starb, als ich gerade sechs Jahre alt war. Mir fehlten viele Dinge. Abgesehen davon, dass mir niemand zum Beispiel technische Dinge beibrachte, kann ich mich sehr gut erinnern, wie fürchterlich traurig ich war, wenn andere Kinder von ihren Erlebnissen mit ihren Vätern erzählten.

Es mag schlimm klingen, was ich jetzt erzähle. In den Schulklassen gab es Tische, an denen wir zu zweit saßen. Der Kumpel an meiner Seite war Dirk Scherer, zwei Monate jünger als ich und einer meiner besten Freunde. Irgendwann kam unser Klassenlehrer in den Unterricht und verkündete eine traurige Nachricht: Mein Freund hatte im Sauerland zusammen mit Vater und Bruder einen Unfall. Bei glatter Straße gegen einen Baum gefahren. Vater tot, Bruder tot, mein Freund schwer verletzt, aber er hatte überlebt.

Ich war natürlich erschüttert, wie alle in der Klasse. Dirk ging es nach kurzer Zeit schon wieder besser. Ich kann mich genau erinnern, dass ich ihm ein Miniatur-Flippergerät aus Plastik gekauft und ins Krankenhaus mitgebracht hatte. Er tat mir so leid. Aber – und dafür schäme ich mich bis heute – irgendwie war ich froh, nicht mehr allein zu sein mit dem Gefühl, keinen Vater zu haben.

Es entwickelte sich eine Solidarität zwischen Dirk und mir. Wir wuchsen noch enger zusammen. Und wir hatten einen Mitstreiter. Auch unser Klassenlehrer, Josef Naber, hatte früh seinen Daddy verloren. Er konnte sich in uns hineinversetzen. Für mich war er eine Art Vaterersatz. Unglaublich warmherzig, menschlich eine Eins. Im Kollegium hatte er einen schweren Stand, weil er einer der führenden Kräfte der konservativen Deutschen Zentrums-Partei war. Eine Eins war auch der Lehrer, bei dem wir montags „Schalke“ auf dem Stundenplan hatten.

Daheim lebten wir sehr bescheiden. Mein Vater war selbstständiger Fahrlehrer gewesen, was meiner Mutter nur eine Minirente einbrachte. Wir hatten zwar ein eigenes Häuschen, sodass wir keine Miete zahlen mussten, aber Luxus war ein Fremdwort. Taschengeld gab es einen Fuchs (50 Pfennig) pro Woche. Aber dafür musste ich den Rasen mähen und den Aschehof harken und von Unkraut befreien.

Ab und zu an Sommerabenden gab es von Kiosk Döppe ein Eis. „Capri“, ein Wassereis mit Orangengeschmack, war mit Favorit. Meine Mutter wollte immer „Happen“ haben.

Zu Döppe – unser Kioskbetreiber sah ein bisschen so aus wie Horst Tappert alias Derrick – brachten wir unser gesamtes Taschengeld. Ab und zu gönnten wir uns eine Cola oder Sinalco, aber die war uns eigentlich zu teuer, meist holten wir uns Bonbons, für zehn Pfennig von den Herzchen, für fünf Pfennig von den Veilchenpastillen oder eine Lakritzschnecke. Ab und zu bestellten wir für 50 Pfennig Silberlinge. Nicht etwa, weil wir die mochten. Nein, uns bereitete es einen Heidenspaß, dass Herr Döppe die Silberlinge abzählte. Sie kosteten nämlich einen halben Pfennig. Für die Jüngeren: Halbe Pfennige gab es nicht. Die kleinste Münze war ein Pfennig. Man bekam also für die kleinste Münze zwei Silberlinge. Mathematiker werden schnell erfasst haben, dass Döppe-Derrick hundert Silberlinge abzählen musste für unser 50-Pfennig-Stück, im Volksmund „Fuchs“ genannt, wie Bernd Wegmann aus unserer Straßenmannschaft. Wenn Döppe so ungefähr bei 60, 70 Silberlingen angelangt war, verwickelten wir ihn in ein Gespräch und versuchten ihn zu verwirren.

„Jetzt hab ich mich verzählt“ war für uns damals wie ein Schalker 4:0-Sieg. Stoisch ließ der Arme alle abgezählten Silberlinge in die Plastikbox zurückfallen, um von Neuem zu beginnen. Wenn wir ganz tollkühn drauf waren, sagten wir nach 80 Silberlingen: „Ach, wir hätten doch lieber die Veilchenpastillen.“ Sorry dafür, Herr Döppe, nachträglich!

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