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Im Finale fehlten die Eckfahnen … mir das Siegtor

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1970 war die erste WM, die ich voll miterlebte. Es waren tolle Erlebnisse: Beckenbauer mit gebrochenem Schlüsselbein, der Sieg über England, das Jahrhundertspiel gegen Italien. 1974 verbrachte ich ebenfalls vorm TV. Weil ich das Finale dokumentieren wollte, legte ich eine Kassette in meinen Rekorder und platzierte ihn vorm Radio. Leider wurde das Finale gegen die Niederlande aufgrund eines Organisationsfehlers später angepfiffen: Die Eckfahnen fehlten. Unglaubliche Geschichte im organisierten Deutschland. Aufgrund des verspäteten Anpfiffs fehlten auf meinem Mitschnitt von Oskar Kloses und Heribert Faßbenders WM-Reportage die letzten Minuten der ersten Hälfte und ausgerechnet das WM-Tor von Gerd Müller (im Kassettenrecorder lag eine 45er-Kassette). Verrückt, oder? Damals fand ich das bei aller Freude über den Titel nicht so lustig.

Ich habe mir aber später den Kommentar von Heribert Faßbender zum entscheidenden Treffer besorgt: „Auch Grabowski gefällt mir heute. Sieht jetzt, dass Bonhof steil geht. Und prompt ist der Ball bei Bonhof gelandet. Im 16-Meter-Raum. Spitzer Winkel zum Tor. Da kommt der Ball auf Müller. Der dreht sich um die eigene Achse, schießt und – Tor! Tor durch Gerd Müller.“ Danke Gerd, danke Heribert.

Es war ein so wunderbares Gefühl, den Titel geholt zu haben. Komisch, dass meine Mutter als Holländerin ebenfalls zu Deutschland hielt. Ich war voller Emotion vorm TV. Ich heulte Rotz und Wasser, als Jürgen Sparwasser mit der DDR die Bundesrepublik besiegte. Ich ging allein spazieren bei Nieselregen. Aber egal. Ohne Schirm lief ich heulend durch die Straßen von Gladbeck. Enttäuschung, Frust pur.

Und außerdem hatte ich Pech. Ich hatte mir Tickets besorgt für die WM-Zwischenrunde, für zwei Spiele in Gelsenkirchen. Zweimal mit Beckenbauer & Co., wenn sie gegen die DDR gewonnen hätten. So hatte ich nun Tickets für die DDR gegen die Niederlande (0:2) und Argentinien gegen die DDR (1:1). Verzockt.

Zwei Jahre dauerte das Volontariat in Lippstadt. Zwei Jahre Patriot. Ich beschloss, mich für ein Studium zu bewerben. Mein Arbeitgeber und meine Kollegen reagierten mit Unverständnis. Schließlich hatten wir uns doch alle so toll verstanden. Man gab mir zu verstehen, dass ich undankbar sei. Mmh, da hatte ich eine andere Sicht der Dinge. Ich wollte trotz des Wohlgefühls in Lippstadt weiterkommen und kündigte zum 31. Dezember. Es war ein schwerer Abschied. Aber noch war ich ja in Lippstadt. Das Studium begann erst im März.

Mein Geld verdiente ich mir vorübergehend als Kellner. In einem kleinen, schnuckeligen Café namens Bistro, in direkter Nachbarschaft zu besagtem Kino und zu Wolfgang Rummenigges Sportgeschäft gelegen. Mein Chef, Peter Böning, war fast gleichaltrig. Wir waren dick befreundet, hatten einen ähnlichen Humor. Es war eine ausgelassene Zeit. Peter kannte ich schon von den zwei Jahren zuvor, weil das Bistro mein Stammcafé war und ich dort hin und wieder ausgeholfen hatte. Mein Patriot-„Volo“-Geld war ja nicht gerade üppig. In meiner Bude lag immer noch die Matratze. Egal, wenn man jung ist, ist manches möglich.

Mit Peter Böning bin ich bis heute befreundet. Er wohnt mit Frau, Kind und Schwiegereltern unter einem Dach im Ortsteil Overhagen. Einmal wollte ich die Bönings besuchen, hatte dummerweise ein T-Shirt mit dem Emblem der Schweiz an. Rotes Shirt und weißes Kreuz. Ich parkte vor dem Haus, läutete an der Klingel. Peters Schwiegermutter stand in der Tür. Wir kannten uns nicht. Sie sagte schroff: „Nein, wir brauchen nichts“, und knallte die Tür zu.

Was war denn nun los? Ich klingelte noch einmal, ich wolle zu Peter Böning. Sie rief ihn also herbei und ich erhielt schließlich Einlass. Später fragte ich nach, warum die Schwiegermama mir die Tür vor der Nase zugezogen hatte. Sie hatte beim Anblick meines Schweizer Shirts (rot mit weißem Kreuz) gedacht, ich sei vom Roten Kreuz und würde ihr irgendwas verkaufen wollen.

Nach meinem Kellnerjob nahte im Frühjahr 1980 das endgültige Ende in Lippstadt. Der Umzug nach Gießen stand an. Auch in Göttingen hatte ich mich beworben, aber dort forderte man eine Aufnahmeprüfung. Im Turnen! Geräteturnen hatte ich immer gehasst und war darin einfach schlecht. Die Prüfung hätte ich nie bestanden. Auch Köln fiel deshalb aus meiner Bewerbungsliste.

Blieb Gießen übrig. Keine Aufnahmeprüfung, kein Numerus clausus. Mit 2,8 war mein Abischnitt eh nicht so berauschend. Gießen mit seinen 60 000 Einwohnern ist vielleicht nicht besonders hübsch, aber reizvoll, weil es sehr studentisch geprägt ist. Heißt: viele goldige Studentenkneipen.

An meinen ersten Tag in Gießen kann ich mich genau erinnern. Neugierig erforschte ich die Innenstadt. Und natürlich dachte ich an die vielen Freunde, die ich in Lippstadt zurückgelassen hatte. Mir war es klar, dass auch wenn man sich vornimmt, die alten Kumpels oft besuchen zu wollen, irgendwann die Liebe erlischt und fast alles einschläft.

Handys gab es noch nicht. Ich ging in eine dieser muffelnden Telefonzellen nahe Karstadt und rief bei Peter Böning im Bistro an. Und musste plötzlich mit den Tränen kämpfen. Heimweh pur. Trauer übermannte mich, dazu Zweifel, ob ich mich richtig entschieden hatte. Jörg allein in Gießen. Ich kannte dort niemanden.

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