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Alltagsrituale

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Im Leben jedes Menschen gibt es vertraute Rituale. Begrüßungs-, Essens-, Zubettgeh-Rituale, Tagebuch-Schreiben, besondere Arten Feste zu feiern und vieles andere mehr. Sie sind nicht einfach wiederholte Verhaltensweisen, sondern es sind solche Wiederholungen, die einen „Rahmen“ bilden. Es sind Alltagsrituale, die ein Geländer bilden, das auf geschichtlichen, religiösen oder familiären Traditionen beruht: früher der Kirchgang am Sonntag, der sonntägliche Spaziergang, die Gutenacht-Geschichte für die Kinder — heute eher der bestimmte Fernsehbeitrag, die rituelle Funktion von Fankulturen, heutige Mutproben (das ritualisierte Trinken von Jugendlichen), die heutige Suche nach ekstatischen Erfahrungen am Samstag im angesagten Club.

Rituale sind Handlungen mit Symbolcharakter. Es sind Inszenierungen, die eine Situation aus dem Alltag herausheben, und ihre Durchführung erfordert zuweilen symbolische Fähigkeiten und Fertigkeiten. Etwas wird in Szene gesetzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen und um die Teilnehmer des Rituals in ihren Bann zu ziehen. In früheren, christlich geprägten Zeiten, waren Tischgebete oder die Prozessionen ein wichtiges Alltagsritual. Heute ist es für manche Gruppen in der Bevölkerung die Demo.


Die Wiederkehr von etwas immer Gleichem strukturiert den Tag, die Woche, die Monate, das Jahr. Rituale können dem Leben Struktur und Halt geben. Rituale bringen Ordnung in das amorphe Rauschen der Welt.

Immer sind es Handlungen, die einen Bedeutungsüberschuss über die jeweilige Aktion hinaus haben. Es sind symbolische Handlungen, in denen sich die Bedeutung und die Werte der Menschen, Gruppen, der Massen, die das jeweilige Ritual ausführen, ausdrücken.

Die Bedeutung von Alltagsritualen wurde in der Berliner Ritualstudie im Sonderforschungsbereich Kulturen der Performation an der FU Berlin untersucht. Nach deren Erkenntnissen dienen Rituale durch ihre gewohnte Wiederkehr dem Angstabbau und der Geborgenheit in der Familie. Am wichtigsten ist wohl ihre Funktion, Gemeinschaft zu erzeugen. Somit sind Ritualisierungen, sofern sie nicht in eine zwanghafte Richtung abgleiten, sinnvolle symbolische Fertigkeiten, die im gewohnten Milieu, im eigenen Wohnen, auf positive Weise verwendet werden können.


Der Mönch und Cellerar der Benediktinerabtei Münsterschwarzach, Anselm Grün, Autor von mehr als 250 Büchern und Vermittler der Kunst des Führens nach den Regeln des Heiligen Benedikt, hält es für überaus wichtig gute Rituale zu haben, von denen man auch bewusst sagen kann, dass sie zu einem selbst gehören. Rituale geben einem das Gefühl selbst zu leben, und nicht gelebt zu werden (Der Tagesspiegel, 9.12.2007). Er verweist auf die Gestaltungsmöglichkeiten für Rituale und zeigt auch die Möglichkeit eines Rituals auf, sich im Verlauf des Tages eine kurze Zeit ganz für sich allein zu nehmen, indem man nur auf den eigenen Atem hört, meditiert, sich den eigenen Gefühlen aussetzt, sich fragt was einem guttut, und was nicht. Ähnliche Vorschläge kommen aus der Psychoneuroimmunologie, die Rituale des Innehaltens vorschlägt, ein tägliches Entspannungsprogramm, das den Alltagsstress reduziert.


In Deutschland, wo nationale Rituale wie nirgendwo sonst durch den Nationalsozialismus diskreditiert worden sind, ist die Überlegung sich solcher Instrumente wie Rituale zu bedienen, von Vorbehalten begleitet. Und wie bei den sexuellen Übergriffen von Lehrern auf ihre Schüler bekannt geworden ist, haben sich gerade im Machtgefälle von Lehrer und Schüler die Lehrer manches Mal der Macht von Ritualen bedient, indem sie dem Missbrauch den Charakter von Initiationsriten gegeben haben. Auch die Beschneidung von Mädchen in vielen Ländern der Welt ist ein ritualisier Akt. Symbolisch steht dahinter die Macht über den Körper und das Körperempfinden der Frauen, die ihnen ein vollwertiges, lustvolles „Frau sein“ zunichtemacht.

Im alten Europa waren Rituale Anlässe, um die Ordnung der Gesellschaft immer wieder aufs Neue zu inszenieren, die Zusammengehörigkeit ihrer Mitglieder zu bekräftigen, sowie Rechte und Pflichten zu begründen. Rituale wie Prozessionen zu bestimmten Festtagen, Weihen, Schwören, Knien, Thronen, auch Mahlzeiten mit bestimmten Abfolgen von Speisen stifteten durch ihre Erwartungssicherheit und Gleichförmigkeit Struktur und Dauer. Sie bildeten die innere Ordnung der Gemeinwesen ab. Sie waren „Spectacula“, die oft auch auf Bühnen vor Publikum aufgeführt wurden. Ihre symbolische Funktion war und ist es, Verbindung und Verbindlichkeit zu stiften. Wie die Symbole sind die Rituale Ausdruck eines „Mehr“, haben einen Bedeutungsüberschuss, der positive aber auch negative Wirkungen zeitigen kann. Akademische Rituale in den Verbindungen hatten und haben immer die Aufgabe, Verbindlichkeit herzustellen und auszudrücken.


Unbehagen und Misstrauen gegenüber Ritualen sind dort angebracht, wo sie angeordnet werden, wo sie undurchschaubar sind und wo sie missbraucht werden. Die formative Gewalt von Ritualen lässt sich an den Massenfesten in Diktaturen ablesen. Den Teilnehmern werden genaue Plätze in der Hierarchie zugewiesen, vermeintliche Feinde werden konsequent ausgeschlossen. Solche Feste waren Grundpfeiler nazistischer, aber auch kommunistischer Ideologie und sind es heute noch in Nordkorea und überall dort, wo Menschen in „betonierten Strukturen“ zu Massen-Events gezwungen werden.

Wie die Symbole, bringen sich Rituale in Bildern zum Ausdruck, und die Deutung, das Verständnis der Bilder macht es möglich ihre Absicht, die Implikationen der Symbole und Rituale nachzuvollziehen. Der Kult der Führer- und Heldenverehrung, Bilder, die sich als Propaganda erweisen, überdimensionale, monumentale, pharaonische Projekte deuten weniger auf Entwicklung und Zukunft, als auf Stagnation und Störung.

Beruhen Rituale aber auf eigenen oder auf positiven kollektiven Lebenserfahrungen, dann sind sie Werkzeuge, den Geist bewusst zu lenken. Sie können wie die Symbole manchmal auch durch tiefere Einsichten den Weg ebnen. Sie können bestimmte Haltungen zum Ausdruck bringen — und sie können Halt geben, wo Brüche und Störungen das Bewusstsein beeinträchtigen. (Trink erst mal eine Tasse Tee, so der Zenmeister vom blauen Fels.)


Raum für Rituale waren in früheren Zeiten die Aufmarschplätze in der Stadt. Heute noch sind es Kirchen, in denen Rituale, die Gottesdienste, stattfinden. Shopping wird durch die Werbung zum Einkaufsritual stilisiert, der Catwalk in der Stadt ist die Bühne für die ritualisierte Selbstdarstellung. Dem Ritualcharakter von massenhaftem Picknicken und Grillen im Grünen, in den städtischen Parks, lässt sich wohl nur mithilfe anderer Rituale und Symbole beikommen, die den Schutz der Parks und der Natur zum Gegenstand haben. Mit einem Verbot dieses lustvollen, gemeinsamen Rituals, wie es der Bezirk Mitte in Berlin für den Tierpark für das Jahr 2012 angeordnet hat, ist es nicht getan. Appelle und Sanktionen reichen nicht aus, um den Grillmüll in den Griff zu bekommen. Es gilt, Rituale und Symbole zu entdecken, die die Verantwortlichkeit und die Zuständigkeit der Menschen, die den Müll verursachen, zum Thema machen. Auch hier macht es den Unterschied, authentisch und bürgernah zu agieren oder durch Verbote, Zerstörung, Abriss oder Inszenierungen, der Ungastlichkeit symbolisch Ausdruck zu verleihen.

Symbolische Dimension des Wohnens in der Stadt

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