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Mythen

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Jedes Kind, das ein Papierschiffchen auf einer Pfütze fahren lässt, ist schon in einer anderen Welt, in einem kleinen Mythos. (Anselm Kiefer im Spiegel-Gespräch Trümmer sind Kunst in: DER SPIEGEL, 27/2009.)


Mythen erklären die Welt nicht, sie sind eine von vielen möglichen Aneignungsformen der Wirklichkeit, die etwas von den kulturellen Vereinbarungen der Vergangenheit erfahren lassen..

Mythos ist ein vielgestaltiger Begriff, der häufig und ganz unterschiedlich verwendet wird. Peter Tepe, Professor an der philosophischen Fakultät der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf hat auf der Grundlage von über 100 Texten mehr als 50 Bedeutungen herauskristallisiert.

Im Brockhaus findet sich der Begriff für Erzählung bzw. Ursprungs- oder Schöpfungserzählung. Die Mythen erzählen von urzeitlichen Ereignissen in Form irrationaler, märchenhafter und wundersamer Geschichten. Sie sind so alt wie die Menschheit, und sie erzählen von der allmählichen Organisation der menschlichen Gesellschaft. Es handelt sich dabei um symbolische und idealisierte Darstellungen dieser ursprünglichen Ereignisse mit dem Anspruch einer — allerdings keineswegs eindeutigen — Deutung der Welt. Mythen wurden von Generation zu Generation weitergegeben, verändert und erweitert. Indem sie damalige Wirklichkeiten in Form von „Großerzählungen“ erklärten, wurden die wirklichen Geschehnisse entpersonalisiert, die Protagonisten der Geschichten wurden zu Symbolen.

Im allgemeinen Sprachgebrauch allerdings reicht die Spannweite des Mythosbegriffs von einer unwahren Erzählung, etwas falsch Verstandenem, einer Illusion bis hin zu einer Identifikations- und Symbolfigur, die Vorbild- und Leitcharakter hat.

Schon Sokrates hatte auf der Agora in Athen Mythen als Lügen lächerlich gemacht, und von dem Dichter Xenophanes ist der Ausspruch überliefert: Wenn die Pferde Götter wären, sähen die aus wie Pferde. Mit diesem Ausspruch hat Xenophanes dem Muster der Projektion Ausdruck gegeben, und er hat damit wohl auch gleichzeitig die Mythen der griechischen Götterwelt ins Wanken gebracht. Mythische Potenz hat dadurch aber nicht gelitten. Dafür wird keine Götterwelt benötigt — es genügt die Ästhetik oder die Außergewöhnlichkeit eines Objektes oder einem Geschehen, das den Mythos begründet. Ansehen, Prestige, Selbsterhöhung, Heldenhaftigkeit sind Motive dazu, und Künstler waren und sind oft die Ausführenden, die Vermittler.

Tatsächlich spiegelt ein wirksamer Mythos wie eine Projektionsfläche bestimmte Bewusstseinszustände. Er kann damit auch aktuell zur Erklärung unverständlicher und problematischer Wirklichkeit genutzt werden.


Die Aufklärung wollte die Mythen auflösen, wollte sie durch Wissen und Erkenntnis entmachten. Quellen der Mythen sind aber Ereignisse, die Menschen immer wieder zustoßen. wie das bei Liebe, Erfolg, Trennung oder Tod der Fall ist. Sie lassen sich nicht „abschneiden“, aber sie lassen sich begreifen in den Epen, Tragödien, Kunstwerken, in der Poesie und auch in den baulichen Gestalten der Stadt oder in Form baulich-räumlicher Unternehmensdarstellung.

Im Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart-Untertürkheim gibt es sogenannte Mythosräume, die die Markenentwicklung von Mercedes-Benz chronologisch dokumentieren. In einer Art „Zeitmaschine“, die beinahe sakralen Charakter hat, werden Geschichte und Gegenwart erzählt und Devotionalien ausgestellt. Das Unternehmen hat zielgerichtet mit dem Mythosbegriff im Sinne seiner Unternehmenskultur und -kommunikation gearbeitet. Natürlich geht es darum, die Besucher zu beeindrucken, aber die Distanz für eine vergnügliche Rezeption ist in diesem Zusammenhang durchaus gegeben.

Der Begriff des Mythos wird im vorliegenden Text im Sinne von außergewöhnlichen, individuellen und kollektiven Lebensgeschichten verwendet. Jedes Leben ist ein Mythos, so lautete das Thema eines Kunsttherapie-Seminars des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Kunsttherapie im Jahr 2007, das dieses Thema für mich erschlossen hat. Und tatsächlich hat jedes Leben seine außergewöhnlichen Ereignisse, die diesem Leben neue Wendungen geben und die ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben. Eine Besonderheit besteht darin, dass der Sinn gebenden Form der Ereignisse in den Lebensgeschichten nicht unbedingt ein Ursache-Wirkungszusammenhang zugrunde liegen muss. Als kollektive Wunschvorstellungen, zum Beispiel von einem anderen, besseren Leben, können solche Mythen Gruppen von Menschen erfassen. Die Menschen können sich von den Symbolen dieser Geschichten und Vorstellungen ergreifen lassen. Die „himmlischen Helfer“ finden sich in der eigenen Psyche und in dem, was menschliche Vorstellungskraft seit Menschengedenken zusammengetragen hat.


Wie ein Mythos heute wirkt, kann man an den Ereignissen um die Handaufzucht des Eisbären Knut in Berlin durch seinen Pfleger nachvollziehen. Anlässlich des Todes des Pflegers gab es eine beinahe weltweite Trauer, die den Verlust dieser liebevollen Beziehung zwischen Mensch und Tier zum Gegenstand hatte. Es ist der kollektive Mythos von einem Paradies, der sich hier Bahn gebrochen hat, wo Mensch und Tier zusammenleben und der Löwe seinen Kopf in den Schoß des Mädchens legt.

Am Grab des Pflegers stehen heute noch manchmal ergriffene und weinende Menschen. Sie haben sich von dem Mythos mit seinem Symbol, dem Eisbären Knut, verzaubern lassen.


Der Mythos von Hausbesetzungen, die Geschichte langjähriger Kämpfe um Häuser mag die einen faszinieren, die meisten anderen abstoßen. Er findet in der heutigen Zeit nur noch einen begrenzten Kreis von Unterstützern und Nachahmern, die den Mythos „der revolutionären Tat“ wieder aufleben lassen. In den Niederlanden hat die Besetzung alter Lagerhäuser und Fabrikgebäude in jüngster Zeit wieder für Aufmerksamkeit gesorgt: Künstler, Sportler, alleinerziehende Mütter und andere Gruppierungen haben es geschafft „schlafende Riesen“ zu wecken und aus verlassenen Arealen belebte Orte zu machen, wie in der NDSM-Werft Amsterdam geschehen, wo ganz real ein Spielraum für Imagination geschaffen wurde.


Arbeit am Mythos stellt sich als eine Möglichkeit dar, das Geheimnisvolle und Unerreichbare wieder ins Leben zu holen. Der Held, die Freiheit, die Heimat, das Unterwegssein, die Wildnis sind „Kunst-Stoffe“, mit denen sich arbeiten lässt. Der Tierpfleger Dörflein hat unbewusst am Mythos des Paradieses gerührt. Die „Arbeit am Mythos“, wie sie Hans Blumenberg beschrieben hat, stellt Spielräume für Imagination neben den Möglichkeiten, die die Religionen der Welt mit ihren Mythen bereitstellen, sicher. Große Geschichten, die sich in den kleinen Alltag einbetten lassen, können Anlass sein, den Mythos des eigenen Lebens wahrzunehmen und zu entfalten. Wer sich mit ihnen vertraut macht, kann sie im positiven Sinne als „Spielfeld oder als Spielzeug“ nutzen.


Wie ein Mythos, z. B. der Mythos des „Helden“ positiv wirken kann, wie man sich ihn zu Nutzen machen kann, zeigt ein Pilotprojekt des Vereins Strohhalm in Berlin Neukölln, in dem türkisch- und arabischstämmige Jugendliche zu „Heroes“ gegen Unterdrückung ausgebildet werden. Das Geld kommt von der Childhood-Stiftung aus Schweden, wo es schon eine richtige „Heroe-Bewegung“ gibt.

Die Beschäftigung mit Mythen und Märchen und mit den Symbolen als den „Stars“ dieser Geschichten bedeutet dann kein Abgleiten ins Esoterische, sondern spielt eine wichtige Rolle im Hinblick auf Welt- und Selbstverständnis, auf Mut und Zutrauen in das Leben und auf die so notwendigen Gemeinsamkeiten der Menschen in einer Gesellschaft.


Beispiele für den gefährlichen Umgang mit Mythen, solange sie unbewusst, unaufgeklärt und verdrängt bleiben, sind in der Neonaziszene zu finden. Durch Vorstellungen von Männlichkeit, unverletzlichem Germanen- und Heldentum verführt und vom Hass auf die Gesellschaft überwältigt, werden Jugendliche dazu veranlasst kriminelle Taten auszuführen.

Es zeugt aber auch von mangelnder symbolischer Einsicht und vom Ungeschick von Bezirksverwaltung und Wohnungsbaugesellschaft, wenn zum Beispiel ein Haus „von Linken“, für das mit den ehemaligen Besetzern Mietverträge abgeschlossen wurden, verkauft wird. Die Kosten für die Räumung, die der neue Besitzer einfordert, verletzte Polizisten, zerstörte Geschäfte und Sachbeschädigungen kosten ein Vielfaches von dem, was der Verkauf des Hauses eingebracht hatte. Ein Bewusstsein von Mythos und Symbolik, ein einsichtiger und gelassener Umgang mit den Mythen, die auch im modernen Rechtsstaat existieren, könnte solche Eskalationen verhindern.


Mythische Gesellschaften waren Opfer von Mächten, Geistern und Göttern, die das Schicksal der Menschen bestimmten und die von den Menschen durch Opfer und Riten beeinflusst werden konnten. Mythen erzählen von der Wirklichkeit solcher Mächte und von den Wendungen im Leben, aber eben nicht logisch, schlüssig, sondern interpretierend und in Distanz zum realen Geschehen. Mythen erzählen von außergewöhnlichen oder grundlegenden Lebenssituationen, in denen — auch im Leben von Wissenschaftlern und Therapeuten — Monster, Dämonen, Götter, Helden, Hexen, Prinzessinnen und Könige unterwegs sind. In jedem Leben lassen sich solche Mythen der Menschheitsgeschichte dingfest machen.


Freud hat den Ödipuskomplex zur Grundlage von Störungen in späteren Lebensaltern gemacht. Die Psychoanalytikerin Christiane Olivier sieht kleine Mädchen in der Rolle von Jokastes Kindern. In manchen Therapiesitzungen findet sich die Klientin in ihrer Fantasie als Prinzessin wieder, und das rosa Prinzessinnenkleid befindet sich vielleicht auch noch zuhause in einer Ecke hinten im Schrank versteckt. Kollektive Menschheitserfahrungen sind in Mythen wie auch im Unbewussten verankert. Schriftsteller, Drehbuchautoren und Regisseure bedienen sich mit großem Erfolg aus dem Fundus solcher Mythen, wie man an den Figuren von Harry Potter, James Bond oder den Gestalten aus Der Herr der Ringe mühelos erkennen kann. J. R. R. Tolkien war als Sprach- und Literaturwissenschaftler der größte Experte des über 1.000 Jahre alten englischen Heldenepos Beowulf. Diese archaische Dichtung hat ihn zweifellos zum Herrn der Ringe inspiriert und stellt wohl auch den Schlüssel zu diesem Werk dar. Der Erfolg der Filme zeigt deutlich, wie Mythen und Märchen mit ihrer Buntheit und Vielfalt und ihrem unerschöpflichen Reservoir an Bildern und Gestalten den Alltag verzaubern und mit Lust besetzen können, solange sie Kreativ-Spiel-Zeug bleiben.

Wer erzählt legt dar, legt aus, interpretiert, konstruiert, rekonstruiert. Der individuelle Mythos legt die eigene Wirklichkeit zurecht und spielt dabei unter Umständen auch die Rolle der selbsterfüllenden Prophezeiung. Wo die Bindekraft der Arbeit im Schwinden begriffen ist, braucht Identität andere Quellen. „Selbst-Autorisierung“ — etwas, in dem jemand sich selbst zum Ausdruck bringen kann, dadurch, mit welchem Mythen er sich in Verbindung bringt.

Je mehr die eigenen Mythen im Unbewussten bleiben, desto stärker werden sie auch unbewusst als Handlungsanweisungen erlebt und ausagiert. Die Rollen des „Terminators“, des Freibeuters, des Piraten, Odysseus als Held, Madonna oder Antigone als Person die sich geltenden Regeln widersetzt, existieren nicht nur im Außen und in den bekannten Geschichten, sondern auch in der individuellen Psyche als Teil des kollektiven Unbewussten. Menschen besitzen eine Doppelnatur, wenn nicht gar ein inneres Team widersprüchlicher Interessen. Und es ist für jeden einzelnen Menschen selbst äußerst hilfreich die eigenen Anteile zu kennen, um den Angsthasen, den Wolf oder den Löwen in sich zu bändigen, ohne ihn zu erwürgen.


Die Verbindung von eigener Lebensgeschichte oder eigener urtümlicher Lebenssituation mit Mythen der eigenen Kultur oder kollektiven Mythen der Welt ist es, die im Leben und Wohnen in der Stadt einen Ausdruck finden kann.

Bleibt Penelope Odysseus treu, wenn er über zwanzig Jahre lang seine Abenteuer in der Welt sucht? Bleibt die junge Frau ihrem Mann treu, wenn er längerfristig in einer weit entfernten Stadt arbeitet, und welche Zeichen sprechen davon in der Wohnung? Wie eignet sich die Frau ihre Wirklichkeit an, wie geht sie damit um? Wie verwandelt sie ihre Umwelt, wie ist das Verhältnis von physischer Realität und Einbildungskraft, welche Überlebensstrategie setzt sie ein, wie transformiert sie ihre Welt? Odysseus ließ sich an den Mast seines Schiffes binden, um den Gesang der Sirenen zu hören. Er erfährt dabei größte Sehnsucht, aber durch die Fesseln, die er sich selber auferlegt hat, schützt er sich, sein Ich, vor der Gefahr des Verschlungenwerdens.

Der Mythosraum in der Wohnung ist heute meist der Platz am Fernseher, wo sich die Bewohner die Soaps, die Geschichten und Seifenopern der Gegenwart „einverleiben“. Mythosraum kann auch der Platz am Computer sein, wo sich die Welt erschließt, wo Arbeit, Spiel und Entspannung möglich sind, wo sich aber auch ein Spielsüchtiger der Animation eines Computerspiels hingeben und sich von seinem selbst gewählten Mythos kontrollieren lassen kann. Es kann aber auch der Platz am Kamin oder auch der Tisch sein, an dem man sich die Geschichten erzählt, die einen berühren, und die Träume und Einfälle, die man mit den anderen teilen will. Es kann auch das Bett sein. Das Bett, ein Tisch, ein Sessel, ein Schrank, ein Bild, eine Bibliothek können in ihrer Gegenständlichkeit und Materialität Symbole sein, die den Blick auf alte Geschichten und die Möglichkeit gemeinsam Geschichten zu erfahren, zu bewahren und miteinander zu teilen, freigeben. Die Welt lässt sich so transformieren, dass man darin leben kann. Die eigene Lebensgeschichte kann an den Gegenständen dingfest gemacht werden. Die Reise durch das Zimmer kann beginnen.

Symbolische Dimension des Wohnens in der Stadt

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