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1. EINLEITENDE BEMERKUNGEN ZUM GRUNDGESETZ

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Vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur das Recht systematisch ausgehöhlt, missbraucht und verletzt wurde, verabschiedeten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, zu denen Vertreter der neugewählten Landesparlamente gehörten, am 8. Mai 1949 das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. War es ursprünglich als Provisorium bis zur bald erwarteten Einheit Deutschlands gedacht, etablierte es sich schnell in der Bundesrepublik »und bildet heute geradezu ein Identifikationszentrum des deutschen Volkes.«25 Um das Grundgesetz dem Missbrauch und der Einflussnahme tagespolitischer Machtkonstellationen zu entziehen, sind möglichen Änderungen seines Wortlautes hohe Hürden auferlegt. So bedarf es jeweils einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat, um den Wortlaut einzelner Artikel des Grundgesetzes zu ändern. Gänzlich von Änderungen ausgenommen sind Art. 1 und 20 GG sowie all jene Bestimmungen zur Gliederung der Bundesrepublik in Länder und deren Mitwirkung bei der Gesetzgebung (Art. 79 Abs. 3 GG).

Art. 1 GG ist unabänderlich. Seinem Wortlaut zufolge ist die Würde des Menschen, zu deren Schutz die staatliche Gewalt verpflichtet ist, unantastbar. Darauf folgt das Bekenntnis zu Menschenrechten, die ihrem Wesen nach unverletzlich und unveräußerlich sind und die Grundlage menschlicher Gemeinschaft darstellen. Nach der Würde des Menschen und den Menschenrechten wird in Art. 1 Abs. 3 GG der Begriff der Grundrechte eingeführt. Sie binden alle Gewalten im Staat, also die Legislative, Exekutive und Judikative.26 Für die weiteren Gedanken in diesem Kapitel ist es wichtig, wie Menschenwürde und Grundrechte ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Denn davon hängt ab, ob Art. 2 bis 19 GG ebenfalls unveränderlich sind oder Änderungen vorgenommen werden können – also auch Art. 6 GG, in dem Aussagen über die Ehe und die Familie, sowie Elternschaft getroffen werden.27 Bereits der Textbefund gibt verschiedenen alternativen Deutungen Raum. Während Art. 1 bis 19 GG als Die Grundrechte überschrieben sind, ist in Art. 1 Abs. 3 GG die Rede von den nachfolgenden Grundrechten. Daran knüpfen die in der Rechtswissenschaft diskutierten Interpretationen an, von denen stellvertretend zwei entgegensetzte Ansichten vorgestellt werden. Auf der einen Seite steht GÜNTER DÜRIG für die Ansicht, dass die Grundrechte aus der Menschenwürde abgeleitet werden. Art. 1 GG besitzt in diesem Fall »den Charakter eines obersten Konstitutionsprinzips allen objektiven Rechts.«28 Das heißt, dass die Grundrechte jeweils eine Konkretion des Grundsatzes der unantastbaren Menschenwürde sind.29 Sie sind von Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt und werden von diesem Artikel dominiert.30 Dem steht die Auffassung entgegen, dass die Unantastbarkeit der Menschenwürde ein Grundrecht neben anderen ist, wie es beispielsweise von MATTHIAS HERDEGEN vertreten wird. Der materiale Gehalt von Art. 1 GG stelle, so HERDEGEN, keinen expliziten Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Grundrechten her.31 Statt auf einem abstrakten Prinzip liegt der Fokus auf dem Individuum.32 Die Grundrechte zu missachten, bedeutet dann, das Recht eines Menschen zu verletzen und nicht nur gegen ein objektives Prinzip zu verstoßen.33 Wie DÜRIG würdigt aber auch HERDEGEN den Gedanken einer Werteordnung, wonach Art. 1 GG die Grundlage der Grundrechte darstellt. Auf diese Weise wird zum einen der Fokus auf den Wert des einzelnen Menschen gelegt. Zum anderen ist die Menschenwürde ein wiederkehrendes Motiv in den Grundrechten, weshalb beide Begriffe nicht grundsätzlich getrennt voneinander betrachtet werden können – doch eben nicht so, als seien die Grundrechte lediglich eine Ableitung aus der Würde des Menschen.34 Eine verbindende Lesart schlägt HARTMUT KREß vor. Er betrachtet die Menschenwürde sowohl als ein eigenständiges Grundrecht als auch einen grundlegenden Begriff der Verfassung, der durch die nachfolgenden Artikel konkretisiert wird.35 Eine Entscheidung zugunsten einer Lesart muss an dieser Stelle nicht getroffen werden. Vielmehr gilt es, sich beider Lesarten und vor allem der damit verbundenen Frage nach der Möglichkeit von Änderungen von Art. 6 GG bewusst zu sein.

Art. 6 GG gehört zu den Grundrechten. Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG ist alle Gewalt im Staat an diesen Artikel sowie die anderen Grundrechte gebunden. Das Individuum steht im Mittelpunkt der Grundrechte. Sein Verhältnis zum Staat wird durch die Grundrechte bestimmt, denen verschiedene Funktionen zugeschrieben werden. In der Regel sind diese in subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Funktionen unterschieden.36 Zu den subjektiv-rechtlichen Funktionen gehören das Abwehrrecht, das Teilhaberecht sowie das Gleichbehandlungsrecht.37 Als Abwehrrechte garantieren die Grundrechte den Schutz des Individuums vor unverhältnismäßigen Eingriffen des Staates in das eigene Leben. Indem sie »Ansprüche auf die Teilhabe an staatlichen Leistungen, Einrichtungen oder Gütern begründen«38, sind die Grundrechte als Teilhaberechte zu verstehen.39 Schließlich gewährleisten sie als Gleichbehandlungsrechte die gleiche rechtliche Behandlung aller Individuen unabhängig von ihrer offensichtlichen Verschiedenheit. Zu den objektiv-rechtlichen Funktionen, die über die Interessen des Einzelnen hinausgehen, gehören die Ausstrahlungsfunktion, die Schutzpflicht und die Verfahrensfunktion.40 Eine Ausstrahlungsfunktion haben die Grundrechte, insofern sie auf die gesamte Rechtsordnung Einfluss haben. Die Schutzpflicht besteht darin, dass der Staat die Aufgabe hat, die Grundrechte vor Angriffen durch Dritte zu schützen. Schließlich stellt die Verfahrensfunktion der Grundrechte sicher, dass rechtliche Regelungen mit den Grundrechten in Einklang stehen.41 Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu Ehe und Familie ist festzuhalten, dass sowohl die Abwehr- als auch die Teilhabefunktion, sowie die Schutzpflicht auf Seiten des Staates eine hervorgehobene Rolle spielen. Die folgenden Erläuterungen werden dies deutlich machen. Im Wortlaut lassen sich diese verfassungsrechtlichen Sätze in Art. 6 GG finden:

»(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.

(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.

(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.«42

Zu den in Art. 6 GG angesprochenen Themen gehören die besondere Stellung von Ehe und Familie, das Recht und die Pflicht der Eltern, die Kinder zu pflegen und zu erziehen, die Voraussetzung für die Trennung der Kinder von ihren Eltern, der Mutterschutz sowie die Gleichstellung der nichtehelichen mit den ehelichen Kindern.43 Ehe und Familie sind in Art. 6 Abs. 1 GG den anschließenden Bestimmungen vorangestellt, wobei die Ehe keine weitere Erwähnung in den folgenden Absätzen findet. Die übrigen Absätze lassen sich als Regelungen zu Eltern-Kind-Gemeinschaften zusammenfassen und bilden den thematischen Schwerpunkt von Art. 6 GG. Es wäre wohl vorschnell, würde aus den unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten zwischen Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 6 Abs. 2-5 GG auf der Wortebene geschlussfolgert werden, dass Ehe, Familie und Eltern-Kind-Gemeinschaften in keinem Zusammenhang stünden.

Eine solche Schlussfolgerung erscheint allein deshalb bereits als unplausibel, weil im allgemeinen Sprachgebrauch wie auch hier in Art. 6 GG Ehe, Familie, Eltern und Kinder oftmals in einem Atemzug genannt werden. Deshalb ist im Folgenden der Frage nachzugehen, in welcher Verbindung Ehe und Familie zu Eltern-Kind-Gemeinschaften stehen. Darüber hinaus ist aber auch zu fragen, wie sich die Ehe und die Familie zueinander verhalten. Zu diesem Zweck sind der Ehe- und der Familienbegriff zu betrachten. Im Anschluss an die Begriffsuntersuchung ist im Kontext von Erwägungen zum historischen Kontext des Grundgesetzes insbesondere dem Zusammenhang von Ehe und Familie und dem Grund ihres besonderen Schutzes nachzugehen.

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