Читать книгу Von der Form zur Beziehungsgestaltung - Saskia Lieske - Страница 26

2.1 Familiale Lebensformen in Deutschland

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Albrechts Eltern kennen sich schon seit dem Studium. Als dieses vorbei war, beschlossen sie zu heiraten und schon bald kam er zur Welt. Claras Eltern sind seit ihrer Schulzeit ein Paar. Doch auch wenn Familie und Freunde ständig fragen, haben sie bislang noch keine Notwendigkeit gesehen, zu heiraten. Ihre Beziehung funktioniert doch auch so. Wozu also so ein formeller Akt? Die meisten Kinder ihrer Kindergartengruppe haben zwei Omas und zwei Opas. Charlotte hingegen hat vier Omas und vier Opas. Ihre Eltern hatten sich bald nach der Geburt scheiden lassen und sind mittlerweile wiederverheiratet. Zu Charlottes Freude verstehen sie sich sehr gut. So bekommt sie zu Weihnachten nicht nur Geschenke von den Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits, sondern auch von den Eltern der neuen Partner. Ein Geschwisterchen ist auf dem Weg. Hugo wird da manchmal ganz neidisch, wenn Charlotte von ihrer Familie erzählt. Sein Vater ist alleinerziehend. Seine Mutter ist zu ihrem neuen Freund gezogen. Er sieht sie deshalb nur am Wochenende. Sein Vater wirkt oft sehr geschafft, weil er viel arbeiten muss. Im Urlaub war Hugo noch nie gewesen.

So oder so ähnlich sieht es in vielen Kindergartengruppen aus. Diese fiktiven Beispiele sind ein Ausschnitt der Vielfalt familialer Lebensformen, die in der Gesellschaft vorgefunden wird.273 Wenn nun mithilfe der Ergebnisse des Mikrozensus 2017 die Häufigkeit von Familienformen dargestellt werden soll, ist zu berücksichtigen, dass die Vielfalt hinter die Systematik empirischer Kategorien zurücktritt. So werden die Ergebnisse für Familien mit ledigen Kindern unterteilt in Ehepaare, nichteheliche Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende. Ob es sich bei den Ehepaaren aber beispielsweise um Eheleute in erster Ehe wie bei Albrechts Eltern oder um eine Patchworkfamilie wie bei Charlotte handelt, wird nicht erkenntlich. Die Grundlage des Mikrozensus sind die Ergebnisse einer alljährlichen repräsentativen Haushaltsbefragung in Deutschland, für die circa ein Prozent der Bevölkerung befragt wird.274 Themen sind unter anderem Angaben zur Person, zur Bildung, zur Erwerbstätigkeit, zum Wohnsitz oder auch zur Altersvorsorge. Lediglich alle vier Jahre werden die Teilnehmer zu Themen wie Migration und Integration, Sozialversicherungen oder Gesundheit befragt.275

Seit 2005 werden familienbezogene Daten im Anschluss an das sogenannte Lebensformenkonzept publiziert. Nicht allein traditionelle Lebensformen, sondern auch alternative Lebensformen finden im Rahmen dieses Konzepts Beachtung. Dies gilt vor allem für gemischt- und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften, aber auch für Ein-Eltern-Familien. Als Familie gilt diesem Ansatz folgend eine in einem gemeinsamen Haushalt lebende Gemeinschaft von Eltern und ihren ledigen Kindern. Es ist gleich, ob die Eltern miteinander verheiratet sind, in gemischt- oder gleichgeschlechtlicher Gemeinschaft leben oder alleinerziehend sind. Des Weiteren sind sowohl biologische als auch soziale Eltern eingeschlossen. Dementsprechend gelten auch Stief-, Patchwork-, Pflege- oder Adoptivfamilien als Familie.276 Kinder, die zwar in einem Haus mit ihren Eltern leben, aber bereits eigene Kinder haben oder mit einem Partner in einer Lebensgemeinschaft leben, werden nicht der Herkunftsfamilie zugerechnet. Sie stellen – vorausgesetzt sie haben bereits eigene Kinder – eine eigene Familie dar. Ehepartner und Partner in Lebensgemeinschaften, die keine Kinder haben, werden in der Statistik nicht als Familien geführt.277

Aus den umfangreichen familienbezogenen Daten des Mikrozensus kann lediglich eine Auswahl an dieser Stelle dargestellt werden. Leitend soll dabei sein, Erkenntnisse über den prozentualen Wandel der Häufigkeit familialer Lebensformen in Deutschland zu gewinnen. Einen Bezugspunkt stellt dabei vor allem das bereits erwähnte Bild der bürgerlichen Kleinfamilie dar, welche als Ideal in familienbezogenen Debatten oftmals vorzufinden und nach dessen aktueller Relevanz zu fragen ist. Der Schwerpunkt in der folgenden Darstellung der Daten des Mikrozensus soll deshalb auf dem Verhältnis verheirateter Eltern zu anderen familialen Lebensformen, regionalen Unterschieden und zeitlichen Veränderungen liegen.278 Auf diese Weise entsteht ein Eindruck der Häufigkeit familialer Lebensformen, der zugleich eine Grundlage der sich anschließenden theoretischen Betrachtungen der Familie bildet.

Laut Mikrozensus 2017 gibt es in Deutschland insgesamt 8,204 Mio. Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind. 70% der Kinder wachsen innerhalb einer Familie auf, bei der die Eltern miteinander verheiratet sind.279 Allerdings wird nicht zwischen biologischer und sozialer Elternschaft unterschieden. Ob also verheiratete Eltern zugleich die biologischen Eltern sind, bleibt offen. Ebenso gut kann es sich um Patchwork- oder Stieffamilien handeln. In den vergangenen Jahren ist der Anteil der Ehepaare bei Familien mit minderjährigen Kindern kontinuierlich gesunken, wohingegen der Anteil der Eltern in Lebensgemeinschaften oder der Alleinerziehenden stetig gestiegen ist. Während 1996 noch 81,4% der Eltern verheiratet waren, 4,8% in einer Lebensgemeinschaft lebten und 13,8% der Eltern alleinerziehend waren, sank der Anteil der Ehepaare auf jene 70%. Gleichzeitig leben 2017 11% der Eltern in einer Lebensgemeinschaft. Hinzukommen noch 19% Alleinerziehende.280

Bundesweit gesehen wächst eine deutliche Mehrheit der Kinder in Familien auf, bei denen die Eltern miteinander verheiratet sind. Werden die Daten jedoch regional differenziert betrachtet, zeigt sich, dass der Anteil verheirateter Eltern an den Familien stark verschieden ist. Dies gilt vor allem für die Differenzierung zwischen dem alten Bundesgebiet ohne Berlin und den neuen Ländern einschließlich Berlin. Sind in den sogenannten alten Bundesländern 73,9% der Eltern miteinander verheiratet, beträgt deren Anteil in den sogenannten neuen Bundesländern einschließlich Berlin lediglich 52,2%. Ein Großteil der Kinder wächst hier in Familien auf, in denen die Eltern entweder in einer Lebensgemeinschaft miteinander leben (23,0%) oder nur ein Elternteil die Erziehung übernimmt (24,9%). In den alten Bundesländern ist hingegen der Anteil der Eltern in Lebensgemeinschaft (8,7%) gegenüber dem Anteil Alleinerziehender (17,5%) deutlich geringer.281

Familien mit minderjährigen Kindern Neue Bundesländer + Berlin Alte Bundesländer BRD
Ehepaare 52,2% 73,9% 70%
Lebensgemeinschaften 23,0% 8,7% 11%
Alleinerziehende 24,9% 17,5% 19%

(Stand: 2017, Quelle: Mikrozensus 2017)

Wenngleich sich die Prozentzahlen zwischen den alten und neuen Bundesländern teils erheblich unterscheiden, ist beiden Teilen gemeinsam, dass eine zunehmende Vielfalt familialer Lebensformen zu verzeichnen ist. Im Vergleich zu 2017 betrug der Anteil verheirateter Eltern 1996 in den alten Bundesländern noch 84,2%, der Eltern in Lebensgemeinschaften 3,2% und der Alleinerziehenden 12,6%. In den neuen Bundesländern einschließlich Berlin waren 1996 noch 72,3% der Eltern miteinander verheiratet. 10% der Eltern befanden sich in einer Lebensgemeinschaft und 17,7% waren alleinerziehend.282

Familien mit minderjährigen Kindern Neue Bundesländer + Berlin Alte Bundesländer BRD
Ehepaare 72,3% 84,2% 81,4%
Lebensgemeinschaften 10,0% 3,2% 4,8%
Alleinerziehende 17,7% 12,6% 13,8%

(Stand: 1996, Quelle: Mikrozensus 2017)

Festzuhalten ist, dass sowohl auf gesamtdeutscher Ebene als auch regional differenziert der Anteil verheirateter Eltern an den familialen Lebensformen sinkt, wohingegen die Zahl der Alleinerziehenden oder der in Lebensgemeinschaften lebenden Eltern wächst. 283 Insgesamt sind jedoch Familien mit verheirateten Eltern in der Mehrzahl. Deren Anteil steigt, je größer die Zahl der Kinder ist. Bei Familien mit einem minderjährigen Kind im Haushalt sind 61,2% der Eltern miteinander verheiratet. Leben zwei minderjährige Kinder im Haushalt beträgt der Anteil bereits 77,9% und steigt auf 81,5% bei drei oder mehr minderjährigen Kindern. Analog dazu sinken sowohl die Anteile der Alleinerziehenden (von 24,5% bei einem minderjährigen Kind auf 11,9% bei mehr als zwei minderjährigen Kindern im Haushalt) als auch die der Eltern in einer Lebensgemeinschaft (von 14,3% bei einem minderjährigen Kind auf 6,7% bei mehr als zwei minderjährigen Kindern im Haushalt).284 Diese Tendenzen lassen den Schluss zu, dass Ehe und Familie durchaus in einem Zusammenhang stehen. Die Ehe mag dabei keine zwingende Voraussetzung für die Gründung einer Familie sein, wird aber dennoch oftmals mit Blick auf diese eingegangen.285 Ihr wird daher des Öfteren ein instrumenteller Charakter zugeschrieben.286 Die Kernfamilie samt verheirateter Eltern ist dementsprechend durchaus eine dominierende Größe, deren Relevanz mit steigender Kinderzahl wächst. Unabhängig von dieser ehezentrierten Sichtweise kommt hinzu, dass ca. 81% der Kinder mit zwei Elternteilen aufwachsen. Lediglich ein Fünftel der Familien sind Ein-Eltern-Familien. 287 Wird die Kernfamilie also unabhängig vom Familienstand der Eltern definiert und stattdessen berücksichtigt, dass das Kind mit zwei Eltern aufwächst, so kann angesichts der 81% in Zwei-Eltern-Familien aufwachsenden Kinder von keinem Bedeutungsverlust der Familie gesprochen werden.

»Etwa die Hälfte der geschiedenen Ehepaare hatte minderjährige Kinder […].«288 In Zahlen ausgedrückt sind dies 123.563 minderjährige Kinder, die von der Scheidung ihrer Eltern betroffen waren. 153.501 Ehen wurden 2017 geschieden – ca. 11.000 weniger als im Vorjahr. Dem stehen 407.466 Eheschließungen im gleichen Jahr gegenüber. 58.625 davon waren Wiederverheiratungen.289 Zwar lassen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes keinen Rückschluss darauf zu, wie viele Kinder in Familien leben, bei denen die Eltern wiederverheiratet sind, doch führen andere Befragungen zu dem Schluss, dass ca. 7 bis 13% der Familien Stief- oder Patchworkfamilie sind.290 Dahinter verbergen sich variantenreiche Konstellationen hinsichtlich der Familienbeziehungen. Zu Stieffamilien gehören Stiefmutter- oder Stiefvaterfamilien, deren Charakteristikum es ist, dass nur zwischen dem Kind und einem Elternteil ein biologisches Elternschaftsverhältnis besteht – sei es nur mit der Mutter oder nur mit dem Vater – die neue Partnerin oder der neue Partner übernehmen, wie das leibliche Elternteil, die soziale Elternschaft. Darüber hinaus spricht man von einer sogenannten zusammengesetzten Stieffamilie, wenn beide Partner Kinder in die Beziehung mitbringen, aber keine gemeinsamen Kinder haben. Eine Patchworkfamilie besteht dagegen aus in die Beziehung mitgebrachten und gemeinsam gezeugten Kindern.291 Sowohl Stiefmutter- und Stiefvater- als auch zusammengesetzte Stieffamilien können in Patchworkfamilien übergehen. Die Grenzen der Familie gehen gerade aus Sicht der Kinder über die Grenzen des Haushalts hinaus. Während in Familien von Eltern mit leiblichen Kindern die biologische und soziale Elternschaft identisch ist, werden Elternrollen in Stieffamilien mehrfach besetzt. Kinder haben im besten Fall eine Beziehung zum leiblichen Elternteil, welches mit ihm in einem Haushalt wohnt, zu dem getrennt lebenden leiblichen Elternteil sowie zum Stiefelternteil. Von den Eltern und Stiefeltern bedarf diese Familiensituation in der Regel großer Anstrengungen, damit das komplexe Beziehungsgefüge dem Kind Stabilität gewährt. Andernfalls drohen die Risikofaktoren für die Entwicklung des Kindes, die infolge einer Scheidung bestehen, bei neuen Familienbeziehungen zu überwiegen. Als solche Faktoren gelten »eine negative Beziehung zum außerhalb lebenden Elternteil, die Veränderung des elterlichen Erziehungsstils, ungelöste beziehungsweise anhaltende Probleme zwischen den leiblichen Eltern.«292 Entgegen der lange Zeit vorherrschenden Auffassung, dass die Beziehungen des Kindes zu den leiblichen Eltern und die zu den Stiefeltern in Konkurrenz stehen, zeigen neuere wissenschaftliche Studien, dass aus Sicht der Kinder diese Beziehungen unabhängig voneinander sind. Kinder sind also in der Lage, das neue familiale Beziehungsgeflecht anzunehmen.293 Dies heißt jedoch nicht, dass Stief- und Patchworkfamilien dadurch weniger komplexe Gefüge sind. Sie sind ein Resultat von Scheidung oder Trennung der Eltern. Ihre Mitglieder stehen vor besonderen Herausforderungen, da sich das Familienleben aus Sicht der Kinder in mehreren Haushalten abspielt und die leiblichen Eltern trotz Trennung weiterhin ihre elterliche Verantwortung wahrnehmen müssen. Doch kann daraus nicht geschlussfolgert werden, dass sie per se defizitäre Familienformen sind. Sie sind stattdessen Teil der komplexen familialen Wirklichkeit in Deutschland.

Zur familialen Wirklichkeit gehören auch Ein-Eltern-Familien.294 19% der Familien mit minderjährigen Kindern in Deutschland sind Ein-Eltern-Familien – sei es infolge von Trennung/Scheidung oder Verwitwung. Statistisch gesehen stehen diese Familien vor einer besonderen Herausforderung. Bundesweit gesehen betrug die Armutsquote bei Alleinerziehenden 2015 43,8%.295 Arm ist nach der dem Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes zugrunde liegenden Definition derjenige, dessen Einkommen weniger als 60% des durchschnittlichen Einkommens in Deutschland beträgt.296 Seit 2005 ist die Armutsquote der Alleinerziehenden um 11,5% gestiegen.297 Dies korreliert mit dem allgemeinen Trend einer steigenden Armutsquote – trotz der stabilen Wirtschaftslage. Von der Armut der Eltern sind auch die Kinder betroffen. Deren Risiko, von Armut bedroht zu sein, steigt, wenn sie in einer Ein-Eltern-Familie aufwachsen. Wie das Armutsrisiko Alleinerziehender gesenkt werden kann, stellt eine sozialpolitische Herausforderung dar, die hier aber nicht weiter diskutiert werden kann.

Entgegen manch öffentlicher Diskussion über den Niedergang der Kernfamilie weisen die Daten des Mikrozensus darauf hin, dass diese Form eine bleibende Rolle in den Vorstellungen der Menschen über Familie spielt. Der Wandel familialer Lebensformen bezieht sich dann weniger auf das Ideal an sich, sondern vielmehr auf die Art und Weise, wie sich die Kernfamilie zusammensetzt. In einem zweiten Schritt soll daher nach empirischen Befunden zu Familienleitbildern gefragt werden, um auf diesem Weg ein Bild der Vorstellungen und Erwartungen hinsichtlich der Familie zu zeichnen und so den sogenannten Wandel der Familie zu konkretisieren.

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