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1.5 Wandel als Kontinuum der Familiensoziologie

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Den vier soeben dargestellten soziologischen Ansätzen liegen verschiedene Perspektiven auf die Familie zugrunde, wobei sich der praxistheoretische Ansatz von den übrigen abhebt. Im Unterschied zu den anderen Ansätzen liegt sein Schwerpunkt auf der Form des Handelns, wohingegen der Struktur-Funktionalismus, der symbolische Interaktionismus und die Rational-Choice-Theorie den Fokus auf die Intentionen familialen Handelns richten. Trotz des gemeinsamen Anliegens der drei letztgenannten Theorien sind die Wege dahin sehr verschieden. Der Themenkomplex Familie wird aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, die den Eindruck erwecken, als würde es sich dabei um vier sich gegenseitig ausschließende Zugänge handeln.

Aus Sicht des Struktur-Funktionalismus ist die Familie ein System, das im Verbund mit anderen Systemen die Gesellschaft bildet. Der Gesellschaft an sich wie auch den einzelnen Subsystemen ist jeweils eine Ordnung inhärent, mit der Erwartungen bezüglich zu erfüllender Funktionen einhergehen. Um die Stabilität des Systems zu sichern, müssen die Funktionen wahrgenommen werden. Familiales Verhalten wird demzufolge in Bezug zur Gesellschaft betrachtet, womit einhergeht, dass die einzelnen Familienmitglieder nicht im Fokus der Betrachtung stehen. Diese Perspektive auf die Familie wird dagegen beim symbolischen Interaktionismus eingenommen. Vertreter dieses Ansatzes nehmen vorrangig die innerfamiliären Beziehungen in den Blick. Statt eines Systems ist die Familie ein Interaktionsraum. Ihre Mitglieder beziehen sich in ihren Handlungen wechselseitig aufeinander und berücksichtigen dabei sowohl ihre eigenen Erwartungen an die jeweilige Situation als auch die vermuteten Erwartungen der anderen. Aus der Interaktion erwachsen stets Interpretationen der Umgebung. Normen oder Werte, die im Struktur-Funktionalismus ein fester Bestandteil der vorgegebenen Ordnung sind, sind für das familiale Verhalten nicht obsolet geworden, müssen aber in jeder Situation in ihrer Bedeutung für das Handeln vom Einzelnen aufs Neue plausibilisiert werden. Bei beiden Ansätzen ist familiales Verhalten mit Erwartungen konfrontiert, doch sind es beim Struktur-Funktionalismus vorrangig die Erwartungen der Gesellschaft, denen sich die Familie gegenüber sieht, wohingegen beim symbolischen Interaktionismus primär von den Erwartungen Einzelner ausgegangen wird. Einen dritten Zugang zu familialen Verhalten wählen Vertreter der Theorie der rationalen Wahl. Dieser ist allein schon deshalb verschieden, weil er auf ökonomischen Annahmen beruht – genauer auf der Annahme, dass Familien bei ihren Handlungen immer vor einer ökonomischen Entscheidung stehen. Mit einer tatsächlich ausgeführten Handlung gehen immer eine Reihe von abgewählten Handlungsalternativen einher. Jede mögliche Alternative ist mit Opportunitätskosten verbunden, die es im Sinne des größtmöglichen zu erzielenden Nutzens miteinander abzuwägen gilt. Familiales Verhalten aus Sicht der Theorie der rationalen Wahl ist dementsprechend ein Resultat ökonomischer Entscheidungen. Aus der Perspektive praxistheoretischer Zugänge ist die Familie dagegen eine Herstellungsleistung, die auf der Annahme beruht, dass die besondere Intensität familialer Beziehungen nichts Gegebenes ist. Stattdessen muss sie stetig reproduziert werden. Wie dies geschieht und welche Faktoren die Praktiken innerhalb der Familie bestimmen, ist Gegenstand praxistheoretischer Fragestellungen in Bezug auf die Familie.

Struktur-Funktionalismus, symbolischer Interaktionismus, die Theorie der rationalen Wahl und die Praxistheorie stellen vier alternative Zugänge zur Erklärung familialen Verhaltens dar. Statt sich gegenseitig auszuschließen, werden verschiedene Perspektiven und Ansätze gewählt. Familie erscheint als System, als Interaktionsraum, als das Ergebnis ökonomischer Entscheidungen und das Ergebnis einer kontinuierlichen Reproduktion. Von da ausgehend wird familiales Verhalten und Handeln betrachtet. So unterschiedlich die Zugänge sind, so verschieden sind die Erklärungen für Veränderungen dieses Verhaltens beziehungsweise des sogenannten Wandels. Sie beruhen im Fall des Struktur-Funktionalismus auf Veränderungen in den Subsystemen. Da der Einzelne unausweichlich Teil mehrerer Systeme ist, haben Änderungen in einem Subsystem immer auch Auswirkungen auf andere Subsysteme. Tritt beispielsweise die Firma der Mutter in Kurzarbeit, hat dies auch Auswirkungen auf die Rollenverteilung und -erwartung in der Familie, da sie nun mehr Zeit zur Verfügung hat, die sie neu platzieren muss. Wandel im Sinne von Veränderung ist also ein Resultat von sich verschiebenden Ordnungen bei den Systemen innerhalb einer Gesellschaft. Vertreter des symbolischen Interaktionismus dagegen verorten Veränderungen familialen Verhaltens auf der individuellen Ebene. Sie sind Folge von sich ändernden Interpretationen der jeweiligen Situation. Es ist zwar durchaus denkbar, dass diese auch aus Veränderungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen resultieren, doch bleibt der Fokus beim Einzelnen, der Situationen je neu deuten muss. Ebenfalls auf der individuellen Ebene wird der Wandel bei der Theorie der rationalen Wahl erklärt. Er beruht auf den Entscheidungen hinsichtlich der Opportunitätskosten der Handlungsalternativen. In der Praxistheorie lässt sich der Wandel nur schwer fassen, da zu viele Faktoren auf die Reproduktion von Praktiken einwirken. Vereinfacht gesagt, ist er eine Folge dessen, dass sich die Faktoren verändern und Menschen dies in ihren Handlungsformen zum Ausdruck bringen. Insgesamt gesehen beruht Wandel im Rahmen der theoretischen Ansätze jeweils auf Veränderungen der Umwelt, auf die Familienmitglieder reagieren; aber auch auf Veränderungen im Handeln selbst. In der Summe führen diese Reaktionen auf der individuellen Ebene ihrerseits zu Modifikationen in der Umwelt, auf die wiederum reagiert wird.

Im Anschluss an die theoretischen Ansätze erscheint der Wandel im familialen Verhalten als ein kontinuierliches Geschehen. Für sich genommen ist er ein neutrales und Gesellschaften immer schon innewohnendes Geschehen dar.266 Erst die individuelle Perspektive fügt gesellschaftlichen Veränderungen eine Wertung hinzu. Sozialer Wandel kann für den Einzelnen dann entweder Fortschritt oder Verfall bedeuten, doch bleibt er für sich genommen vor allem ein unausweichliches Geschehen. Sowohl der Struktur-Funktionalismus als auch der symbolische Interaktionismus, die Theorie der rationalen Wahl und die Praxistheorie haben bezogen auf familiales Verhalten gezeigt, dass dieses immer im Angesicht externer Einflüsse vollzogen wird. Insofern gehören Veränderungen zum Wesen familialen Verhaltens. Wandel im Sinne von Veränderung geht in allen familienbezogenen Bereichen kontinuierlich vonstatten. Was bislang nur auf theoretischer Ebene überlegt worden ist, soll nun auch für den Bereich der Empirie hinterfragt werden. Im Fokus stehen dabei familiale Lebensformen sowie familienbezogenen Leitbilder. Wenn sozialer Wandel ein kontinuierliches Geschehen ist, sollten unter anderem auch im Bereich der Lebensformen und Leitbilder Veränderungen aufzuzeigen sein.

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