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III. EHE UND FAMILIE IN DER SOZIOLOGIE

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Familie scheint so selbstverständlich zur Lebenswelt der Menschen zu gehören, dass im Grundgesetz lediglich auf Eltern und Kinder verwiesen wird (Art. 6 Abs. 2-5 GG). Zugleich kann die begriffliche Offenheit auch Ausdruck der Unmöglichkeit sein, eine Definition der Familie aufzustellen. Zu vielschichtig sind die Vorstellungen dessen, wer oder was sich hinter der Familie verbirgt, als dass eine zufriedenstellende Definition gefunden werden könnte – weder im Alltag noch in der Wissenschaft.

Begriffliche Offenheit ist kein Euphemismus für definitorische Beliebigkeit. Selbst wenn es eine große Zahl an Familienformen gibt, ist nicht jede zwischenmenschliche Beziehung eine Familie. Menschen in Wohngemeinschaften würden unter Umständen sagen, dass ihre Mitbewohner wie eine Familie für sie sind, aber wohl nur selten, dass ihre Wohngemeinschaft ihre Familie ist. Die beste Freundin kann wie eine Schwester sein, ohne dies im biologischen Sinne zu sein. In Sozialformen begegnen also Aspekte der Familie, doch konstituiert nicht jede zwischenmenschliche Beziehung eine Familie. In der Familiensoziologie wird deshalb versucht, anhand von Kriterien die Familie gegen andere Formen sozialer Beziehungen abzugrenzen. Nach ROSEMARIE NAVE-HERZ sind es drei Kriterien, die eine Familie kennzeichnen. Sie sind allgemein formuliert und lassen Raum für historische, kulturelle oder regionale Ausprägungen: (a) die Reproduktions- und Sozialisationsfunktion, (b) die Differenzierung in mindestens zwei verschiedene Generationen und (c) ein enges Kooperations- und Solidaritätsverhältnis, von dem die Rollendefinitionen ihrer Mitglieder abhängen.139 Anhand dieser Kriterien wird deutlich, dass die Familie einerseits mit Blick auf ihre Stellung in der Gesellschaft, andererseits für sich genommen betrachtet und beschrieben werden kann. Mikro- und Makroperspektive stellen jeweils einen Zugang zur Familie dar.140

Die genannten Kriterien ermöglichen eine universale Perspektive auf die Familie. Ungeachtet der kulturellen und regionalen Vielfalt begegnet hierzulande jedoch häufig die westeuropäische Kernfamilie als normative Familienform. Ihre Wurzeln liegen im aufstrebenden Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Die Industrialisierung war dabei eine treibende Kraft, da mit ihr strukturelle Veränderungen einhergingen, die dazu beitrugen, dass die Familie einen exklusiven Rang einnahm. Sie war die von Emotionalität und Intimität geprägte Gemeinschaft von Eltern mit ihren Kindern. Weit reichende Folgen hatte dabei die Trennung von Arbeits- und Wohnstätte. In wohlhabenden bürgerlichen Familien war es dadurch möglich, dass die Frau zu Hause blieb und sich um dort anfallende Arbeiten sowie die Kindererziehung kümmerte, während der Mann der Erwerbsarbeit nachging. Das war der Grundstein für eine bis in die Gegenwart hinein prägende geschlechtsspezifische Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Für die Kinder bedeutete dies, dass sie in der bürgerlichen Familie als Kinder wahrgenommen wurden und nicht wie vorindustriell üblich vor allem der Existenzsicherung der Eltern dienen sollten. Sie erfuhren eine größere emotionale Zuwendung als zuvor.141 Innerhalb der bürgerlichen Familie hatte sich nicht nur das Verhältnis zu den Kindern verändert, sondern auch das der Partner untereinander. In vorindustrieller Zeit war die Ehe von zahlreichen Reglementierungen begleitet und oftmals nach Absprachen Dritter geschlossen. Dagegen wandelt sich die Ehe im 19. Jahrhundert zu einer auf der Zuneigung beider Partner beruhenden und von beiden frei gewählten Lebensform.142 Der bürgerlichen Kleinfamilie stand die sogenannte proletarische Familie gegenüber: »Diese Familien waren in der Regel arm und auf das Einkommen beider Elternteile angewiesen, Kinderarbeit zunächst noch die Regel. Trotz der überaus beengten Wohnverhältnisse wurde das Haushaltsgeld häufig durch die Aufnahme von Schlafgängern oder Inwohnern aufgebessert.«143 Im Gegensatz zu den bürgerlichen Familien hatten diese Familien nicht die Möglichkeit, auf Einkommen zu verzichten. Stattdessen mussten – wie bereits in vorindustrieller Zeit üblich – auch die Frauen und eine Zeit lang noch die Kinder zum Familieneinkommen beitragen. Die Sicherung der eigenen Existenz stand bei dieser Familienform im Vordergrund. Angesichts dessen verwundert es kaum, dass die seltenere Form der bürgerlichen Familie von der Mehrheit der Familien – nämlich den proletarischen Familien – idealisiert und erstrebt wurde.144 Proletarische Familien waren die Realität, bürgerliche Familien das Ideal.

Das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie hat Bestand, auch wenn es weitestgehend ein solches Ideal geblieben ist. Lediglich in den 1950er und 1960er Jahren war diese Familienform auch die mehrheitlich vorzufindende – zumindest in der Bundesrepublik. In der DDR wurde von Beginn an die Erwerbstätigkeit der Frauen und Mütter gefördert. 145 Auf die Hochzeit der bürgerlichen Kleinfamilie in den 1950er und 1960er Jahren folgte die Zeit der 1968er-Revolution, in deren Folge es in den 1970ern zu einer Pluralisierung der Familienformen kam.146 Würde nun allein die Zeit seit der Industrialisierung betrachtet und die bürgerliche Familie als Ideal angesehen werden, läge es angesichts sich danach verändernder familialer Lebensformen nahe, von einem Verfall der Familie zu sprechen. Bezieht man jedoch auch die vorindustrielle Zeit in die Rede über die Familie ein, wird der kontinuierliche Wandel der Familie deutlich.

Die begriffliche Offenheit der Familie kann kaum umgangen werden. Der Versuch, genauere Definitionen zu gewinnen, läuft in soziologischer Perspektive Gefahr, eine Verengung zu sein. Sei es, weil generell ein eurozentristisches Familienbild zugrunde gelegt wird, sei es, weil Familienformen ausgegrenzt werden, die für viele Menschen ganz selbstverständlich eine Familie darstellen.147 Nichtsdestotrotz ist sie Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen.148 Im Folgenden steht die soziologische Perspektive im Mittelpunkt. Dazu gehören zum einen theoretische Überlegungen zur Familie, mit deren Hilfe familiales Verhalten erklärt werden und prognostizierbar sein soll, und zum anderen empirische Daten, die ausschnitthaft ein Bild gegenwärtiger familialer Realität skizzieren. Die sowohl die theoretischen als auch die empirischen Überlegungen unterstreichen die Komplexität der Familie und können dadurch Argumente dafür liefern, den Familien-Begriff gerade nicht auf eine bestimmte Familienform zu verengen, sondern ihn für die vielfältige familiale Realität zu öffnen.

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