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1.3 Die Theorie der rationalen Wahl

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»Der ökonomischen Theorie – verstanden als eine Wahlhandlungstheorie – geht es um die Bewertung von Alternativen, und sie ist deshalb durchaus in der Lage, familiale Entscheidungen zu erklären und Entwicklungen im Familienbereich zu prognostizieren […] In jeder Familie stellt sich ein für die ökonomische Analyse grundlegendes Entscheidungsproblem, die Auswahl einer Handlungsalternative und damit das Dilemma, die anderen Alternativen nicht realisieren zu können. Der Verzicht auf die Verwirklichung von Alternativen beinhaltet Kosten, die sogenannten Opportunitätskosten, mit denen jede Familie tagtäglich konfrontiert ist. Und dieser allgemeine Sachverhalt ist der Ausgangspunkt der ökonomischen Theorie der Familie.«217 Vorangegangen ist diesem Zitat HERMANN RIBHEGGES die Frage, ob es überhaupt eine ökonomische Theorie der Familie geben könne. Schließlich werden mit der Familie zunächst einmal Begriffe assoziiert, die im Wesentlichen auf Werturteilen beruhen. Dazu zählen Vertrauen, Geborgenheit, aber auch Liebe und Zuneigung. Demgegenüber steht die ökonomische Theorie, die auf der Annahme basiert, dass jeder Einzelne stets und ständig rational handelt und sich bei seinen Handlungsentscheidungen nicht von Emotionen oder Werturteilen leiten lässt.218 Dass dies nicht bedeutet, dass familienbezogene Fragestellungen unter keinen Umständen mittels der ökonomischen Theorie bearbeitet werden können, beruht laut RIBHEGGE darauf, dass Familien vor ökonomischen Entscheidungen stehen.219 Genauer gesagt sind sie bei ihren Handlungen stets mit einer Auswahl von Handlungsalternativen konfrontiert. Um sich für eine Alternative zu entscheiden, gilt es die Kosten abzuwägen, die durch die Wahl der einen Handlungsalternative und der Ablehnung der anderen Alternativen entstehen. Die bei allen Handlungen anfallenden Opportunitätskosten rechtfertigen daher nach RIBHEGGE den Zugang mittels der Theorie der rationalen Wahl, auch Rational-Choice-Theorie genannt.

Im Mittelpunkt der Rational-Choice-Theorie steht die Entscheidung des Einzelnen angesichts verschiedener Handlungsalternativen. Handlungsleitend ist einerseits das Ziel, den Nutzen einer Handlung zu maximieren, und andererseits die entstehenden Opportunitätskosten einer jeden Handlungsalternative mit dem zu erwartenden Nutzen abzuwägen. Der Einzelne agiert dabei als subjektiv-rational handelnder Akteur, der insofern rational handelt, als dass folgende Kriterien seinen Handlungen zugrunde liegen: »Die jeweils ausgewählte Handlung ist unter den gegebenen Mitteln und den vorliegenden Erwartungen optimierend für die Realisierung der Ziele; die Erwartungen werden für die verfügbaren Informationen optimal gebildet; die Informationsbeschaffung ist für die gegebenen Ziele und Mittel unter den vorliegenden Erwartungen jeweils das Resultat einer Optimierung.« 220 Gegenstand einer rationalen Wahl sind demnach ein umfassendes Wissen über das zu realisierende Ziel und eine fundierte Analyse der vorliegenden Handlungsalternativen samt der Abwägung ihrer Konsequenzen.221

Eine Möglichkeit, den eigenen Nutzen zu maximieren, ist der Austausch von Gütern mit anderen Menschen.222 Dabei kann es sich sowohl um materielle als auch immaterielle Güter handeln. Der Austausch materieller Güter fällt hauptsächlich in den Bereich ökonomischer Handlungen. Waren und Dienstleistungen wird ein bestimmter Wert zugeschrieben, der definiert, gegen welche Waren oder Dienstleistungen beziehungsweise Gelder die Güter getauscht werden sollen. Hinzu kommt, dass der Austausch materieller Güter zumeist in einem zeitlich abgesteckten Intervall stattfindet. 223 Tauschhandlungen aus soziologischer Sicht unterscheiden sich davon. Zunächst handelt es sich vorrangig um den Austausch immaterieller Güter wie beispielsweise Anerkennung, Fürsorge oder diverser Hilfeleistungen. Da immateriellen Gütern kein konkreter Wert zugeschrieben werden kann, sondern dieser stets subjektiv ist, kann auch die Gegenleistung nicht adäquat beschrieben werden, wenngleich der Geber diese erwartet und der Empfänger sich für gewöhnlich zu dieser aufgefordert fühlt.224 Trotz der Differenzen ist ökonomischen und sozialen Tauschakten gemeinsam, dass sie unter der Bedingung der Ressourcenknappheit vollzogen werden. Beide Tauschpartner versuchen, einen Gewinn zu erzielen. Für die Entscheidung zu einer Tauschhandlung werden bereits gewonnene Erfahrungen, gesellschaftliche Standards und Alternativen samt ihrer Bewertung hinzugezogen. Auf diese Weise entsteht ein Rahmen, innerhalb dessen Handlungsentscheidungen getroffen werden.225

Austauschtheoretische Überlegungen werden vor allem auf der mikrosoziologischen Ebene angewandt, nämlich beim Einzelnen und seinen Entscheidungen. Dies entspricht der Perspektive der Theorie der rationalen Wahl im Allgemeinen. Erst die Summe der Handlungsentscheidungen Einzelner konstituiert die Gesellschaft.226 Dennoch ist zu überlegen, ob nicht auch die Familie als solche an Austauschhandlungen partizipiert. Indem sie beispielsweise die bereits beschriebene physische und psychische Reproduktionsfunktion wahrnimmt, trägt sie zu einer Entlastung anderer gesellschaftlicher Systeme bei. Diese wiederum ermöglichen ihrerseits der Familie Entlastung.227 Jedoch basieren aus Sicht der Rational-Choice-Theorie solche Handlungen auch auf den Entscheidungen der einzelnen Familienmitglieder und nicht der Familie als solcher.

Neben der Austauschtheorie ist die Theorie der Ökonomie der Familie ein weiterer Zugang zu familialen Phänomen im Kontext der Theorie der rationalen Wahl. Die Familie wird dabei als eine Produktionsgemeinschaft verstanden, die unter Rückgriff auf Marktgüter sowie Zeit und Humankapital nicht-marktfähige Güter, sogenannte commodities, produziert.228 Als auf Marktgüter zurückgreifende Produktionsgemeinschaft unterliegt die Familie Marktbedingungen. In dem eingangs erwähnten Zitat RIBHEGGES wurde bereits erwähnt, dass Familienmitglieder bei ihren Entscheidungen stets mit Opportunitätskosten konfrontiert sind. So können sich beispielsweise Veränderungen der beruflichen Qualifikation auf die Situation der Familie auswirken. Je höher beispielsweise die schulische und berufliche Bildung der Frau ist, desto höhere Opportunitätskosten ergeben sich hinsichtlich der Hausarbeit. Der Grund hierfür ist, dass der Wert der Frau auf dem Arbeitsmarkt steigt, je besser sie qualifiziert ist. Daher wäre es naheliegend, dass sie weniger Zeit im Haushalt und im Gegenzug mehr Zeit im Beruf aufwendet.229 Sich verändernde familiale Rollenstrukturen sind daher als Folge veränderter Opportunitätskosten erklärbar – und nicht zwangsläufig Ausdruck eines Wertewandels. Oftmals unbewusst werden durch das Anliegen der einzelnen Akteure, den Nutzen angesichts knapper Ressourcen zu maximieren, neue strukturelle Handlungsbedingungen geschaffen.230

Die Frage nach der Einstellung zur Berufstätigkeit der Mutter führt ferner zu der allgemeinen Frage nach der Relevanz von Wertvorstellungen im Rahmen der Theorie der rationalen Wahl in Bezug auf familienbezogene Entscheidungen. Wenn der Einzelne seine Handlungsentscheidungen hinsichtlich der Maximierung von Nutzen trifft, bedeutet dies zunächst, dass Werte hierbei außen vor bleiben beziehungsweise lediglich eine marginale Rolle spielen. Dass der Mensch tatsächlich aber stets von Wertvorstellungen umgeben und von diesen beeinflusst ist, wird im Rahmen dieses theoretischen Ansatzes insofern anerkannt, dass Werten eine subjektive Bedeutung zugeschrieben wird. Sie sind insofern relevant, als dass sie für den Einzelnen eine Bedeutung haben und ihn in seinen Handlungsentscheidungen beeinflussen. Der Einzelne verhält sich zu Wertvorstellungen und bezieht sie in seine Entscheidungen ein. Ebenso sieht sich der Einzelne Normen gegenüber, die »gesellschaftliche Erwartungen an die Akteure«231 darstellen. In der Regel wird die Erfüllung dieser Erwartungen durch Sanktionen geregelt, die dann greifen, wenn der Einzelne nicht gemäß der gesellschaftlichen Erwartungen handelt. Trotz Sanktionen sind Normen sowie Werte an den Einzelnen gebunden, weshalb Veränderungen Resultat individuellen Handelns sind.

Das Anliegen der Theorie der rationalen Wahl im Kontext der Familie ist es, Aussagen über typisches familienbezogenes Verhalten zu treffen.232 Ein Beispiel BECKERS zur Teilung von Haus- und Erwerbsarbeit soll der Veranschaulichung dienen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Männern und Frauen aufgrund ihres biologischen Geschlechts unterschiedlich ausgeprägte Ressourcen zur Verfügung stehen. Frauen haben dabei einen relativen Vorteil im Bereich der Erziehungs- und Hausarbeit, wohingegen Männer im Bereich der Erwerbsarbeit Vorteile besitzen. Eine von einer Frau in Erwerbsarbeit investierte Stunde ist demnach weniger produktiv als die eines Mannes.233 Umgekehrt gilt das gleichermaßen für die Erziehungs- und Hausarbeit, wenn diese vom Mann wahrgenommen werden würde. Im Sinne der Austauschtheorie bedeutet dies, dass der Fokus der Frau bei der Arbeitsteilung auf der Erziehungs- und Hausarbeit, beim Mann dagegen auf der Erwerbsarbeit liegen soll. Durch die Spezialisierung auf den Bereich, in dem der Einzelne die meisten Ressourcen hat, wird der Gewinn beider Seiten maximiert. Das gilt auch für die Familie als Produzentin von Gütern, da infolge der ressourcenorientierten Aufgabenteilung die Zeit innerhalb der Familie optimal eingesetzt ist. Die Produktivität – insbesondere der nicht-marktfähigen Güter – wird dadurch gesteigert.234 Der Ausgangspunkt dieses Beispiels, also der Besitz unterschiedlicher Ressourcen aufgrund des biologischen Geschlechts, kann durchaus kritisch gesehen werden, doch gilt es die eigentliche Struktur zu würdigen. Die besteht darin, dass Familien aus ökonomischer Sicht im Sinne der Nutzenmaximierung stets spezialisierte Haushalte sein sollten. Die Aufteilung der Arbeit zwischen Erwerbs- und Erziehungs- beziehungsweise Hausarbeit ist im Kontext der Rational-Choice-Theorie erstrebenswert. Sie muss nicht zwangsläufig an das biologische Geschlecht gebunden sein. Denkbar ist ebenso, dass Väter sich auf die Erziehungs- und Hausarbeit konzentrieren, während Mütter der Erwerbsarbeit nachgehen.235

Familienbezogenes Handeln ist das Resultat von Entscheidungen angesichts zahlreicher Handlungsalternativen. Leitend für die jeweilige Handlungsentscheidung ist das Abwägen der Kosten und Nutzen vor dem Hintergrund der eigenen beschränkten Ressourcen. Das Ziel ist, angesichts der Ressourcenknappheit den eigenen Gewinn zu maximieren. Dies betrifft sowohl den Einzelnen als subjektiv-rational handelnden Akteur als auch die Familie als Produktionsgemeinschaft von nicht-marktfähigen Gütern. Dass ein solches Bild vom Einzelnen als einem Akteur, der stets ein optimales Kosten-Nutzen-Ergebnis erzielt, unrealistisch ist, wurde schon unter Vertretern der Rational-Choice-Theorie kritisch bemerkt. In der Folge kam es zu Modifikationen hinsichtlich der den Akteur betreffenden Prämissen. Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte RREEMM-Modell.236 Die Akteure wählen demnach nicht nur aus bestehenden Alternativen aus, sondern sind durchaus auch in der Lage, Situationen neu zu definieren und infolge dessen neue Handlungsalternativen zu erzeugen: »Sie sind daher kreativ und findig (resourceful), sie sind in ihrem Wissen und ihren Möglichkeiten je nach Situation beschränkt (restricted), sie bewerten ihre Alternativen im Sinne einer Präferenzordnung (evaluating) und haben dabei keine vollständigen Informationen, sondern bestimmte Erwartungen über die Folgen ihres Handelns und das Eintreten von Ereignissen (expecting). Im Lichte all dieser Faktoren sind sie dann nutzenmaximierende (maximizing) Akteure.«237 Statt eines starren Präferenzsystems mit eindeutigen Ordnungen der Wünsche wird hierbei anerkannt, dass der Einzelne sich seiner Präferenzen nicht immer sicher ist und diese auch von äußeren, sich durchaus verändernden Gegebenheiten abhängen. Ungeklärt bleibt bei beiden Perspektiven auf den Einzelnen, welchen Ursprung dessen Präferenzen generell haben. Die Präferenzen werden als gegeben betrachtet. HARTMUT ROSA/DAVID STRECKER/ANDREA KOTTMANN wenden hiergegen ein, dass Präferenzen nicht vor einer Situation gegeben sind, sondern erst infolge der sozialen Interaktion entstehen.238 Ein weiterer Einwand setzt bei der Definition des Nutzens an.239 Aus Sicht ökonomischer Theorie bezieht sich dieser oftmals auf die Komponenten Zeit und Geld. Von Nutzen ist eine Handlung also dann, wenn dadurch ein Zeit- oder Geldgewinn erzielt wird.240 Gerade im sozialen Bereich sind Handlungen oftmals aber nicht von diesen Ergebnissen bestimmt. Stattdessen sind Akteure durchaus bereit, auf Einkommen oder Zeit zugunsten sozialen Engagements zu verzichten.241 Beide Einwände – sowohl die Frage nach der Bedeutung von gegebenen Normen und zugleich deren Ursprung als auch die unpräzise Definition des Nutzens – unterstreichen, dass die rationale Wahl als Grundannahme dieser Theorie vor allem eine Annahme darstellt, die empirisch nicht nachgewiesen werden kann.242

Die theologische Kritik der Theorie der rationalen Wahl kann an die soziologische Kritik anknüpfen. Wenn der Mensch grundlegend über seine Beziehungen bestimmt ist – dies umfasst die Beziehung zu Gott wie auch die zu seinen Mitmenschen – dann dürften deren Erwartungen einen besonderen Handlungsimpuls darstellen. Das heißt nicht, dass der Mensch eine Marionette anderer Personen ist, wohl aber, dass er sich ihnen gegenüber bei seinem Handeln verantworten muss. Eine solche Orientierung an den Mitmenschen lässt das Präferenzsystem jedoch instabil werden, da solche Erwartungen nicht eindeutig vorhersehbar sind. Der Mensch als rational handelnder Akteur scheint demzufolge im Widerspruch zu einer theologischen Sicht auf den Menschen zu stehen. Ferner kann aus kreuzestheologischer Perspektive eingewandt werden, dass der Mensch weniger seinen eigenen Nutzen bei seinen Handlungen steigern soll, sondern entschieden dazu aufgefordert ist, von sich selbst ab- und zu den Schwachen in der Gesellschaft hinzusehen. Nicht der persönliche Nutzen von Handlungen sollte im Mittelpunkt der individuellen Überlegungen stehen, sondern der Nutzen für andere. Insgesamt läuft das der Theorie der rationalen Wahl zugrunde liegende Menschenbild Gefahr, dass der handelnde Mensch in seiner Perspektive vor allem auf sich selbst fokussiert ist und darüber seinen Mitmenschen und Gott aus dem Blick verliert.

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