Читать книгу Von der Form zur Beziehungsgestaltung - Saskia Lieske - Страница 15

3.1 Der Zusammenhang von Ehe und Familie in Artikel 119 WRV

Оглавление

Die Weimarer Reichsverfassung trat am 14. August 1919 in Kraft.84 Sie bildete die staatsrechtliche Grundlage der sogenannten Weimarer Republik.85 Im zweiten Hauptteil wird unter der Überschrift Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen eine Sozialordnung dargelegt.86 Darunter fallen die Bestimmungen zu Ehe und Familie, die in Art. 119–121 WRV niedergeschrieben sind. Diese Artikel bilden den Auftakt zu einer Reihe von Rechtssätzen, die laut Überschrift das Gemeinschaftsleben regeln.87 Für den Zusammenhang von Ehe und Familie ist Art. 119 WRV entscheidend:

»(1) Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter.

(2) Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staats und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge.

(3) Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats.«88

Als Themen werden neben der Ehe und der Familie des Weiteren die Nation, zu deren Erhalt die Ehe dienen soll, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Fürsorge des Staates für Familien und der Schutz der Mutter genannt.89 Auffällig ist im Vergleich mit Art. 6 GG der explizite Bezug zur Nation sowie der deutliche Hinweis, dass die Förderung der Familie und die Fürsorge, insbesondere der kinderreichen Familien, zur Aufgabe des Staates gehören. Dagegen steht die Familie als Institut unter keinem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung, wie es in Art. 6 Abs. 1 GG der Fall ist.90

Zwischen der Ehe und der Familie besteht in der Weimarer Reichsverfassung ein offenkundiger Zusammenhang. Die Ehe bildet die Grundlage des Familienlebens. Mit Blick auf den Wortlaut ist es nicht denkbar, dass die Familie jenseits der Ehe existiert. Beide Institute sind demzufolge aneinander gekoppelt. Spielraum für Interpretation lässt hingegen die Frage zu, ob zu einer Familie zwangsläufig auch Kinder gehören. Zum einen fehlt in Art. 119 WRV eine explizite Definition der Begriffe der Ehe und der Familie.91 Zum anderen impliziert die Bestimmung der Ehe als Grundlage »der Erhaltung und Vermehrung der Nation«92 gemäß Art. 119 Abs. 1 WRV, dass zur Funktion der Ehe auch die Reproduktion gehört. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass auch eine kinderlose Ehe eine Familie im Sinne der Weimarer Reichsverfassung darstellt, weil aus der Grundlage keine Notwendigkeit folgt. Gleichzeitig ist aber zu beachten, dass eine mögliche Interpretation ebenso sein könnte, dass eine kinderlose Ehe kaum gedacht wurde und stattdessen vorausgesetzt wurde, dass im Laufe der Ehe zwangsläufig Kinder entstehen würden. Feststeht, dass Ehe und Familie aneinander gekoppelt sind und dass die Familie eine Ableitung aus der Ehe ist.

Wenn die Familie aus der Ehe abgeleitet wird, ergibt sich die Frage, wie es sich mit dem Schutz durch die Verfassung verhält. Im Unterschied zu Art. 6 Abs. 1 GG wird lediglich die Ehe unter diesen gestellt. Für die Familie wird eine solche Regelung nicht in analoger Weise getroffen. Zwar gibt es laut Art. 119 Abs. 2 WRV den Auftrag an den Staat, »[d]ie Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie«93 zu gewährleisten, doch findet sich kein eindeutiger Hinweis, dass das Institut der Familie unter dem expliziten Schutz der Verfassung stünde. Dies ist möglicherweise so zu verstehen, dass die Verbindung zwischen der Ehe und der Familie als so eng aufgefasst wird, dass die Familie förmlich am Schutz der Ehe partizipiert. Dabei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass gemäß Art. 122 WRV unehelichen Kindern die gleichen Bedingungen für ihre Entwicklung zu ermöglichen sind. Wenngleich also die Ehe und in ihrer Folge auch die Familie eine hervorgehobene Rolle innerhalb der Weimarer Reichsverfassung spielen, wäre es doch eine Verkürzung derselben, würde daraus im Umkehrschluss eine Benachteiligung aller anderen Eltern-Kind-Gemeinschaften gefolgert werden.

Aus dem Gesagten lassen sich folgende Schlüsse ziehen. Zum Ersten steht explizit einzig das Institut der Ehe unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Ob das Institut der Familie aufgrund des engen Bezugs auf die Ehe ebenso an diesem Schutz partizipiert, kann nicht eindeutig gesagt werden. Desgleichen bleibt offen, ob auch kinderlose Ehen als Familie bezeichnet werden, wie aus der Formulierung von Art. 119 Abs. 1 WRV geschlossen werden kann, oder ob nicht vielmehr zwangsläufig davon ausgegangen wurde, dass auf die Eheschließung auch Kinder folgen würden. Zum Dritten wird auch die physische und psychische Entwicklung von unehelichen Kindern berücksichtigt, wenngleich aufgrund fehlender Begriffsdefinitionen vom Gesetzestext her offen bleibt, ob die Gemeinschaft eines alleinerziehenden Elternteils und seines Kindes überhaupt als Familie bezeichnet wird. Hinsichtlich Art. 6 GG wird ersichtlich, dass die Bestimmungen in Art. 119–121 WRV als Grundlage dienten: Ehe und Familie stehen in einem Zusammenhang, seitens des Staates ist die Ehe zu schützen und die Familie sowie die Mutterschaft zu fördern (vgl. Art. 119 WRV), Eltern wird das Recht und die Pflicht zur Erziehung ihrer Kinder gegeben (vgl. Art. 120 WRV) und unehelichen Kindern sind gleiche Bedingungen für ihre Entwicklung zu schaffen (vgl. Art. 121 WRV). Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates nahmen all dies auf, führten aber mit Blick auf das Verhältnis von Ehe und Familie eine Änderung durch, wie im Folgenden dargelegt wird.

Von der Form zur Beziehungsgestaltung

Подняться наверх