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1.4 Die Praxistheorie

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Bei den soeben dargestellten soziologischen Theorien liegt das Hauptaugenmerk entweder auf den Strukturen oder auf dem Handeln. Die trennscharfe Unterscheidung in Struktur und Handeln aufzuheben, ist das zentrale Anliegen jener Ansätze, die zu dem Bereich der sogenannten Praxistheorie beziehungsweise Praxeologie zählen. Die Gemeinsamkeit der vielfältigen Ansätze, die auf die Praxistheorie bezogen sind, sind die Praktiken als »fundamentale, theoretische Kategorie«243. Durch sie soll eine Verbindung von Struktur und Handeln geschaffen werden, die deren wechselseitige Bezogenheit zum Ausdruck bringt.244 Aufgrund der umfangreichen Rezeption der praxistheoretischen Ansätze, ist zuweilen auch die Rede von einem »practice turn«245 der Soziologie. Seit den 2000er-Jahren wird diese Wende zunehmend auch im deutschsprachigen Raum vollzogen. Gleichzeitig ist die Wende zu den Praktiken auch eine Wende zur Empirie.246 Weder bei der Theorie des Struktur-Funktionalismus noch der des symbolischen Interaktionismus oder bei der Rational-Choice-Theorie spielt Empirie eine wichtige Rolle. Vielmehr basieren sie auf Annahmen über die Gesellschaft oder auf bestimmten Prämissen, die jedoch nicht mit empirischen Kenntnissen korrelieren müssen. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Praxistheorie eine Abkehr von den zuvor dominierenden soziologischen Theorien samt ihrer Paradigmen darstellt.247

Aufgrund der Vielzahl praxistheoretischer Perspektiven auf die Familie kann nur ein kleiner Einblick in diesen soziologischen Zugang gewährt werden. Die Fokussierung auf die diversen Praktiken hat zur Folge, dass vor allem einzelne Fragestellungen thematisiert werden. Das Anliegen dieser Arbeit ist jedoch die Frage nach grundlegenden Zugängen zur Familie. Aus soziologischer Perspektive werden diese vor allem durch die vorherigen Theorien dargestellt, sodass auf diesen auch der Schwerpunkt liegt, obwohl innerhalb der Soziologie praxistheoretische Ansätze zunehmend wichtiger werden. Von Bedeutung sind diese mit Blick auf den Bereich der Familie vor allem deshalb, weil die Beziehungen in den Fokus rücken.

Was ist unter Praktiken zu verstehen? HILMAR SCHÄFER bietet folgende Definition an: »Praktiken sind das Tun, Sprechen, Fühlen und Denken, das wir notwendig mit anderen teilen. Dass wir es mit anderen gemeinsam haben, ist Voraussetzung dafür, dass wir die Welt verstehen, uns sinnvoll darin bewegen und handeln können. Praktiken bestehen bereits, bevor der oder die Einzelne handelt, und ermöglichen dieses Handeln ebenso wie sie es strukturieren und einschränken. Sie werden nicht nur von uns ausgeführt, sie existieren auch um uns herum und historisch vor uns. Sie zirkulieren unabhängig von den einzelnen Subjekten und sind dennoch davon abhängig, von ihnen aus- und aufgeführt zu werden.«248 Folgt man diesem Zitat, so umfassen Praktiken verschiedene Lebensvollzüge des Menschen. Nicht nur das Handeln im Sinne der Umsetzung getroffener Entscheidungen, sondern auch sein Denken und Fühlen gehören dazu. Hierdurch rückt die Form einer Handlung in das Interesse der Theorie, wohingegen gerade beim Struktur-Funktionalismus und bei der Rational-Choice-Theorie der Mensch als intentional Handelnder den Überlegungen zugrunde lag. Obwohl eine Praxis von einem Menschen vollzogen wird, tut er das nicht allein. Vielmehr wird dies immer auch von anderen getan, wodurch die soziale Anerkennung von Praktiken stetig reproduziert wird. Dabei ist die Reproduktion durch Praktiken ein Geschehen der Gegenwart, in dem gleichwohl Vergangenes vergegenwärtigt wird und in diesem Sinne eine Reproduktion geschieht. Dies klingt in dem Zitat an, wenn die Rede davon ist, dass Praktiken auch vor uns seien.249 Hierin besteht eine Nähe zu Strukturen, insofern diese etwas Gegebenes darstellen, an dem der Einzelne partizipiert. Aus praxistheoretischer Sicht geschieht dies durch den kontinuierlichen Vollzug einer Praxis. Gleichwohl können sich Praktiken auch verändern – nicht durch den Einzelnen, wohl aber durch die Transformation der Praxis.250 Daran wird der wechselseitige Zusammenhang vom Vollziehen der Praktiken und ihrem Bestehen erkennbar. Denn obwohl der Einzelne mit seinen Handlungsformen eine Praxis nicht ändern kann, ist dies durch einen größeren Kreis von Akteuren möglich. Praktiken, die nicht mehr vollzogen werden, werden auch nicht mehr reproduziert und sind infolgedessen fortan kein Bestandteil der sozialen Ordnung. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei in aller Regel um einen langwierigen Prozess handelt.251

Zu den wichtigen Dimensionen praxistheoretischer Ansätze gehören die Zeitlichkeit, die Körperlichkeit und die Materialität des Sozialen. 252 Die Zeitlichkeit des Sozialen ist darin begründet, dass Praktiken vom stets aufs Neue erfolgenden Vollzug abhängig sind. Sie geschehen dementsprechend in der Zeit, woraus folgt, dass sich Praktiken verändern. Denn die Bedingungen, unter denen sie vollzogen werden, sind wandelbar. Für die Theoriebildung hat die Berücksichtigung der Zeitlichkeit zur Folge, dass die Entwicklung normativer Aussagen oder präziser Definitionen kein Anliegen praxeologischer Ansätze ist.253 Mithilfe des Bezugs auf die Körperlichkeit wird darauf hingewiesen, dass Praktiken unter der »Beteiligung von Körpern und Körperbewegungen«254 geschehen. Dadurch wird der Mensch auch mit seinem Körper wahrgenommen, mit dem er Praktiken vollzieht und der den Vollzug mitbestimmt. Exemplarisch kann hier der Zusammenhang von Sexualität und Alter genannt werden, dem darüber hinaus auch die Zeitlichkeit zugrunde liegt. Denn durch den alternden Körper verändern sich die Formen, Sexualität zu leben. Schließlich findet auch die Materialität des Sozialen eine stärkere Beachtung, wozu »die Relevanz und der Gebrauch von Artefakten, Technologien, Räumen, Medien und Bildern«255 für das Soziale zählt.

Da die Formen von Handlungen im Sinne der Praktiken unter besonderer Berücksichtigung von Zeitlichkeit, Körperlichkeit und Materialität den Schwerpunkt praxistheoretischer Ansätze bilden, können sie in verschiedenen Themenbereichen angewendet werden und dabei eine Vielzahl von Perspektiven eröffnen. Übertragen auf die Familie gilt deshalb, dass es nicht den einen praxistheoretischen Zugang zu ihr gibt. Stattdessen werden einzelne Dimensionen der Familie unter praxeologischen Gesichtspunkten untersucht. Daher kann im Rahmen dieses soziologischen Kapitels, das einen Einblick in familiensoziologische Perspektiven gewähren soll, nur ein erster Eindruck von »Praktiken der Herstellung und Gestaltung persönlicher Beziehungen zwischen Generationen und gegebenenfalls auch Geschlechtern«256 vermittelt werden. Wenn, wie in diesem Zitat, die Rede davon ist, dass Familien hergestellt werden müssen, impliziert dies, dass Familien nicht zwangsläufig mit der Eltern-Kind-Gemeinschaft gegeben sind. Vielmehr muss die familiale Beziehung hergestellt und reproduziert werden. Laut KARIN JURCZYK sind es verschiedene Umstände, die die Familie nicht mehr als Selbstverständlichkeit erscheinen lassen. Dazu gehört die »Ent-Traditionalisierung«257, mit der einhergeht, dass die Familie ein Lebensentwurf neben anderen ist, die »Individualisierung«258, die es besonders erschwert, Familie als eine gemeinsame Beziehung zu leben, sowie die Verbindung der Familie mit anderen sozio-ökonomischen Bereichen, in denen sich ebenfalls Veränderungen vollziehen.259

Zur Herstellung und Gestaltung der familialen Beziehung schlägt JURCZYK folgende drei grundlegenden Formen vor: Als Erstes spricht sie von »Balancemanagement«260. Dabei geht es im Wesentlichen darum, die unterschiedlichen Bedürfnisse der Familienmitglieder in Bezug auf die Familie und andere soziale Kontexte, in denen sie sich bewegen, in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Die zweite Form bildet die »Konstruktion von Gemeinsamkeit«261. Dadurch wird eine identitätsstiftende Gemeinschaft hergestellt, die Familie. Als Drittes kommt das Konzept des »Displaying Family«262 hinzu, dem eine Inszenierung des Familienlebens nach außen hin zugrunde liegt, um so die Familienform zu legitimieren. Diese drei Formen stellen Grundformen dar, die auf die verschiedenen Situationen von Familie angewendet werden können. Für die Anwendung gibt es kein bestimmtes Schema; vielmehr ist die Frage leitend, welche Form von Familie hergestellt werden soll, wobei auch dies variieren kann. Beim Balancemanagement scheint es generell darum zu gehen, dass die Familie einen Fortbestand hat, da sie gänzlich auseinanderzufallen droht, wenn die verschiedenen Bedürfnisse nicht miteinander abgestimmt werden können. Die Form der Konstruktion von Gemeinsamkeit zielt hingegen auf eine möglichst enge Beziehung unter den Familienmitgliedern. Familie wird hier vor allem als wichtiger Bestandteil der eigenen Identität konstruiert. Displaying Family ist dagegen im Wesentlichen nach außen gerichtet. Es erweckt den Eindruck, dass die Familie weniger für ihre Mitglieder herstellungsbedürftig ist, als vielmehr nach außen gegenüber anderen, die bestimmte Familienformen in Frage stellen.

Einen anderen, wenngleich nicht im Widerspruch stehenden, Akzent setzt ANDREAS RECKWITZ bezüglich der Praxis der Familie. Die Herstellungsleistung besteht bei ihm in der Entscheidung für eine Familie. Da die Gründung einer eigenen Familie heutzutage kein zwangsläufiger Bestandteil des Lebenslaufs, sondern oftmals – zumindest in der westlichen Gesellschaft – eine bewusste Entscheidung ist, sind Gründe für diesen Schritt erforderlich. Von besonderem Gewicht ist dabei die Aussicht, dass das Kind eine Bereicherung des eigenen Lebens darstellt, da es dessen Möglichkeiten zur Entfaltung des eigenen Subjekts vergrößert. Durch das Kind und die damit verbundene neue Rolle als Mutter oder Vater kann der Mensch sich selbst und seine Wahrnehmung erweitern. 263 Die Entfaltung von Potentialen wird dann, so RECKWITZ, auch auf die Eltern-Kind-Beziehung übertragen, indem Erziehung im Wesentlichen darin besteht, die Potentiale des Kindes zu fördern. Gleichwohl regen die Eltern dies nur an. RECKWITZ spricht deshalb auch von »Selbstsozialisation«264, da das Kind selbst seine Potentiale entdecken und weiterentwickeln soll. Um dies zu ermöglichen, besteht die Aufgabe der Eltern darin, für die »emotionale Stabilität und Fürsorge«265 des Kindes Sorge zu tragen.

Insgesamt ist die große Variabilität des praxistheoretischen Ansatzes zu beachten. Seine Stärke liegt unter anderem darin, dass die Handlungen samt des Beziehungsgefüges im Mittelpunkt stehen. Die zugrunde liegende Frage, wie die Beziehungen durch Praktiken gestaltet werden, lässt sich auf die unterschiedlichsten Situationen von Familie anwenden, unabhängig von deren konkreter Form. Dadurch gerät auch der Wandel familialer Formen in den Hintergrund und der Ansatz ermöglicht eine Fokussierung auf das alltägliche Leben von Familie.

Kritisch ist jedoch anzufragen, ob die geforderte Herstellungsleistung letztlich nicht eine Überforderung des Menschen darstellt. Zwar vergegenwärtigt er vergangene Praktiken durch den Vollzug, doch die Rede von Herstellung und Reproduktion lässt diesen Aspekt in den Hintergrund treten. Hinzu kommt, dass zwar anzuerkennen ist, dass normative Vorstellungen von der Familie als Einschränkung individueller Gestaltungsfreiheit empfunden werden können. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob ihnen gegenüber prinzipiell eine kritische Haltung eingenommen werden muss. Oder kann die Ausrichtung an solchen Vorstellungen auch eine Entlastung für den Einzelnen darstellen? Festzuhalten ist trotz der kritischen Anfragen, dass die Betonung der Familienbeziehung einen wichtigen Impuls in der Diskussion um Familienformen und alternative Zugänge zur Familie darstellt.

Von der Form zur Beziehungsgestaltung

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