Читать книгу Schicksal, Tränen und doch das Glück: Arztroman Sammelband 4 Romane - A. F. Morland - Страница 12
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ОглавлениеWie er es von früher kannte, so war auch an diesem Abend die Wirtschaft voll besetzt. Sie ersetzte sozusagen das Tagesblatt. Nach der Arbeit ging man auf einen Schoppen in die Wirtschaft, und dort erfuhr man alles Wissenswerte. Die Debatten waren sehr heftig, und manchmal hatten sie solche Ausmaße, dass der Wirt dachte: Gleich schlagen sie mir die Wirtschaft entzwei. Er kannte seine Hitzköpfe, und wenn zwei aneinander gerieten, dann wurden Tische und Bänke zurechtgerückt. Natürlich ließen sich die anderen Gäste die feine Prügelei nicht entgehen. Es wäre auch nicht das erste Mal. Heuer hatte er vier Tage nach Pfingsten die Wirtschaft geschlossen halten müssen, um sämtliche Schäden wieder ausbessern zu können.
Als nun die Tür aufging und ausgerechnet der Stefan und sein Verwalter die Stube betraten, herrschte für einen Augenblick beinahe tödliche Stille. Die meisten bekamen vor Verwunderung den Mund nicht zu. Stefan ahnte, worum es vorhin gegangen war. Aber er tat sehr freundlich, bot dem Verwalter einen Stuhl an und bestellte für sie beide Bier. Dass er sich einen Verwalter leisten konnte, das wurmte die meisten ohnehin schon lange. Und jetzt kam er sogar ganz öffentlich mit zu ihnen in die Wirtstube!
Stefan bemerkte auch Tobias Haflinger und grüßte zu ihm hinüber. Schließlich waren sie zusammen in die Schule gegangen. Stefan hatte sich nie stolz erhoben, weil er studiert hatte.
»Grüß dich, Tobias! Ist recht, dass ich dich hier treff. Da brauch ich dich nicht daheim aufzusuchen.«
»Willst mich privat oder dienstlich sprechen?«
»Na, wenn du mich so direkt fragst, so halt beides. Aber komm doch an meinen Tisch. Näher red es sich viel besser. Ich geb dir auch ein Bier aus.«
»Dienstlich? Sollen wir da nicht in die Stube nebenan gehen?«, tat der Bürgermeister wichtig.
»Ach nein«, winkte Stefan ab. »Was ich dir zu sagen hab, das wird doch bald das ganze Dorf erfahren.«
Tobias wurde knallrot und fauchte ihn wütend an: »Willst du vielleicht damit sagen, dass ich ein Tratschweib bin und Amtsgeschäfte an die große Glocke hänge?!«
Stefan Kaingruber merkte in diesem Augenblick, dass er unwillkürlich genau ins Schwarze getroffen hatte. Wenn auch er nicht alles ausplauderte, so doch seine Judith. Die horchte immer an der Tür, wenn es was zu bereden gab, und die konnte nie lange etwas für sich behalten.
Johannes, der Verwalter, machte schon ernste Augen. Aber Stefan brauchte sich wegen einer Prügelei nicht zu fürchten. Er war groß und bärenstark.
»Nein«, sagte er ruhig und holte sich eine Zigarette aus der Schachtel. »So hab ich das ja gar nicht gemeint, Tobias. Ich mein, das Dorf geht es auch was an. Darum hab ich das eben gesagt.«
»Das ist was anderes, Stefan. Nun, wenn du nichts dagegen hast, ich möcht mich schon dran beteiligen.«
»Wie? Was?« Sein Erstaunen war wirklich echt. »Was willst du, Tobias?«
»Nun, du bist doch gekommen, um deinen Hof aufzulösen. Wird ja auch mächtig Zeit. Ein Weib kann nun mal einen so großen Hof nicht führen. Dazu braucht man halt einen wirklichen Mann.« Sie warfen dem Verwalter einen hämischen Blick zu.
Stefan sagte: »Irrst dich, Haflinger. Und was meine Schwester betrifft, ich glaub, davon kann sich so manch ein Bauer in der Umgebung - ich will keinen Namen nennen - eine Scheibe abschneiden. Und die haben noch nicht mal so viel Verantwortung. Meine Schwester verwaltet ihn, wie ich es wirklich nicht hätte tun können.«
Für einen Augenblick war betretenes Schweigen. Jeder sah den anderen bärbeißig an. Wen zum Teufel hatte er gemeint? Da gab es eine ganze Menge Kerle, die die Arbeit den Frauen überließen, nur das Nötigste taten, sich einen feinen Tag machten und viel lieber unten in der Wirtschaft saßen. Aber Stefan sprach schon weiter: »Nein, ich will meinen Hof nicht verkaufen. Wer dieses Gerücht in die Welt gesetzt hat, weiß ich nicht. Es stimmt, dass ich jetzt daheim bleiben will, das hat seine Richtigkeit. Und darum, Tobias, muss ich auch mit dir reden.«
Der lachte auf, aber es klang nicht echt. Man sah ihm seine Enttäuschung an.
Stefan sagte: »Oder hast du vielleicht meinen Hof kaufen wollen?«
Tobias schlug hastig die Augen nieder. Aber zwei, die es dem Tobias auch nicht gönnten, kicherten und sagten lachend: »Er hat sich schon ganz als Besitzer gesehen - wenn nicht so, dann halt so ...«
»Was heißt das?«
Tobias warf dem Schwätzer einen so bösen Blick zu, dass dieser sich hinter dem Ofen verkroch und den ganzen Abend nicht mehr zu Wort kam. Dann wandte er sich abrupt zum Stefan herum und sagte: »Na, da hast du dir ja wirklich ein großes Nest ausgesucht, wenn du dich hier niederlassen willst. Also, wir haben alle unseren Doktor in Ellmau oder Rettenbach sitzen, und wir denken nicht daran, ihnen jetzt untreu zu werden. Und wenn wir einen Spezialisten wollen, dann gehen wir nach Kitzbühel oder Innsbruck.« Es sollte eine Beleidigung sein, aber einen Stefan Kaingruber konnte man nicht beleidigen. Ruhig entgegnete er: »Ich hoffe auch schwer, dass ich niemals einem von euch meine Dienste anbieten müsste, oder dass einer zu mir kommen müsste. Das tät mir jetzt schon wirklich sehr leid.«
Wieder betretenes Schweigen.
Tobias sagte hitzig: »Bist jetzt ein Menschendoktor oder nicht?«
»Freilich bin ich einer. Willst mein Diplom sehen, Tobias? Aber streiten wir uns nicht. Nein, ich bin Chirurg. Und ich bin gern bereit, wenn Not am Mann und euer Hausarzt nicht so schnell zur Stelle ist, einzuspringen. Dagegen hab ich nichts. Aber ich will ein Sanatorium, eine Privatklinik aus meinem Hof machen. Ein Haus für Kinder, die so wüste Verunstaltungen im Gesicht haben, herbeigeführt durch alle möglichen Dinge, angeboren oder durch Unfälle und vieles mehr. Diesen Kindern möchte ich helfen. Man kann ihnen durch viele Operationen wieder ein neues Gesicht geben. Aber das dauert eben sehr lange, und um es ihnen so leicht wie möglich zu machen, möchte ich sie nicht in Wien behandeln, sondern hier, in unseren Bergen. Schon die Bergluft wird viel dazu beitragen, dass sie schneller an Leib und Seele gesunden werden.« Er hatte so leidenschaftlich gesprochen, dass viele der einfachen Dörfler tief beeindruckt waren. Johannes, sein Verwalter, sah ihn mit leuchtenden Augen an. Aber in die Stille, die darauf folgte, schlug die Faust des Bürgermeisters hart auf den Holztisch.
»Nein«, keuchte er, »das lass ich nie und nimmer zu! Dazu wirst du vom Gemeinderat nie die Genehmigung erhalten. Dafür werd ich schon sorgen!«
Doktor Kaingruber runzelte die Stirn.
»Tobias, was ist? Wieso regst dich so auf?«
»Ich soll mich nicht aufregen, wenn ich hör, welch Volk du hier anschleppen willst? Unsere Kinder sollen wohl das Grausen kriegen, wie? Und wir selbst, wir können uns ja nicht mehr frei im Dorf bewegen, wenn solche mit so schaurigen Gesichtern hier herumspazieren und sich breitmachen. Nie und nimmer wird das geschehen! Dazu ist mir unser Scheffau denn doch zu wertvoll.«
Viele nickten hastig. Daran hatten sie noch gar nicht gedacht. Ihre Kinder, natürlich! Im ersten Augenblick hatte sie nur das Mitleid gepackt. Aber jetzt, wenn sie sich so recht die Sache überlegten ... Wirklich, was sich der Stefan da ausgedacht hatte, also wirklich, das war arg stark.
»In der Stadt will man sie also nicht mehr haben, und da glaubt man, hier bei uns, wir blöden Hinterwäldler wären wohl gut genug dazu, wie?« Tobias wurde bös und zornig, wie schon lange nicht mehr.
Stefan war im ersten Augenblick wie vor den Kopf geschlagen. Mit dieser Möglichkeit hatte er nicht gerechnet. Dann fiel ihm blitzschnell ein, dass man diese Querköpfe auch anders packen konnte.
»Ihr wollt doch immer den Tourismus hierher haben. Jetzt habt ihr die Möglichkeit, durch mich zu verdienen ... und jetzt schlagt ihr sie einfach aus?«
»Touristen?« Der Wirt wurde sofort hellwach. »Welche Touristen denn?«
»Nun, bestimmt werden die Kinder regelmäßig von ihren Angehörigen besucht. Die Reise ist oft sehr weit, und so wird man doch bestimmt versuchen, im Ort eine Übernachtung zu bekommen. Vielleicht bleibt die eine oder die andere Mutter auch länger in der Nähe ihres unglücklichen Kindes und mietet sich ein paar Stuben. Ich brauche Hilfe in der Klinik, und ich muss so vieles haben, dass ich das über das Dorf und deren Einwohner gehen lassen könnte. Ihr seht, ihr profitiert noch von meiner Klinik.«
Geld? Man konnte Geld durch den Stefan verdienen? Beim Teufel, leicht verdientes Geld! Das war ja grad das, wonach man die ganze Zeit schielte. Und so eine Klinik, die war nicht so wetterwendisch wie Touristen: dieses Jahr hier und das nächste Jahr woanders. Und noch hinzu kam: Die Klinik war immer geöffnet, nicht nur in den Ferienmonaten.
»Man sollte es sich wirklich überlegen«, kam von hier und dort eine zögernde Stimme. Andere fielen ein: »Wirklich, und man könnte dem Stefan ja dann auch sagen, dass die Kinder dort bei der Klinik bleiben und er vielleicht eine hohe Mauer um sein Anwesen bauen lässt. Dann brauchen wir die Kinder nicht zu sehen.«
»So, so«, sagte der Doktor Stefan hart. »So also seht ihr das! Mein Geld also wollt ihr haben, aber die Kinder, nein!« Er stand auf und war wütend.
Der Bürgermeister sagte ätzend: »Geld hin und Geld her, du wirst es nicht können. Das verbiete ich dir, verstehst du?«
»Ja, kannst mir auch den Grund nennen, warum du so dagegen bist?«
»Den hat man dir grad laut genug gesagt«, gab er grob zurück.
Stefan lächelte. Dass der Doktor sogar noch einen Kopf größer war als er, das wurmte ihn, und jetzt fühlte er insgeheim auch wieder die alte Demut vor dem stärkeren Buben.
»Weißt du, Tobias, ich hab so das Gefühl, dass das nicht der wirkliche Grund ist. Und was ich noch sagen wollte - also, meine Klinik, ob sie aufgemacht wird oder nicht, das entscheidest nicht du, sondern die Kreisverwaltung. Ich bin als Freund gekommen und wollte euch die Hand reichen. Ich bin doch einer von euch, und als solcher wollte ich bei euch bleiben, für immer. Aber ihr wollt es ja anders. Ich bekomme die Genehmigung, Tobias. Kannst ruhig Blut und Galle spucken, die Klinik wird eröffnet.«
»Wenn du das tust«, keuchte dieser, »wenn du das wirklich fertigbringst, das Dorf so bös vor den Kopf zu schlagen, da wirst du für alle Zeiten verfemt bleiben; und du kannst merken, wie es sich dann hier leben lässt. Jawohl!«
Stefan nahm seinen Hut, legte das Geld für die Zeche auf den Tisch, nickte den anderen freundlich zu und ging zur Tür.
Draußen blieb Johannes stehen und wischte sich über die Stirn.
»Ich hab es so kommen sehen«, sagte er leise. »Nach allem, was gewesen ist!«
»Herrje, immer nur Andeutungen! Was ist denn jetzt wirklich hier los, Johannes? Können Sie mich nicht aufklären? Der Tobias ist ja so wütend auf mich, warum denn nur?«
Sein Verwalter machte ein verlegenes Gesicht.
»Ich möchte mich da raushalten. Es ist nicht meine Sache. Aber ich glaube, wenn Sie wirklich wissen wollen, warum er so bös auf uns zu sprechen ist - ich mein auf den Hof - dann fragen Sie doch Ihre Schwester. Vielleicht gibt Sie Ihnen die gewünschte Auskunft.«
Bei diesen Worten waren sie wieder oben angelangt. In der Stube brannte noch Licht. Johannes verabschiedete sich und ging zu seiner Behausung hinüber.