Читать книгу Schicksal, Tränen und doch das Glück: Arztroman Sammelband 4 Romane - A. F. Morland - Страница 20
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ОглавлениеEs würden Wochen vergehen, bis man endlich den Verband abnehmen durfte, um das Resultat zu sehen. Diese Zeit des Wartens und des Hoffens war schrecklich für alle Teile. Aber Wolfgang war tapfer und so gelassen - ja, er munterte die anderen Kinder noch auf, die ihre Operationen noch vor sich hatten. Er war so fröhlich, so voller Glauben an den großen Freund. Und immer wieder stand er auf dem Söller vor seinem Fenster und sah hinauf zu den Bergen. Er konnte nie genug davon bekommen. Dann aber schaute er auch ins Dorf hinunter und war manchmal bedrückt. Wie gern wäre er mal wieder unter anderen Menschen gewesen, in die kleine Kirche gegangen. Aber das alles war ihm versagt. Stefan hatte es ihm erklärt.
Alle hofften und beteten um Wolfgang. Sie waren wie eine kleine Familie. Auch die anderen Kinder wurden bemuttert und immer wieder ermuntert. Wenn sie Besuch bekamen, dann waren die Angehörigen voller Dankbarkeit über die großen Fortschritte.
»In der Klinik war mein Junge so traurig und niedergedrückt, hier ist er richtig fröhlich geworden! Und so braun, obwohl es draußen immer kälter wird.«
»Das macht die gute Bergluft, und sie sind viel hier draußen.«
»Ja, dies ist wirklich ein schönes Flecken Erde. Da muss man wohl fröhlich sein, wie?«
Stefan nickte nur, er konnte nichts sagen. Er war schon so lange nicht mehr fröhlich. Das Herz wurde ihm eng, und wenn es am schlimmsten war, dann verkroch er sich in die Berge. Aber auch dort fand er keine Linderung mehr. Alles war so qualvoll.
Er war wieder dort oben, irgendwo in der Wand, wie es die Schwestern nannten, als unten in Haus Sonnenblick eine junge, schwarz gekleidete Frau eintraf. Sie hatte ein langes Gespräch mit Christiane. Die war voller Mitgefühl. Ihre Herzen öffneten sich, sie mochten sich auf Anhieb.
Stefan erfuhr erst von diesem Besuch, als er heimkam. Sein erster Weg ging immer durch die kleine Bettenstation. Die Kinder rochen den derben Duft und schnupperten. Er war in den Bergen gewesen. Manchmal erzählte er ihnen, wie schön es dort war, so still und friedlich. Man fühlte sich dem Himmel dann so nahe.
Sein letzter Gang war immer zu Wolfgang. Weil er der älteste und schwierigste Fall war, blieb er immer ein wenig länger bei ihm. Als er heute die Tür öffnete, sah er die schwarz gekleidete Frau an seinem Bett sitzen. Und als diese den Kopf zur Seite wandte, da wurde er plötzlich schneeweiß. Er starrte sie an.
»Grüß Gott, Stefan«, sagte sie mit leiser, blutleerer Stimme und erhob sich.
»Annelie«, brachte er mühsam über die Lippen. Und noch einmal: »Annelie!«
Ihr Kopf war gesenkt. »Ich muss mich bei dir bedanken. Du hast wundervoll für meinen Bruder gesorgt. Ich hab es gewusst. Du kannst ihm sein Gesicht wiedergeben.«
Das Blut jagte zum Herzen und kam zurück. Er war noch immer nicht fähig, zu sprechen. All die Monate hatte er es verbannt, hatte nicht mehr daran erinnert werden wollen, und jetzt stand sie vor ihm, schmal, blass und so müde, so unendlich müde.
Wolfgang lag mit leuchtenden Augen im Bett und sagte in das Schweigen hinein: »Annelie bleibt jetzt hier!«
»Wie?«
Endlich brach Stefan das Schweigen. Aber dann merkte er, dass es wohl besser war, wenn sie unter vier Augen weitersprachen.
»Komm bitte in mein Untersuchungszimmer, Annelie!« Er bot ihr einen Sessel an, sah jetzt die Geisterblässe, die zarten Hände, die so verarbeitet waren.
»Ich möchte mir im Dorf eine kleine Stube suchen, um nahe bei Wolfgang zu bleiben«, sagte sie schlicht.
»Hast du schon eine gefunden?«
»Ich bin beim Lehrer abgestiegen. Er war so nett und hat mir sein Fremdenzimmer angeboten. Wir trafen uns zufällig im Bus. Aber natürlich kann ich das nicht lange in Anspruch nehmen.«
Eine Frage stand in der Luft, aber er mochte nicht danach fragen. Sie schien es zu erraten. Mit zuckenden Lippen sagte sie: »Mein Mann ist vor einer Woche seinem schweren Leiden erlegen. Ich habe das Geschäft so lange vermietet. Ich muss mich jetzt wieder um Wolfgang kümmern. Und ich dachte, vielleicht kannst du mich brauchen?«
Er stand auf und stellte sich an das nachtdunkle Fenster. Annelie war wieder da! Seine Annelie! Und sie war frei, sie war Witwe. Er durfte sie wieder lieben, er durfte, er konnte - o du mein Gott!
Doch zugleich sagte sein Verstand: Das ist unmöglich. Du kannst dir nicht noch mehr aufbürden. Schon jetzt kannst du die Last kaum noch tragen. Du bist am Ende, wankst am Abgrund - du darfst nicht noch mehr Menschen mit hineinziehen. Du musst entsagen, entsagen ...
»Ich könnte dich wohl brauchen«, sagte er mit Mühsam beherrschter Stimme, »aber im Augenblick kann ich keinen Lohn zahlen.«
»Aber das macht doch nichts«, meinte sie ruhig. »Ich habe ja mein Auskommen, Stefan.«
»Das kann ich nicht annehmen«, würgte er hervor.
»Ich möchte es. Um dir ein wenig dafür zu danken, was du an Wolfgang getan hast. Er ist so voll des Lobes. Er hat dich sehr gern und vertraut dir so sehr. Er ist ein ganz anderer Junge geworden.«
»Annelie«, stammelte er, aber dann brachte er es doch nicht über die Lippen. Er wollte ihr entgegenschreien: Ich bin auch nur ein Mensch. Ich kann nicht, wenn ich dich alle Tage vor mir sehe, dann - mein Gott, begreife doch endlich, ich liebe dich noch immer! Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben. Es war reine Flucht aus Wien, hörst du? Ich bin nur so schnell davongegangen, weil ich vergessen wollte. Und jetzt bist du mir nachgekommen. Ich kann doch nicht mehr, begreife doch endlich! Ich würde dann vielleicht eine Dummheit machen. Ich darf es doch nicht ..:
Das andere Ich sagte aber: Der Bruder braucht sie. Du darfst nicht so grausam sein und ihm die Schwester vorenthalten. Das darfst du nicht tun, dazu hast du kein Recht.
»Wende dich an Christine«, sagte er. »Sie wird wissen, was zu tun ist.«
»Danke, Stefan!« Sie blieb noch stehen. Aber als sie merkte, dass er sich nicht umdrehte, ging sie leise aus dem Zimmer. Er wankte zum Schreibtisch und fiel in sich zusammen. Zum ersten Mal weinte er.