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Oberschwester Maria hatte es längst aufgegeben, den Professor zu suchen. Sie konnte zwar nicht verstehen, wie der Professor fortgehen konnte, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, aber sie hatte es längst aufgegeben, sich darüber noch Gedanken zu machen.

Müde streckte sie die Beine aus. Seit heute morgen um sechs Uhr war sie nun unterwegs. Sie spürte den langen Tag. Dann schreckte sie zusammen.

„Den hab ich ja ganz vergessen“, murmelte sie vor sich hin und eilte hinaus in die Halle.

Aus einem der Sessel erhob sich ein baumlanger Polizist.

„Ich hab schon gedacht, sie hätten mich vergessen“, sagte er und lächelte auf Oberschwester Maria herab.

Die alle erfahrene Krankenschwester wurde vor Verlegenheit glühend rot.

„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich, „aber durch die Aufregung …“

„Ist schon gut, Schwester“, beruhigte sie der Polizist sofort. „Ich war ganz froh, dass ich mich mal ausruhen konnte. Hatten heute genug zu tun.“ Dann kramte er in der Tasche seines Uniformrocks. „Hier“, sagte er. „Das sind die Papiere des jungen Mannes.“ Dabei gab er der Oberschwester eine Brieftasche. „Wie geht es ihm denn?“, fragte er. „Meinen Sie, er wird es schaffen?“

Die Oberschwester zuckte mit den Schultern.

„Kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Wachtmeister“, sagte sie. „Aber sicher wird man alles für ihn tun.“

Der Wachtmeister verbeugte sich vor der Schwester und salutierte.

„Davon bin ich überzeugt, Schwester“, meinte er. „Aber dann will ich mal wieder gehen. Noch eine Stunde, und mein Dienst ist zu Ende.“

Die Schwester geleitete ihn zur Tür.

„Und entschuldigen Sie noch einmal, dass ich Sie so lange habe warten lassen“, bat sie.

Der Polizist winkte lächelnd ab. Gemächlich stieg er die Stufen hinab und kletterte in seinen Polizeiwagen. Oberschwester Maria konnte hören, wie er sich über Funk wieder bei seiner Zentrale meldete.

In ihrem kleinen Büro begann sie, den Inhalt der Brieftasche zu sortieren. Dann wurde sie kreideweiß. So schnell sie ihre alten Füße tragen konnten, raste sie die Treppen herauf. Vor dem OP blieb sie schwer atmend stellen. Ruhig brannte das rote Warnlicht, Zeichen, dass man drinnen immer noch an der Arbeit war.

Verwundert starrten einige Lehrschwestern auf die Oberschwester. So aufgeregt hatten sie die immer beherrschte Frau noch nie erlebt. Ihre Hände zitterten.

Ruhelos wanderte sie auf dem schmalen Korridor auf und ab. Immer wieder warf sie einen Blick auf das rote Licht, sie schien es nicht erwarten zu können, bis die Operation endlich vorbei war.

Kaum leuchtete das Freizeichen auf, als sie auch schon die Türen zum Vorraum aufriss.

Jochen Schreiber sah erstaunt hoch.

„Was machen Sie denn hier, Schwester Maria?“, fragte er. „Ist was?“

Schwester Maria sah ihn fast mitleidig an.

„Wie geht es dem Jungen?“, stieß sie heraus. „Ist er durchgekommen?“

Jochen Schreiber nickte. Er konnte seine Überraschung nicht verbergen. In der Hand hielt er immer noch den Mundschutz. Bis jetzt war er noch nicht dazugekommen, den Operationskittel abzulegen. Besorgt trat er einen Schritt näher.

„Jetzt aber heraus mit der Sprache, Schwester“, sagte er scharf. „Was ist passiert? Sie sind doch nicht umsonst so aufgeregt.“

„Wissen Sie eigentlich, wen Sie da operiert haben“, fragte Oberschwester Maria.

Jochen Schreiber sah sie irritiert an.

„Was soll das heißen, Schwester?“, fragte er zurück. „Sie wissen doch, dass mich das nicht interessiert.“

„Sie werden mich gleich verstehen“, meinte die Schwester nur. „Vorhin war die Polizei bei mir und hat mir die Papiere des Patienten gebracht.“

„Na und?“ Jochen Schreiber konnte seine Ungeduld kaum noch verbergen.

„Der junge Mann ist Jürgen Winter“, verkündete die Schwester dramatisch.

Im ersten Augenblick schien Jochen Schreiber nicht zu begreifen. Verständnislos sah er die Schwester an. Dann aber wurde er bleich.

„Sie meinen …“, flüsterte er.

Oberschwester Maria nickte.

„Genau“, sagte sie. „Der junge Mann, den Sie gerade operiert haben, Herr Oberarzt, ist der Sohn des Professors.“

„Um Gottes willen“, flüsterte Jochen Schreiber tonlos. Der Schrecken fuhr ihm nachträglich noch in die Glieder. Er ließ sich auf einen der kleinen Schemel nieder.

„Weiß es der Professor schon?“, fragte er dann.

Die Oberschwester schüttelte den Kopf.

„Ich habe alles versucht, Herr Doktor“, erklärte sie. „Aber ich kann den Professor nicht erreichen. Die Haushälterin erklärt mir kategorisch, dass sie nicht weiß, wo der Professor ist.“

Jochen Schreiber schüttelte verständnislos den Kopf. Er begriff es einfach nicht. Es sah dem Professor nicht ähnlich, so die Klinik im Stich zu lassen.

„Ich werde es später selbst noch einmal versuchen“, informierte er die Schwester. Müde und nachdenklich strich er sich über die Augen. „Sie können sich inzwischen um den jungen Winter kümmern“, meinte er dann. „Ich werde Ihnen später Schwester Angela zur Ablösung schicken.“

Die erfahrene Oberschwester nickte. Sie wusste, was ihre Aufgabe war. Still drückte sie sich zur Tür hinaus. Die Pflicht war jetzt stärker als alles andere.

Jochen Schreiber war noch einige Minuten erschöpft sitzen geblieben. Der Schreck war ihm gehörig in die Glieder gefahren. Wenn auch der Chef nur wenig über sein Privatleben sprach, so wusste Jochen dennoch, welche Sorgen der Professor mit seinem Sohn hatte, und wie sehr er an seinem Einzigen hing.

Schließlich raffte Dr. Schreiber sich auf. Mit wenigen Handgriffen riss er sich die verschwitzten Sachen vom Leib. Das eiskalte Wasser der Dusche erfrischte ihn. Während er sich wieder anzog, rauchte er genüsslich eine Zigarette.

In seinem kleinen Büro ließ er sich aufatmend in den Sessel sinken, dann griff er zum Telefon.

„Schicken Sie mir Schwester Angelika“, befahl er der Nachtwache an der Pforte. „Es ist dringend.“

Es dauerte einige Zeit, bis die junge Schwester erschien. Jochen Schreiber hatte sich inzwischen in einige Krankenblätter vertieft. Als sich die Tür öffnete, sah er unwirsch hoch. Dann aber erkannte er seine späte Besucherin. Schnell sprang er hoch und ging Angelika entgegen.

Das dunkle Haar der Schwester konnte durch die Haube kaum gebändigt werden. Wie ein edler Rahmen umhüllte es ihr Gesicht, gab ihm einen Schimmer von unendlicher Schönheit, der Jochen immer wieder ergriff.

„Endlich“, sagte er leise. „Ich habe es fast nicht mehr ausgehalten.“

Sorgfältig schloss er hinter ihr die Tür, dann riss er sie in seine Arme.

„Mein Liebstes“, flüsterte er. „Du hast mir so gefehlt.“

Beseligt schmiegte sie sich an seine Brust. Voller Glück spürte sie, wie sehr er sie liebte, wie sehr sie ihm gefehlt hatte.

„Ich habe mich auch nach dir gesehnt“, gestand sie. „Der Tag wollte einfach nicht zu Ende gehen.“

Voller Zärtlichkeit führte er das junge Mädchen zu der kleinen Sitzecke im Hintergrund des Zimmers und drückte es sanft in einen Sessel.

Angelika hatte längst bemerkt, wie abgespannt und erschöpft er war.

„War es sehr schwer heute?“, fragte sie besorgt.

„Das Übliche“, wehrte Jochen Schreiber ab. Er hatte sich auf den Rand des Sessels gesetzt und streichelte zart ihr seidenweiches dunkles Haar.

Sie sah zu ihm hoch.

„Ich hab gehört, du musstest operieren?“

„Verkehrsunfall“, erklärte er. „Riss in der Milz und dazu eine Trepanation.“

Angelika schaute ihn erschrocken an. „Und?“

„Es ist alles gut gegangen“, beruhigte er sie gleich. „Aber das ist noch nicht alles. Weißt du, wer der Patient war?“

Angelika schüttelte nur den Kopf.

„Jürgen Winter, der Sohn vom Chef.“

Angelika schrie leise auf.

„Der arme Professor“, rief sie. „Was muss er durchgemacht haben! Wo ist er denn jetzt?“

Jochen Schreiber strich ihr über das Haar. Es war typisch Angelika.

„Er weiß von nichts“, informierte er sie schnell. „Oberschwester Maria hat den ganzen Abend vergeblich versucht, den Chef aufzutreiben. Aber es hat den Anschein, als ob der gute Professor einmal allein sein wollte. Er ist einfach nicht zu sprechen.“

„Wir müssen ihn finden“, beharrte Angelika. „Er wird dir nie verzeihen, wenn du nicht alles versuchst, Jochen.“

„Ich weiß“, sagte er lächelnd. Dann ging er zu seinem Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

„Geben Sie mir die Privatnummer von Professor Winter“, befahl er knapp. „Und beeilen Sie sich.“

Minuten später war die Verbindung hergestellt. Wieder meldete sich nur die alle Haushälterin Anna.

„Der Professor ist nicht da“, meinte sie mürrisch. „Wie oft soll ich das denn noch sagen?“

„Ich weiß, Anna“, beruhigte sie Jochen Schreiber. „Aber glauben Sie mir, es ist dringend. Ich muss unbedingt den Professor sprechen. Er hat Ihnen doch sicherlich gesagt, wo er hingehen wird.“

Es war deutlich zu spüren, wie unsicher die alte Frau geworden war. Dennoch blieb sie hart.

„Ich kann Sie ja verstehen, Herr Doktor“, stammelte sie. „Aber was der Herr Professor ist, der hat mir ausdrücklich verboten, was zu sagen. Ich kann nicht.“

„Sie müssen“, kam die harte Stimme von Jochen. „Es geht um Jürgen Winter!“

„Der junge Herr!“ Annas Stimme war ein Aufschrei. „Was ist mit ihm?“

Das alte treue Faktotum tat Jochen leid. Er kannte die Verhältnisse im Hause des Professors gut genug, um zu wissen, dass die treue Seele mit einer fast abgöttischen Liebe an Jürgen Winter hing.

„Er hatte einen Unfall“, sagte er ruhig. „Verstehen Sie jetzt?“

„Aber ja doch. Herr Doktor.“ Die alte Anna war dem Weinen nahe. „Der Herr Professor ist in der Oper. Ich werde ihn sofort anrufen.“

„Sie werden gar nichts tun, Anna“, tröstete sie Jochen. „Dem jungen Herrn geht es bereits besser. Er liegt hier in unserer Klinik. Und um dem Professor werde ich mich selbst kümmern. Legen Sie sich hin und schlafen. Morgen können Sie dann den jungen Herrn besuchen.“

Er gab ihr noch einige gute Ratschläge, dann hängte er auf. Aus müden Augen sah er Angelika an.

„Der Professor ist in der Oper“, sagte er. „Ich werde hinfahren und ihn benachrichtigen.“

Angelika spürte, dass Jochen fast am Ende seiner Kräfte war. Sie eilte zu ihm.

„Kann das nicht sonst jemand machen“, fragte sie. „Du brauchst deine Ruhe, Jochen. Vergiss das nicht.“

Für einen Augenblick ließ er sein Gesicht in ihren kühlen Händen ruhen. Der fein herbe Geruch nach Heu und frisch geschnittenem Gras erinnerte ihn an warme Sonnentage draußen auf dem Land.

Dann aber riss er sich zusammen.

„Du kannst mir einen Gefallen tun, mein Herz“, sagte er herzlich. „Übernimm die Nachtwache bei dem jungen Winter. Ich muss jemanden bei ihm wissen, auf den ich mich hundertprozentig verlassen kann. Noch ist der Junge nicht über den Berg.“

Sie lächelte ihm tröstend zu.

„Aber natürlich werde ich das tun“, sagte sie mit ruhiger Selbstverständlichkeit. „Wer ist im Augenblick bei ihm?“

„Oberschwester Maria“, erklärte ihr Jochen. Er war inzwischen aufgestanden. Aus seinem kleinen Schrank nahm er das Jackett und zog es sich an. Angelika beobachtete ihn mit einem leisen Lächeln. Zärtlich rückte sie ihm den Knoten seiner Krawatte zurecht, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen schnellen Kuss. Mit beiden Händen strich sie über seine früh ergrauten Schläfen.

„Lassen Sie sich nicht von den Damen in der Oper verführen, Herr Doktor“, meinte sie schelmisch. „Immerhin sind sie ein gut aussehender Mann.“

Über das gut geschnittene Gesicht des Oberarztes lief ein frohes Lachen. Seine Augen blitzten hinter den Gläsern.

„Und lassen Sie mir die männlichen Patienten in Ruhe, Schwester“, spielte er den Gestrengen. „Das erhöht nur unnötigerweise den Blutdruck.“ Dann aber wurde er ernst. Warm und voll Liebe sah er Angelika an. „Ich liebe dich, Angelika“, flüsterte er. „Ich kann ohne dich nicht mehr leben.“ Seine Arme umschlossen sie, fest presste er sie an sich.

Angelika schmiegte sich an seine Brust. Hier fühlte sie sich geborgen, hier nur war sie wirklich glücklich. Es fiel ihnen beiden schwer, sich zu trennen. Noch ein schneller Kuss, ein letzter Händedruck.

Auf dem hellen Korridor waren sie wieder nichts anderes als der beliebte Oberarzt und die schöne und, stets hilfsbereite Schwester Angelika. Niemand, selbst der Böswilligste, hätte vermutet, dass sie schon seit Monaten heimlich verlobt waren.

An der Tür zur Privatstation verabschiedeten sie sich. Ein heimlicher Händedruck, ein verstohlener Blick, dann fielen hinter Angelika die weiten Türen ins Schloss.

Jochen Schreiber gab sich einen Ruck. Mit langen Schritten eilte er durch die menschenleere Halle. Er winkte der Nachtschwester an der Pforte zu, lief zu seinem Wagen, der einsam und verlassen auf dem Parkplatz stand.

Der Arztroman Lese-Koffer Mai 2021: 16 Arztromane

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