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Professor Winter hatte es sich in seinem Sessel bequem gemacht. Ihm gegenüber hockte Jochen Schreiber auf der Kante des Schreibtisches und schaute aus dem Fenster.

Die Bäume im Park begannen langsam die Blätter zu verlieren. Der Winter kündigte sich an.

„Ihnen brauch ich ja nichts vorzumachen, Kollege Schreiber“, erklärte der Professor. „Der Junge hat mir bis jetzt nichts als Sorgen gemacht.“

Jochen versuchte etwas einzuwenden, aber der Professor hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

„Lassen Sie nur“, sagte er lächelnd. „Ich weiß es. Aber wir wollen nicht mehr über die vergangenen Zeiten reden. Offensichtlich ist Jürgen zur Besinnung gekommen. Er will sein Studium so bald als möglich wieder aufnehmen. In einem knappen Jahr kann er dann das Staatsexamen ablegen.“

Jochen sah erfreut hoch.

„Das ist ja herrlich“, rief er aus. Deutlich konnte man hören, wie er sich für seinen Chef freute. „Dann war der Unfall ja doch zu etwas gut.“

Professor Winter nickte.

„Ich stehe tief in Ihrer Schuld, Jochen“, sagte er herzlich. „Hoffentlich kommt einmal der Zeitpunkt, wo ich Ihnen das vergelten kann.“

Jochen wehrte verlegen ab.

„Aber ich bitte Sie, Herr Professor“, meinte er. „Ich habe doch nur meine Pflicht getan.“

„Darüber unterhalten wir uns später noch einmal“, lächelte der Chefarzt. „Aber jetzt zum eigentlichen Grund unsere Unterhaltung. Ich habe eine große Bitte an Sie, Dr. Schreiber.“

Jochen sah seinen Chef fragend an.

„Wie Sie wissen, ist Jürgen auf keinen Fall in der Lage, noch in diesem Wintersemester das Studium wieder aufzunehmen“, fuhr er fort. „Er hat mich daher gebeten, ob er nicht in der Zwischenzeit hier in der Klinik famulieren kann. Natürlich wollte ich nicht ablehnen.“ Er unterbrach sich für einen Augenblick und schaute auf das Bild seiner Frau, das immer auf seinem Schreibtisch stand. „Schon allein meiner Frau wegen könnte ich es nicht tun“, sagte er leise. „Sie ist so glücklich, dass unser Junge endlich zur Besinnung gekommen ist.“

„Und warum haben Sie Bedenken, Herr Professor“, fragte Jochen vorsichtig. „Es gibt doch keinen Grund, warum Jürgen nicht hier in der Klinik arbeiten könnte.“

Der weißhaarige Chefarzt sah seinen Mitarbeiter und jungen Freund offen an.

„Doch“, erklärte er fest. „Es gibt einen Grund. Ich bin hier der Chef. Und man würde, gleichgültig wer nun mit Jürgen zusammenarbeitet, in ihm immer zunächst den Sohn des Chefs sehen. Und das will ich nicht.“

Jochen nickte bedächtig. Er verstand seinen Lehrer und Gönner. Professor Winter hatte recht. Außerdem würde Jürgen auf diese Art und Weise zu schnell wieder in seinen alten Fehler zurückfallen. Nachdenklich rieb er sich die Nase.

„Und was haben Sie jetzt vor. Herr Professor“, fragte er. „Wollen Sie Ihren Sohn in eine andere Klinik schicken?“

Der Professor schüttelte den Kopf.

„Hier in der Stadt wäre es überall das gleiche“, murmelte er. „Ich wollte Sie bitten, dass Sie sich um Jürgen kümmern.“

Jochen starrte seinen Chef verständnislos an.

„Ich?“, stammelte er.

Professor Winter war aufgestanden und zu Jochen getreten. Schwer legte er dem jungen Arzt die Hand auf die Schulter.

„Ich weiß, was ich da von Ihnen verlange, mein lieber junger Freund“, sagte er warm. „Aber ich weiß mir keinen anderen Ausweg.“

Immer noch hatte Jochen nicht begriffen.

„Aber ich bin doch hier nur Oberarzt“, murmelte er. „Sie sind und bleiben Chef. Was würde es schon ändern, wenn Ihr Sohn unter meiner Führung arbeitet. Die Situation bliebe die gleiche.“

Professor Winter schmunzelte.

„Manchmal sind Sie wirklich schwer von Begriff, Jochen“, sagte er lächelnd. „Natürlich soll Jürgen nicht in der Klinik mit Ihnen arbeiten. Ich hatte mehr an Forschungsarbeit gedacht.“

Jochen Schreiber erschrak.

„Sie wissen …“, stieß er endlich hervor.

„Schon lange“, erklärte der Professor. Bedächtig nahm er eine Havanna aus der Kiste und steckte sie sich an. „Als ich das erste Mal davon hörte, da war ich böse. Ich fühlte mich hintergangen.“

„Das habe ich nicht gewollt“, stammelte Jochen. Er war blutrot geworden. „Ich war einfach noch nicht weit genug. Verstehen Sie?“

Der alte Herr lächelte ihn beruhigend an.

„Ich habe es längst verstanden“, erklärte er gelassen. „Und ich freue mich, dass Sie neben all der Arbeit in der Klinik noch Zeit finden, sich um die medizinische Forschung zu kümmern. Wie weit sind Sie denn gekommen? Haben Sie schon etwas Greifbares?“

Jochen Schreiber sah bescheiden vor sich hin.

„Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden“, sagte er. „Es ist erst ein Anfang, aber vielleicht der Anfang, auf den wir seit Jahren hoffen.“ Seine Augen hatten sich verdunkelt. Seine Stirn war umwölkt. „Wenn ich das nur fünf Jahre früher gewusst hätte …“, murmelte er.

Der alte Professor legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Sie denken an Ihre Frau Mutter“, fragte er leise.

Jochen nickte.

„Sie ist an Leukämie gestorben“, erklärte er dumpf. „Hilfslos habe ich dabeistehen müssen. Es war grausam. Da hat man Medizin studiert, ist bereit, allen Menschen zu helfen, will den Tod bekämpfen und steht dann mit gebundenen Händen da und kann nichts tun. Damals habe ich beschlossen, dieser Krankheit nachzuspüren, ihren Erreger zu finden.“

„Ich verstehe Sie, Jochen“, antwortete der Professor. „Und bewundere Sie. Und darum möchte ich Sie bitten, meinen Sohn bei sich aufzunehmen. Ihm zu zeigen, was ein Arzt vermag, wenn er nur will.“

Jochen beugte sein Haupt. Es fiel ihm schwer, dem Professor sein Ja-Wort zu geben. Seit Jahren saß er nun Abend für Abend in seinem kleinen Labor, wie ein Verbissener suchte er, experimentierte und forschte. Immer wieder hatte er Rückschläge hinnehmen müssen, hatte erkennen müssen, dass wieder die Arbeit von Monaten umsonst gewesen war, dass er wieder einmal auf dem falschen Weg war. Ohne Angelikas Hilfe und Zuspruch hätte er längst aufgegeben. Sie hatte ihn immer wieder ermutigt, Sie hatte ihm immer wieder die Kraft gegeben, neu anzufangen.

Und jetzt, wo sich endlich ein Silberstreif am Horizont abzeichnete, wo zum ersten Mal es so aussah, als ob seine jahrelangen Bemühungen vom Erfolg gekrönt würden, ausgerechnet da sollte er einen Fremden hinzuziehen. Alles in ihm sträubte sich. Aber dann überwand er sich. Stumm reichte er dem Professor die Hand.

„Sagen Sie Ihrem Sohn, dass ich mich freue, mit ihm zusammenzuarbeiten“, erklärte er.

Professor Winter schüttelte ihm dankbar die Rechte. Vor innerer Bewegung vermochte er kaum zu sprechen.

„Ich weiß, was das für Sie bedeutet, Jochen“, sagte er. Seine Stimme klang rau. „Hoffentlich wird Jürgen Sie nicht enttäuschen.“

Über Jochens Gesicht huschte ein offenes Lächeln.

„Wie könnte er das, Herr Professor?“, sagte er. „Er ist doch Ihr Sohn.“

Dann sprang er auf. „Aber jetzt wird es höchste Zeit für mich. In einer Viertelstunde muss ich einen Blinddarm herausnehmen. Und dann die Gallensteine von Zimmer neunzehn. Ich muss zusehen, dass alles in Ordnung geht.“

Er nickte seinem Chef zu und verließ mit weiten Schritten das Büro. Erleichtert sah ihm Professor Winter nach. Er war stolz und froh, dass dieser tüchtige Arzt zu seinen Mitarbeitern zählte.

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