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Ute Märthesheimer hatte sich wieder einmal mit einer Unwahrheit von zu Hause davongestohlen, um ihre Tochter sehen zu können. Sie hasste es zwar, ihrem Mann nie die Wahrheit sagen zu können, aber da sie ihn nicht aufregen wollte, musste sie sich immer wieder neue Notlügen einfallen lassen.

Diesmal war sie angeblich zu Besuch bei einer alten Lehrerin. In Wirklichkeit würde sie sich mit Lore in einer Pizzeria beim Stachus treffen.

Als sie auf das Lokal zuging, stockte ihr plötzlich der Atem. Sie blieb stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, und wandte sich rasch um. Ein großer, breitschultriger Mann verließ die Pizzeria mit zwei stark geschminkten Frauen, die sich über eine Bemerkung von ihm kranklachten. Ute Märthesheimer kannte den Mann. Er war ein Arbeitskollege von Rainer, deshalb hoffte sie, dass sie ihm nicht auffiel.

Mit klopfendem Herzen wartete Ute Märthesheimer, bis die drei sich weit genug entfernt hatten, damit sie die Pizzeria gefahrlos betreten konnte.

Im Lokal blickte sie sich suchend um, und als ihre Tochter die Hand hob, um sich bemerkbar zu machen, ging sie sogleich zu ihr und setzte sich ächzend.

Lore strich sich eine widerspenstige braune Locke aus dem Gesicht und sagte: „Du siehst aus, als hätte dich jemand ziemlich erschreckt.“

„Ich wäre um ein Haar einem Arbeitskollegen deines Vaters in die Arme gelaufen“, seufzte Ute Märthesheimer.

Lore sah ihre Mutter traurig an. „Wenn wir uns doch endlich nicht mehr zu verstecken brauchten.“

Ute Märthesheimer nagte an ihrer Unterlippe. „Ich leide unter diesen vielen Lügen“, gestand sie.

„Und ich leide darunter, dass mein eigener Vater nichts mehr von mir wissen will“, sagte Lore mit feuchten Augen. „Ich hatte Pech. So etwas passiert leider manchmal. Wieso kann Papa noch immer kein Verständnis dafür aufbringen? Ich habe mich – niemand bedauert das mehr als ich selbst – für die falschen Partner entschieden. Wieso kann Papa mir das so lange nicht verzeihen? Es ist doch vorbei. Es gehört der Vergangenheit an. Wie lange will Papa mich noch für meine Sünden, die ich schon tausendmal bereut habe, büßen lassen? Ich habe jetzt einen anständigen, treuen Freund, der mich liebt. Und den ich liebe. Ich bin glücklich mit ihm. Aber ich wäre noch viel glücklicher, wenn Papa mich endlich wieder in seine Arme nehmen und ganz fest an sein Herz drücken würde, wie er das früher so oft getan hat.“

Ute Märthesheimer schlug traurig die Augen nieder. „An sein Herz ...“, sagte sie mit sorgenvoller Miene. „An sein krankes, schwaches Herz ...“

Der Kellner kam. Lore bestellte zwei Grappa. Der Kellner brachte die Drinks und reichte Mutter und Tochter die geöffneten Speisekarten.

Ohne einen Blick hineinzuwerfen, legten Ute und Lore Märthesheimer die Karten vorerst auf den Tisch. Sie tranken Grappa, der wie Feuer in der Kehle brannte.

„Papa braucht diese Nitroglyzerintabletten immer öfter“, erzählte Ute Märthesheimer ihrer Tochter.

„Es muss etwas geschehen“, sagte Lore gepresst.

Ihre Mutter nickte ratlos. „Aber was? Ich habe gestern wieder versucht, ihn zu bewegen, die Paracelsus-Klinik aufzusuchen. Er lehnt es ab. Er will nichts davon wissen. Er nennt es ein medizinisches Vabanquespiel, wenn jemand sich in ein Krankenhaus begibt. Er lässt kein noch so vernünftiges Argument gelten.“

Lore nippte wieder von ihrem Grappa. „Vielleicht kann ich ihn umstimmen.“

Ute Märthesheimer riss erschrocken die Augen auf. „Du? Wie willst du ... “

„Ich weiß“, sagte Lore besänftigend, „ich darf ihm nicht unter die Augen kommen. Aber ich könnte ihn anrufen.“

Ute Märthesheimer schüttelte heftig den Kopf. „Das würde sein krankes Herz nicht verkraften. Er würde sich viel zu sehr aufregen.“

„Dann muss ich mit Dr. Härtling reden.“

„Solange dein Vater nicht zu Dr. Härtling geht, kann dieser nichts für ihn tun.“

„Aber irgend etwas muss doch geschehen“, sagte Lore bekümmert.

Ihre Mutter nickte und zuckte hilflos mit den Achseln.

Der Arztroman Lese-Koffer Mai 2021: 16 Arztromane

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