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Schwester Annegret hängte den Tropf ab. Rainer Märthesheimer beobachtete sie dabei, ohne ein Wort zu sagen. Sie scheint eine resolute Person zu sein, dachte er. Aber ihre Augen verraten, dass sich unter der rauen Schale ein guter, warmherziger Mensch befindet.

Die grauhaarige Pflegerin sah ihn an. „Kann ich irgend etwas für Sie tun?“

„Nein, Schwester“, antwortete er. „Danke.“

Sie verließ das Krankenzimmer. Auf dem Gang kam ihr Dr. Härtling entgegen. „Wie geht es ihm, Annchen?“, erkundigte sich der Klinikchef.

Schwester Annegret nickte. „Zufriedenstellend.“

Sören Härtling begab sich zu dem Patienten. „Nun sind Sie also doch bei uns gelandet“, sagte er freundlich lächelnd. „Mal ehrlich, Herr Märthesheimer, finden Sie einen Aufenthalt in der Paracelsus-Klinik wirklich so schlimm?“

„Ich bin nicht speziell gegen Ihre Klinik ...“

„Ich weiß“, sagte Sören Härtling. „Sie haben ganz allgemein und grundsätzlich etwas gegen Krankenhäuser, aber es muss sie nun mal geben, weil der Mensch nicht siebzig, achtzig Jahre oder länger ohne ärztliche Hilfe auskommt. Betrachten Sie es doch mal von der positiven Seite: Wir helfen hier kranken Menschen so rasch wie möglich wieder gesund zu werden. Ich halte das für eine wunderbare Aufgabe, die meine Kollegen und ich sehr ernst nehmen.“

„Leider gelingt es Ihnen nicht immer, dieser Aufgabe gerecht zu werden.“

„Das ist richtig“, gab der Klinikchef zu, „aber daran sind nicht immer wir schuld. Manchmal liegt die Schuld auch bei den Patienten.“

„Wieso?“

„Sie warten zu lange, bis sie unsere Hilfe in Anspruch nehmen, doktern zuerst lieber selbst mit allen erdenklichen wirkungslosen Hausmitteln herum, lassen sich von sogenannten Alternativmedizinern oder selbsternannten Heilern blenden und in die Irre führen, und wenn sie dann endlich begreifen, welches der richtige Weg für sie ist, wenn sie ihn endlich einschlagen, ist in manchen Fällen schon zu viel Zeit verstrichen, so dass es für uns dann leider zu spät ist, noch erfolgreich helfen zu können.“

Rainer Märthesheimer erwiderte nichts.

„Ich weiß, wie Ihr Vater gestorben ist“, sagte Dr. Härtling.

„Es war ein sehr schmerzliches Erlebnis für mich“, sagte der Patient gepresst.

„Es tut immer weh, den Vater oder die Mutter zu verlieren.“

„Mein Vater ging so unwahrscheinlich zuversichtlich ins Krankenhaus. Die machen mich wieder gesund, sagte er voller Vertrauen. In einigen Wochen werde ich mich wie neugeboren fühlen. Dann legten sie ihn auf den Operationstisch, narkotisierten ihn – und er wachte nicht mehr auf.“

„Das ist zwar sehr bedauerlich, aber keinesfalls die Regel, Herr Märthesheimer. Nahezu alle Patienten wachen nach der Operation wieder auf. “

„Aber Sie können es keinem garantieren.“

Sören Härtling schüttelte ehrlich den Kopf. „Das wäre nicht seriös.“

Der Kunde sah den Klinikchef eine Weile nachdenklich an. Dann fragte er: „War das gestern ein Infarkt, Dr. Härtling?“

„Nein, Herr Märthesheimer, das war noch kein Infarkt, aber eine äußerst deutliche Warnung, die Sie sehr, sehr ernst nehmen sollten. Es hat keinen Zweck, die Dinge zu beschönigen. Ich erachte es als meine Pflicht, Ihnen die Wahrheit zu sagen: Um Ihre Herzkranzgefäße steht es leider nicht zum Besten. Sie sind sehr eng, verkalkt und zu wenig elastisch, deshalb kann sich ein Anfall wie der gestrige jederzeit wiederholen. Es ist müßig, Ihnen zu sagen, Sie dürfen sich nicht aufregen. Das wissen Sie. Und Sie wissen auch, dass es ein Leben ganz ohne Aufregung nicht gibt. Ob bei der Arbeit oder zu Hause – es geht nicht immer alles glatt. Ehe man sich’s versieht, ist man auf hundert. Und das ist natürlich Gift für ein krankes Herz.“

„Ich nehme an, Sie wissen von meinen familiären Problemen“, sagte Rainer Märthesheimer, ohne Sören Härtling anzusehen. „Ich hatte gestern Abend Streit mit meiner Frau.“

Der Klinikchef nickte. „Das ist mir bekannt.“

„Sie hat mich belogen.“

„Ich weiß.“

„Sie sagte, sie würde ihre alte Lehrerin besuchen. In Wirklichkeit aber hat sie sich mit jemandem getroffen ... “

„Ich weiß auch, mit wem“, erwiderte Dr. Härtling. „Soll ich es Ihnen sagen?“

Der Patient runzelte unsicher die Stirn. „Ich weiß nicht, ob ich es hören möchte“, antwortete er kleinlaut.

„Jedes Mal wenn Ihre Frau allein wegging, traf sie sich heimlich mit Lore“, erklärte Dr. Härtling. „Sie hatten Ihre Tochter ja hinausgeworfen, wollten sie nicht mehr sehen. Nicht ein mal ihren Namen wollten Sie mehr hören.“

Rainer Märthesheimer hatte plötzlich Tränen in den Augen. „Sie können mir glauben, darunter habe ich selbst am allermeisten gelitten.“

„Warum haben Sie Ihre Entscheidung nicht rückgängig gemacht?“, fragte Dr. Härtling. „Hatten Sie Angst, deswegen Ihr Gesicht zu verlieren?“

„Ich glaube ja. Wenn man ein Urteil fällt, hat man dazu zu stehen.“

„Auch dann, wenn das Urteil falsch war?“

„Es war nicht falsch ...“

„Kann es richtig sein, sich gegen sein eigen Fleisch und Blut zu stellen?“ Der Arzt stellte die Frage mit ernster Miene. „Ich kenne die Umstände, die dazu geführt haben, Herr Märthesheimer. Ihre Tochter hat meiner Tochter ihr Leid geklagt. Ist es Ihnen wirklich so unmöglich, Nachsicht zu üben? Lore hatte Pech mit Männern. Glauben Sie, es war so erfreulich für sie, immer wieder feststellen zu müssen, an den Falschen geraten zu sein? Sie sind ihr Vater. Sie hätte Ihren Trost und Ihren Rat gebraucht, um über diese bitteren Enttäuschungen hinwegzukommen. Aber anstatt sie zu stützen und für sie da zu sein, haben Sie sie vor die Tür gesetzt und nichts mehr von ihr wissen wollen. Ich will Ihnen jetzt mal was sagen, Herr Märthesheimer: Sie können auf Ihre Tochter sehr stolz sein. Lore brachte die Kraft auf, ihr Tief allein zu meistern. Sie hat nicht nur ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden, sondern auch eine neue Liebe. Der neue Mann in ihrem Leben scheint mir sehr in Ordnung zu sein.“

Der Patient sah den Klinikchef verblüfft an. „Was, Sie kennen ihn schon?“

„Er war gestern Abend hier. Ein überaus sympathischer junger Mann mit offenem Gesicht und intelligenten Augen, der ganz hervorragend zu Lore passt.“

Verlegen schaute Rainer Märthesheimer zum Fenster. „Sie halten mich für einen miserablen Vater, nicht wahr?“

„Irren ist menschlich“, gab Dr. Härtling zurück. „Auch Väter sind Menschen, und als solche können sie sich natürlich auch hin und wieder irren. Wer ist schon unfehlbar? Ich finde, wahre Größe zeigt der, der zugibt, sich geirrt zu haben, und der sich vielleicht sogar dazu durchringen kann, die Person, der er unrecht getan hat, um Vergebung zu bitten.“

„Um Vergebung ...“, kam es dumpf über die Lippen des Patienten.

„Es ist bestimmt nicht so schwierig, wie Sie meinen“, sagte Sören Härtling.

„Glauben Sie, Lore würde mir vergeben?“

„Lieber heute als morgen.“

„Was macht Sie so sicher?“

Der Klinikchef hob lächelnd die Schultern. „Sie ist Ihre Tochter.“

Der Arztroman Lese-Koffer Mai 2021: 16 Arztromane

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