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Eine weitere Woche verging, das Leben lief genauso weiter wie früher. Je länger sie hier lebte, um so unruhiger wurde Burgl. Ihr mitfühlendes Herz machte einfach nicht mehr mit. Man musste sich doch überwinden können! Immer wieder dachte sie: Ich muss! Aber im gleichen Augenblick wusste sie auch, dass sie alles selbst in die Hand nehmen musste. Niemand würde ihr helfen. An die Weitgassers konnte sie sich nicht wenden.

Ich muss zu ihm gehen und ihm sagen, dass es mir nichts ausmacht. Ich muss ihm sagen, dass ich nur so erschrocken war, weil ich nichts von ihm gewusst habe. Ich muss es tun! Aber wann? Immer wenn sie ihren Mut zusammennahm, versagte sie im letzten Augenblick doch. Sie wusste nicht, ob sie nicht wieder erschrecken würde!

Eines Abends, es war schon sehr spät, stand sie entschlossen auf. Wenn sie es heute nicht schaffte, würde sie es nie mehr können. Der Gang lag dunkel da. Vielleicht fiel nicht gleich das Licht auf das Gesicht, dann würde es schon einfacher sein. Sie huschte zu der verbotenen Tür. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter. Ganz leicht ging die Tür auf. Ein warmer Lichtschein fiel ihr entgegen. Es war ein riesiges Zimmer. Burgl betrat mit weichen Knien den Raum und schloss hinter sich die Tür. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie war hier regelrecht eingedrungen.

Der Mann saß in einer Nische und las. Er hob den Kopf, sie sah nur flüchtig in die Augen. Dann sprang er auf, stürzte zum Fenster und vergrub sich halb in der Gardine.

»Wer sind Sie?«, keuchte er.

»Ich bin Burgl Sallegg, Sie kennen mich, ich weiß es!«

»Was wollen Sie? Gehen Sie, es ist Ihnen verboten, mein Zimmer zu betreten. Gehen Sie sofort, ich möchte Sie hier nicht sehen. Gehen Sie!« Er schrie es ihr zu.

Ihre Hände zitterten.

»Wenn Sie mich nicht sehen mögen, warum verfolgen Sie mich dann immer mit Ihren Blicken?«

Langes Schweigen.

»Darf ich bleiben?«

»Was wollen Sie?«

»Ich muss mit Ihnen sprechen!«

»Nein«, erwiderte er hart, »das wollen Sie gar nicht. Sie wollen sich nur an meinem Anblick weiden. Wollen Sie im Lichtschein sehen, wie schrecklich ich aussehe! Wollen Sie über mich lachen oder kreischen? Vielleicht wieder in Ohnmacht fallen? Hier ...«

Er stürzte vor, sein Atem ging keuchend. »Hier, hier, hier!« Er schaltete alle Leuchten an und hielt ihr sein Gesicht vor Augen.

»Sehen Sie jetzt genug? Wollen Sie es vielleicht noch erfühlen? Tun Sie sich keinen Zwang an! Alle laufen vor mir davon, Sie wollen mutig erscheinen, aber ich weiß, was in Ihnen vorgeht. Gehen Sie, bevor ich die Beherrschung verliere, ich bin kein Stück aus einem Gruselkabinett, das man beliebig lang betrachten kann!«

Burgl konnte nur entsetzt auf das entstellte Gesicht vor sich sehen. Sie war nicht fähig, auch nur einen Schritt zu gehen. War er vielleicht doch nicht so hilfebedürftig, wie sie es sich vorgestellt hatte? Sie bebte am ganzen Körper. Eine derart harte Ablehnung hatte sie nicht erwartet.

Tränen quollen aus ihren Augen und liefen über das Gesicht. Der Mann stand immer noch vornübergebeugt vor ihr. Er war sehr groß und hager. Als sie nicht davonstürzte, sondern sich nur der Tränenstrom aus ihren Augen löste, trat maßloses Erstaunen in seine Augen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte bitterlich. Völlig gebrochen ließ sie sich in einen Sessel fallen. Sie hatte so tapfer sein wollen, so mutig! Und nun war sie am Ende ihrer Kraft!

Der Mann löschte das Licht bis auf eine kleine Leselampe auf dem Schreibtisch. Seine Hände zitterten, sein Herz war aufgewühlt. Noch immer durchdrang das Schluchzen die Stille. Fünf Jahre schreckliche Einsamkeit um ihn und jetzt dieses weinende Mädchen. Er ließ sich in einen tiefen Lehnsessel fallen. Sein Gesicht lag im Schatten. Was sollte er tun? Dieses heulende Etwas vor die Tür setzen? Warum war sie überhaupt gekommen? Eine Viertelstunde verging. Er stand auf, ging zum Schrank und kehrte mit einem gefüllten Glas zurück.

»Trinken Sie das!«

Sie sah die langen, schlanken Hände, die das Glas hielten. Burgl nahm vorsichtig einen Schluck von dem Wein und fühlte sich kurze Zeit später gleich ein wenig besser.

»Natürlich kenne ich Sie«, sagte der Mann langsam, als sie scheu in seine Richtung sah. »Ich kenne Sie vom ersten Tag an!«

»Ja«, flüsterte sie.

»Warum sind Sie zu mir gekommen?«

Seine Stimme war jetzt ruhig und gelassen. Was wollen Sie von mir?

»Ich wollte mich entschuldigen!«

»Entschuldigen, Sie?«

»Ja, weil ich so ein Theater gemacht habe. Ich wäre nicht so erschrocken, wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier oben wohnen. So aber standen Sie so unvermutet vor mir, es war, so, so ...«

»Aber ich weiß es ja. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen!« Bitter klangen seine Worte.

»Ich wollte Sie nicht verletzen. Deshalb wollte ich Ihnen heute sagen, dass Sie sich vor mir nicht zu verstecken brauchen. Jetzt, da ich von Ihnen weiß, sollten Sie lieber herunterkommen und unter uns leben!«

Er saß da und starrte das Mädchen an. Seine Gedanken waren wie weggeblasen.

»Ich meine es wirklich so!«

Seine Hände schlangen sich ineinander. »Ich möchte allein sein!«

»Aber es muss doch schrecklich für Sie sein«, flüsterte sie.

»Ich habe mich daran gewöhnt!«

»Begreifen Sie denn nicht?«

»Doch, natürlich, Sie haben Mitleid mit mir!«

»Ja, nein, ich weiß nicht, nein, das glaube ich nicht!«

»Es ist aber besser so, ich weiß es. Es ist immer dasselbe. Sie brauchen sich nicht zu verstellen. Ich kenne die Menschen mittlerweile zur Genüge und bin deshalb sogar gern allein.«

Langes Schweigen trat ein.

Burgl sah ihn scheu von der Seite an. Er blickte wieder in das Buch, welches vor ihm lag. Da bemerkte sie, weshalb das Gesicht so entstellt wirkte. Es fehlte die Nase zum größten Teil. Die Wangen waren dick und roh vernarbt. Das ganze Gesicht sah wie ein Schlachtfeld aus. Wie sie schon bemerkt hatte, fehlte auch ein Teil des rechten Ohres. Blonde Locken verdeckten die Narben der Stirn. Er hob die Augen und sah sie an. Sie blickte schnell zur Seite.

»Mitleid ist das, was ich am meisten von allem hasse. Ich brauche dieses Mitleid nicht. Ich bin ein Mensch wie jeder andere. Ich kann lachen, sprechen und denken und habe Empfindungen. Niemand braucht mich zu bemitleiden und doch tun sie es alle. Das ist das schrecklichste!«

»Warum sind Sie in die Einsamkeit geflüchtet?«

»Das geht Sie nichts an«, sagte er hart. »Mir wäre es lieber, wenn Sie jetzt endlich gingen. Ich hab keine Lust mehr, mich über meine Beweggründe ausfragen zu lassen. Ihr Versuch ehrt Sie, aber jetzt sollten Sie es genug sein lassen.«

Burgl erhob sich unbeholfen. Zorn glühte in ihren Augen auf. Sie hatte sich erbärmlich benommen, das wusste sie selbst. Aber er hatte noch lange nicht das Recht, sie so herablassend zu behandeln.

»Sie haben wohl noch ihre Freude daran, mich derart zynisch zu behandeln, was? Sie vermuten, dass ich Sie bemitleide. Vielleicht, ich weiß es nicht. Denn ich weiß nicht so genau, was das ist. Ich habe im Leben selbst viel ausstehen müssen, ja, jetzt kann ich mir denken, was Sie damit meinen. Sie haben recht, aber auch wenn Sie im Recht sind, so dürfen Sie sich noch lange nicht über uns Gesunde stellen und uns demütigen. Denn das tun Sie doch wohl ständig. Es macht Ihnen wahrscheinlich sogar Freude! Behandeln Sie Frau Weitgasser auch so? Dann kann ich mir vieles erklären. Ich gehe jetzt. Sie brauchen mich nicht hinauszuwerfen. Ich dachte, hier einen Menschen zu finden, der so einsam ist wie ich. Der vielleicht Freude an einem guten Gespräch hat. Aber ich habe mich geirrt, mein Herr. Und es tut mir außerordentlich leid, dass ich Ihre kostbare Zeit gestohlen habe. Ich hätte auch Besseres damit anfangen können.«

Burgl lief zur Tür. Sie hatte nur den einen Wunsch, zwischen sich und dem grässlichen Menschen viel Raum zu legen. Sie hatte nicht mehr das Verlangen, ihm gut zu sein. Davon war sie vollkommen geheilt.

Bevor sie die Tür erreichen konnte, war der Mann wie ein Schatten neben ihr. Sie versuchte, nach der Klinke zu greifen, als er ihre Hände festhielt. Für einen Augenblick war er fast selbst erschrocken über seinen Mut. Sie atmete heftig und starrte ihn an. Seltsam, in diesen wenigen Sekunden sah sie nur seine Augen. Und sie hatte das Gefühl, als würde sie diese Augen kennen. Sie waren ihr irgendwo schon einmal begegnet. Sie musste nur erst darüber nachdenken.

»Lassen Sie mich los, ich will ja gehen, hören Sie!«

Er schüttelte den Kopf. »So kann ich Sie nicht gehen lassen. Ich, es tut mir leid, dass ich so unhöflich war, wirklich. Sie müssen mir verzeihen!«

»So, muss ich das? Sagen Sie dann nicht wieder, ich würde es nur aus Mitleid tun?«

Er zuckte zusammen. Fragend schaute er in ihr Gesicht. Er fühlte zu seiner Verwunderung, dass sie nicht vor ihm zurückwich.

»Sie benehmen sich ja so, dass man es tun muss. Viele glauben ihre Mitmenschen hassen zu dürfen, weil sie Mitleid mit ihnen empfinden. Aber dass sie ihre Umwelt selbst dazu treiben, merken sie nicht.«

Er war bestürzt, denn das, was sie sagte, stimmte genau. Wie kam das Mädchen dazu, so klare Gedanken zu fassen?

»Es tut mir wirklich leid, Burgl.« Er erschrak wieder über seinen eigenen Mut. »Ich werde das nächste Mal nicht so unausstehlich sein, bitte!«

»Es gibt kein nächstes Mal mehr, mein Herr, und jetzt lassen Sie bitte meine Hände los!«

Schlaff fielen seine Arme an ihm herunter. Er ging einen Schritt zurück und seine Augen blickten sie voll Schmerz an. Sie hatte ihn gedemütigt. Eigentlich wollte sie das nicht. Aber wenn sie ihm wirklich helfen wollte, musste sie ihn ohne Schonung behandeln. Er musste aufhören, sich selbst zu bemitleiden und seine Mitmenschen zu quälen, nur weil sie gesund waren.

Burgl sah sich noch einmal um, dann schloss sie die Tür hinter sich und ging ruhig in ihr Zimmer zurück. Sie sah nicht mehr, wie der Mann gequält in seinen Sessel fiel und die Hände vor das Gesicht legte. Sie sah auch nicht mehr, wie sehr er mit sich selbst haderte!

Sieben Romane: Heimatroman Extra Großband Juli 2021

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