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Ellen Bach war entsetzt. Ihr Gesicht! Himmel, was war mit ihrem Gesicht los? Sie konnte ihre rechte Gesichtshälfte nicht bewegen.

Bestürzt trat sie näher an den Badezimmerspiegel heran. Es war so, als ob jemand ihr Gesicht in der Mitte geteilt und die rechte Seite wie einen Sack zusammengebunden hätte. Eine Seite ihres Halses war angeschwollen, und ihr Mund hing zur Hälfte herunter. Auch ihre Lippen hingen formlos herab. Was ihr aber am meisten Angst machte, war ihr rechtes Auge.

Sie konnte es nicht schließen!

Wann war das passiert? Ellen konnte sich an keine Warnzeichen erinnern. Nicht einmal eine kleine Übelkeit hatte sie verspürt. Gar nichts.

Und nun – dieses schiefe, gelähmte Gesicht. Ein schrecklicher Schlag. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte er sie getroffen. Sie hatte gestern einen netten Abend bei ihrer Nachbarin Hannelore Wagner verbracht, hatte wunderbar geschlafen, war ausgeruht aufgewacht, hatte sich gut gefühlt – bis sie ihr Gesicht im Spiegel erblickt hatte.

Furcht krallte sich mit eiskalten Fingern in ihr Herz. Besonders quälend war die Ungewissheit. Ein Schlaganfall? Eine Virusinfektion?

Was war der Grund für diese Gesichtslähmung? Und: Würde das für immer so bleiben oder ... würde es noch schlimmer werden? Ellen Bachs zugeschnürter Kehle entrang sich ein unglückliches Schluchzen.

Speichel rann unbemerkt über ihre Wange. Ihr Spiegelbild verschwamm hinter einem trüben Tränenschleier. Sie betastete mit zitternden Fingern ihre rechte Gesichtshälfte. Schmerzen hatte sie keine. Alles war seltsam taub und gefühllos, wie nach einer Injektion beim Zahnarzt.

„O Gott!“, stöhnte sie. „O mein Gott, warum strafst du mich so? Was habe ich denn getan?“

Sie war allein im Haus. Das Mädchen hatte heute seinen freien Tag. Hastig zog sie sich an. Obwohl sie absolut keinen Appetit hatte, zwang sie sich zu einem kleinen Frühstück.

Beim Kaffeetrinken musste sie sich ein Tuch unters Kinn halten. Ein Taxi brachte sie zur Paracelsus-Klinik. Schwester Annegret schob sie ein.

Sie brauchte nur zehn Minuten zu warten, dann nahm Dr. Härtling sie dran. Der Chefarzt untersuchte die langjährige Patientin und stellte dann fest: „Das ist die klassische Form einer Bell-Lähmung, Frau Bach.“

„Bell-Lähmung“, echote sie, ohne damit etwas anfangen zu können.

Sören Härtling sah ihr an, dass sie noch nie davon gehört hatte. „Unter der Bell-Lähmung versteht man eine spezielle Form der Gesichtslähmung“, erklärte er. „Es können hierbei – was bei Ihnen nicht der Fall ist – auch Gehörschäden auftreten, und nicht selten ist auch der Geschmackssinn beeinträchtigt.“

„Der Geschmackssinn – ja ...“ Die Patientin nickte. „Jetzt, wo Sie es sagen ...“ Angst und Unsicherheit schwangen in ihrer Stimme mit. „Woher ...“

„Solche Muskellähmungen werden durch eine Beschädigung des Nervus facialis, des Gesichtsnervs, herbeigeführt, das ist jener Nerv, der unter und direkt hinter dem Ohr verläuft“, informierte der Chefarzt die Patientin.

„Durch Beschädigung? In der Nacht? Im Schlaf?“

„Die Bell-Lähmung kann jederzeit und ohne jede Vorwarnung auftreten.“ Ellen Bach tupfte mit einem Taschentuch Speichel von ihrem Mundwinkel. „Ist das eine ... eine altersbedingte Sache, Dr. Härtling?“

„Nein, diese Lähmung ist vom Alter völlig unabhängig“, antwortete der Klinikchef, „obwohl sie bei Erwachsenen häufiger auftritt als bei Kindern.“

Ellen Bach sah ihn verzweifelt an. „Wieso ist das ausgerechnet mir passiert?“

Sören Härtling lächelte sanft. „Diese Frage stellt sich wohl jeder. Sie sind kein Einzelfall, Frau Bach. In Deutschland sind jährlich mehr als zehntausend Personen von dieser Erkrankung betroffen.“

„Als ich mich heute morgen im Spiegel sah ...“

Dr. Härtling nickte. „Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute war.“

„Ich ... ich bin noch immer ganz entsetzt.“

„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte der Leiter der Paracelsus-Klinik die Patientin, „das kriegen wir schon wieder hin. Der Schaden am Gesichtsnerv wird bald heilen, und die Gesichtsmuskeln werden ihre Tätigkeit wieder normal verrichten.“

Dr. Härtling verordnete eine Behandlung mit Steroiden, vor allem um die Schwellung abklingen zu lassen. Anfangs würde die Patientin täglich sechzehn Tabletten einnehmen müssen. Sörens Urlaubsvertretung würde später die Dosis langsam reduzieren.

„Können Sie mir sagen, was diese Gesichtslähmung ausgelöst hat, Dr. Härtling? Ich rauche nicht. Ich trinke so gut wie keinen Alkohol, halte mich bei Kaffee und Kuchen zurück, esse wenig Schweinefleisch ...“

„Sind Sie häufig niedergeschlagen und deprimiert, Frau Bach?“

„Wegen Christian – ja ...“, gab Ellen Bach zu. „Er ist so weit weg ... Und ich ... ich bin hier ... Allein ...“

„Sie haben doch bestimmt viele Freunde.“

„Nicht sehr viele, aber dafür gute ...“ Ellen Bach ließ die Schultern nach vorn sinken. „Warum musste Christian nur nach Jamaika gehen?“

„Ihr Sohn ist ein ehrgeiziger Mensch und ein begnadeter Arzt. Er möchte beruflich weiterkommen und wird es als Schönheitschirurg noch sehr weit bringen. Sie müssen ihn seinen Weg gehen lassen.“

„Das tu ich ja“, sagte Ellen Bach leise.

„Sie dürfen es ihm nicht verübeln, dass er nach Jamaika gegangen ist.“

„Ich verüble es ihm doch nicht, Dr. Härtling. Ich bin nur traurig, dass er so weit von mir entfernt ist.“

„Sie sollten nicht traurig sein, Frau Bach“, redete ihr der Chefarzt der Paracelsus-Klinik zu. „Es lässt sich zwar medizinisch nicht exakt nachweisen, dass Ihre Niedergeschlagenheit am Ausbruch dieser Gesichtslähmung beteiligt war, aber einer der Grundsätze der Psychosomatik lautet: Alles, was kränkt, macht krank.“

Ellen Bach atmete schwer aus. „Freuen Sie sich, dass Ihr Sohn so ein gefragter und begnadeter Arzt ist“, sagte Sören Härtling.

„Ich freue mich ja.“

„Seien Sie stolz auf Christian“, sagte Dr. Härtling.

„Ich bin ja stolz, wahnsinnig stolz sogar ...“

„Sie müssen ihn loslassen, Frau Bach“, sagte der Klinikchef eindringlich. „Sie müssen ihn sein eigenes Leben leben lassen!“

„Das will er ja gar nicht“, erwiderte die Patientin. „Ich bin für meinen Sohn kein Hindernis, Dr. Härtling. Ich bin ... Er ist ... Wir sind ein Herz und eine Seele. Christian ist der beste Sohn, den sich eine Mutter wünschen kann. Er hätte mich gerne bei sich.“

„Und Sie?“, fragte Dr. Sören Härtling. „Wären Sie nicht gerne bei ihm?“

„Doch – aber ...“

„Aber?“ Sören sah die Patientin abwartend an.

„Ich hätte ihn lieber hier“, seufzte Ellen Bach.

„Das ist nicht möglich. Christian arbeitet mit großem Erfolg in Montego Bay. Er genießt dort hohes Ansehen, man schätzt sein profundes fachliches Wissen, bietet ihm die allerbesten Arbeitsbedingungen ... Wenn es Sie beide glücklich machen würde, zusammen zu sein – warum ziehen Sie dann nicht zu ihm?“

„Montego Bay ...“ Die intakte Gesichtshälfte der Patientin bewegte sich schmerzlich. „Was soll ich denn in Montego Bay?“

„Da sein für Ihren Sohn“, sagte Dr. Härtling.

„Ich kann doch hier nicht alles aufgeben und in die Karibik ziehen.“

„Warum denn nicht?“, fragte Sören.

„Weil ... weil...“ Sie suchte nach einer Antwort, nach einer Ausrede. „Ich bin eine Frau von fünfzig Jahren ...“ Sie wackelte mit dem Kopf. „Sicher, immer mehr Menschen werden doppelt so alt ...“

„Wenn Sie Ihr Haus hier in München behalten, nehmen Sie dem Ganzen den Hauch des Endgültigen“, versuchte Sören einen wertvollen Denkanstoß zu liefern. „Sie brechen die Brücken nicht hinter sich ab und behalten das Gefühl, jederzeit in die Heimat zurückkehren zu können.“

Seine Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Auf eine solche Idee schien Ellen Bach noch nicht gekommen zu sein. „Das wäre zu überlegen“, gab sie, nachdenklich geworden, zu. Doch dann hatte sie gleich wieder ein neues Hindernis parat: „Aber was tue ich gegen meine furchtbare Flugangst?“

„Dagegen gibt es heute schon hervorragende Medikamente“, erklärte Dr. Härtling. „Kommen Sie zu mir, bevor Sie abreisen. Ich gebe Ihnen dann, was Sie brauchen.“ Er sah die Patientin fragend an. „Erlauben Sie mir, Christian zu sagen, dass er sich auf einen Langzeiturlaub seiner Mutter freuen darf? Meine Frau und ich sehen ihn nämlich schon sehr bald.“

Das linke Auge der Patientin weitete sich. „Wann?“

„Morgen“, antwortete Dr. Sören Härtling.

„Morgen schon?“

Sören lächelte. „Heute ist mein letzter Arbeitstag. Wir werden zwei Wochen die Gastfreundschaft Ihres Sohnes in Anspruch nehmen.“

„Sagen Sie ihm, dass ich schon fast entschlossen bin, ihn zumindest auf Jamaika zu besuchen. Wenn es mir da nicht gefällt, kann ich ja nach München zurückkehren.“

„Es wird Ihnen gefallen, da bin ich ganz sicher“, erwiderte der Chefarzt.

Die Patientin sah ihn flehend an. „Aber bitte, Dr. Härtling kein Wort über meine Gesichtslähmung. Ich möchte nicht, dass Christian sich meinetwegen Sorgen macht. Er wird mich sehen, wenn ich wieder gesund bin.“

„Ich denke, dass das in vier bis sechs Wochen sein wird“, meinte der Klinikchef zuversichtlich. „Bis dahin sind wir schon wieder zurück.“

„Werden Sie mir erzählen, wie es Ihnen gefallen hat?“

Sören Härtling lächelte. „Sie kommen zum Kaffee zu uns, und wir überhäufen Sie mit unseren Karibikeindrücken.“

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