Читать книгу Ferien Sommer Bibliothek Juni 2021: Alfred Bekker präsentiert 19 Romane und Kurzgeschichten großer Autoren - A. F. Morland - Страница 8
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ОглавлениеJeden Abend ging Susann vom Strandhaus den steilen Weg hinunter zum schmalen Strand. Jeden Abend ging sie nahe ans Wasser und sah hinaus auf das Meer. Aber sie achtete darauf, dass das salzige Nass sie nicht berührte. Sie hasste das Meer, sie hasste den Wind. In ihr hatte sich das dumpfe Gefühl breitgemacht, es könnte sie ansaugen und sie dann verschlingen, damit sie das gleiche Schicksal ereilt wie ihre Eltern, die seit einem Monat nicht mehr unter den Lebenden weilten.
Sie waren bei herrlichem Wetter mit ihrer Yacht aufs Meer hinausgefahren. Beide wollten wieder einmal ein paar Meilen von der Küste entfernt an ihr entlang schippern. Doch plötzlich war Wind aufgekommen, der sich in kurzer Zeit zu einem Sturm entwickelt hat. Man erklärte der Tochter, dass ihre Eltern wohl nicht mehr in der Lage waren, rechtzeitig zurückkehren. Man nahm an, dass die riesige Wellen die Yacht zum Kentern gebracht hatten.
Auf Grund des abgesetzten Notrufes hatte man sich auf die Suche gemacht. Es wurden nur Teile der Yacht einen Tag später geortet. Taucher suchten nach den Eltern. Der Hubschrauber, der viele Stunden lang ein großes Gebiet abflogen hatte, kehrte erfolglos zurück. Die Taucher fanden weitere Teile des Bootes und bargen sie. Da einige Brandstellen aufwiesen, meinte man, dass die Yacht an die Klippen geworfen worden war und der Aufprall zu einer Explosion geführt hatte. Die Suche wurde dann eingestellt. Der Vater und die Mutter blieben verschollen, was mehrere Tage groß in der Presse zu lesen war.
Während dieser ganzen Zeit der Suche hatte die Tochter bangend, aber immer noch hoffend, auf der Terrasse des geräumigen Strandhauses gestanden und gewartet, dass man ihre Eltern gesund zu ihr brachte. Doch diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt.
Nun war sie seit ein paar Tagen wieder hier im Strandhaus. Die Beerdigung ihrer Eltern war der reinste Horror für Sie gewesen, denn es wurden zwei leere Särge zu Grabe getragen. Auch nach einer Woche waren die Körper ihrer Eltern nicht an Land gespült worden. Man machte Susann keine Hoffnung, dass das noch geschehen könnte.
Und dann kam ihr Onkel Thomas, der noch vor der Beerdigung sie bedrängte, die Leitung der Firma ihm zu überlassen. Nach der Trauerfeier ging er wiederholt auf sie zu, so dass sie ihn wütend zurechtwies und ihm die Tür zeigte, aus der er verschwinden sollte.
Onkel Thomas war der jüngere Bruder ihres verschollenen Vaters. Er war ein Mann, der ausschweifend lebte und das Geld nur so zum Fenster rausschmiss. Ihr Vater hätte ihm niemals die Leitung überlassen, denn sein Bruder hätte alles, was er aufgebaut und geschaffen hatte, zerstört. Und das in kürzester Zeit. Wahrscheinlich hätte er die Firma mit allem Drumherum dem Meistbietenden verkauft, nur um sein ausschweifendes Leben weiter finanzieren zu können. Ihr Vater hatte einmal sogar den Verdacht geäußert, dass sein Bruder in Casinos sein Geld verspielte, denn er war einmal zu ihm gekommen, um sich eine größere Summe zu borgen, was ihr Vater ihm verweigert hat.
Susann war nach der Beerdigung jeden Tag in der Firma gewesen und hatte sich mit Jonas, der rechten Hand ihres Vaters, verständigt. Er sollte ihr alles Notwendige zeigen, damit sie in der Zukunft das Werk ihres Vaters weiterführen konnte. Jonas Hofman und ihr Vater waren schon seit ihrer Schulzeit Freunde. Zwischenzeitlich hatten sie sich mal aus den Augen verloren und zufällig wiedergetroffen. So blieb es nicht aus, dass jeder von ihnen berichtete, was er in den letzten Jahren getan hatte. Irgendwie kam es, dass ihr Vater seinem Freund anbot, in seiner Firma mit ihm zusammenzuarbeiten. Ein halbes Jahr später trat er dann die Stelle an. Und er hatte es nie bereut. Für Susann war Jonas der Onkel, den sie sich statt Onkel Thomas gewünscht hätte.
Es kam dann in den nächsten Tagen sogar soweit, dass sie ihrem Onkel Hausverbot erteilte, als er sich erneut erdreistet hat, sie zu bedrängen, ihm die Leitung oder zumindest erst einmal einen Posten im Aufsichtsrat zu übergeben, denn der wäre ja jetzt frei, wo sein Bruder nicht mehr unter den Lebenden weilte – wie er es selbstsicher und ungehobelt gegenüber Susann äußerte.
Jonas stand ihr zur Seite und rief den Sicherheitsdienst, der ihren Onkel dann hinausgeleitete.
„Das wirst du bereuen, du habgieriges Miststück!“, hatte er noch gerufen. „Er war mein Bruder. Da steht mir nach seinem Tod auch ein Erbteil zu!“
„Der spinnt doch“, meinte Jonas. „Dem steht nicht mal der Dreck unter dem Fingernagel zu.“
„Er war auch nicht zur Testamentseröffnung geladen. Wahrscheinlich wartet er immer noch, dass man ihm eine Einladung übergibt. Da wird er warten müssen, bis er alt und grau ist“, stöhnte Susann, denn es zerrte an ihren Nerven, dass ihr Onkel keine Ruhe gab.
„Der wird noch Ärger machen“, vermutete Jonas.
„Ja, kann sein“, seufzte sie. „Doch wie schaffe ich das, dass der sich fern von mir hält?“
„Du brauchst einen Bodyguard“, schlug Jonas vor. Dieser Vorschlag hörte sich jedoch mehr wie eine Order an.
Susann sah den Freund ihres Vaters nun ablehnend an.
„Bestimmt nicht! Ich würde mich ja auf Schritt und Tritt verfolgt fühlen, und meine Privatsphäre wäre dahin.“
Jonas musste schmunzeln, wurde aber gleich wieder ernst, denn er sorgte sich um Susann. Sie war vor allem für ihn wie eine Tochter. Eigene Kinder zu bekommen, war ihm auch in seiner zweiten Ehe nicht vergönnt.
„Wenigstens für ein paar Monate, Susann“, redete er auf sie ein, „bis Thomas sich beruhigt oder eine andere Einnahmequelle gefunden hat.“
Susann schüttelte den Kopf und meinte nachdenklich: „Und wenn wir ihm – sagen wir mal – 100 000 Euro geben ...“
„Bist du von Sinnen?“ Jonas sah sie verärgert an. „Denk nach, Mädchen! Der wird nie Ruhe geben. Wenn du erst einmal damit anfängst, wird er dreister werden und immer mehr verlangen.“
Susann seufzte. „Ja, du hast recht. War ein dummer Gedanke von mir“, gab sie zu. „Wie du schon sagtest: Er ist den Dreck unterm Fingernagel nicht wert.“