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Im Hause Härtling schienen wieder einmal alle zu spät aufgestanden zu sein. Dementsprechend groß war das Chaos. Es ging zu wie in einem Taubenschlag. Die gesamte morgendliche Ordnung drohte rettungslos zusammenzubrechen. Hast und Gereiztheit griffen um sich, jeder war jedem im Weg.

Selbstverständlich gerieten sich Josee und Tom einmal mehr in die Wolle, aber auch Dana und Ben hatten heute Probleme, miteinander auszukommen.

Das Frühstück wurde fast im Stehen eingenommen - was Jana Härtling überhaupt nicht gern sah, und Lärm und Hektik verebbten erst, nachdem das letzte Kind das Haus verlassen hatte.

Jana seufzte: „Was für ein Morgen!“

Dr. Sören Härtling nickte lachend.

„Der hat es wirklich in sich. Hoffentlich geht es heute nicht den ganzen Tag so weiter.“

Es ging aber so weiter. Kaum war der Chef in der Paracelsus-Klinik angekommen, überfiel ihn Schwester Annegret mit der Hiobsbotschaft, dass vor kurzem eine Patientin in Danas Alter eingeliefert worden sei.

„Ihr Name ist Biggi Grenkowitz“, sagte Annegret.

„Biggi Grenkowitz?“, fragte Dr. Härtling gepresst. „Sie ist eine Schulfreundin von Dana. Was ist passiert?“

Darüber konnte die alte Pflegerin keine Auskunft geben. Sie wusste nur, dass Biggi schwer verletzt und ohne Bewusstsein gewesen war.

Sören Härtling nahm an, dass das Mädchen einem Unfall zum Opfer gefallen war. Von seinem Freund Daniel Falk, dem Chefarzt der Chirurgie, erfuhr er dann, dass Oskar Dubies sich in den frühen Morgenstunden der Polizei gestellt hatte, weil er glaubte, Biggi umgebracht zu haben.

Angeblich waren die beiden in einer verlassenen Hütte an einem einsamen Baggersee in Streit geraten, Oskar Dubies hatte die Beherrschung verloren, seiner Freundin einen heftigen Stoß versetzt, und sie war so unglücklich gestürzt, dass sie sich einen Schädelbasisbruch zuzog - eine sehr gefährliche Verletzung, weil dabei oft wichtige Blutgefäße und Nervenstränge durchtrennt werden.

Als aus Biggis Mund und Ohren Blut floss, war Oskar in Panik geraten. Er hatte geglaubt, sie wäre tot und hatte unverzüglich die nächstgelegene Polizeiwache aufgesucht. Man hatte Biggi in die Paracelsus-Klinik gebracht, und sie schwebte inzwischen nicht mehr in Lebensgefahr, lag auf der Intensivstation und war ansprechbar.

Dr. Härtling begab sich zu der jungen Patientin. Sie weinte, als sie ihn sah.

„Es ist alles meine Schuld, nur meine Schuld“, flüsterte sie schwach.

Der Klinikchef versuchte sie zu beruhigen und zu trösten.

„Es wird alles wieder gut“, sagte er.

„Ich wollte, ich wäre tot.“

Sören Härtling schüttelte ernst den Kopf.

„So etwas dürfen Sie nicht sagen, Biggi.“

„Ich habe Oskar verloren“, jammerte das Mädchen.

„Das glaube ich nicht.“

„Sie wissen nicht, was ich getan habe“, kam es wie ein dünner Hauch über Biggis Lippen.

„Erzählen Sie es mir!“

Die Beichte, die der Chefarzt der Paracelsus-Klinik daraufhin zu hören bekam, erschütterte ihn. Wie hatte dieses Mädchen nur so tief sinken können?

„Man schlittert da so hinein“, sagte Biggi, als hätte sie Dr. Härtlings unausgesprochene Frage gehört. „Zuerst sind es ein paar nette Abende, dann wird ein bisschen mehr daraus. Man hat getrunken, hört ein Angebot, das einem den Atem verschlägt, macht sich keine großen Gedanken, sieht nur das viele Geld, das sich so leicht verdienen lässt ... Und wenn man es einmal gemacht hat, fällt es einem beim zweiten Mal nicht mehr so schwer, und mit jedem Mal fällt es einem ein bisschen leichter, bis man sich überhaupt nichts mehr dabei denkt ... Es musste erst so etwas Schreckliches passieren, um mich zur Vernunft zu bringen. Ich begreife nicht, wie ich Oskar das antun konnte. Ich liebe ihn doch. Ich liebe ihn mehr als mein Leben. Meine verfluchte Geldgier hat ihn mir genommen. Sie hat uns beide ins Unglück gestürzt. Ich war so naiv, zu glauben, mein zweites Leben würde niemals auffliegen. Oskar trifft an dem, was geschehen ist, keine Schuld. Er war mit Recht wütend auf mich. Er wollte mich nicht verletzen. Er ist ein guter Mensch. Er kann keiner Fliege was zuleide tun. Es ist alles meine Schuld, alles meine Schuld. Wenn ich doch nur ungeschehen machen könnte, was ich getan habe. Nie wieder werde ich als Escort-Girl arbeiten, aber meine Einsicht und meine Reue kommen leider zu spät. Sie bringen mir Oskar nicht zurück.“

„Vielleicht doch“, sagte Dr. Härtling.

„So viel Glück habe ich nicht.“

„Sie hatten Glück, diesen schweren Sturz zu überleben“, widersprach Sören Härtling. „Sie werden auch weiterhin Glück haben - wenn Sie positiv denken.“

Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021

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