Читать книгу Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021 - A. F. Morland - Страница 44
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ОглавлениеStille herrschte im Haus. Die Stille des Todes. Rolf Krage war gestorben, ein reicher, exzentrischer Unternehmer, der seine Mitmenschen für sein Leben gern zum Narren gehalten hatte.
Nun war er tot - heimgegangen mit achtundsiebzig Jahren. Ein Mann voller Schrullen, der - obwohl gut aussehend und von Frauen umschwärmt - fünfzig Jahre seines Lebens als Junggeselle verbrachte, ehe er beschloss, sich mit der schönen, begabten, sechsundzwanzig Jahre jüngeren Kunstmalerin Clara Boenning zu vermählen.
Er hatte mit ihr zwei Söhne gezeugt: den lauten, extrovertierten Jakob und den stillen, in sich gekehrten Klaus. Beide hatten sich zur Testamentseröffnung eingefunden. Jakob war mit einer billigen Kim Basinger-Imitation als Begleiterin erschienen. Klaus war allein gekommen. Die Brüder trugen nachtschwarze Anzüge und saßen neben ihrer einundfünfzigjährigen Mutter, die ein schwarzes Trauerkleid von Dior trug.
Zwei Tage war Rolf Krage, seinem letzten Willen gemäß, in seinem Haus aufgebahrt gewesen, damit Freunde und Bekannte hier von ihm Abschied nehmen konnten. Auf dem Friedhof wolle er mit seiner Familie allein sein, hatte er gesagt, als er das Ende nahen spürte, und man hatte ihm diesen Wunsch erfüllt.
Rechtsanwalt Dr. Axel Lassow, der auch eine Zusatzausbildung als Notar hatte, war von Rolf Krage als Nachlassverwalter bestellt worden. Nun saß er im Arbeitszimmer des Verblichenen hinter dessen Schreibtisch und sah die Anwesenden ernst an.
Vor einem halben Jahr hatte Dr. Lassow mit seinem Klienten noch Golf gespielt. Damals hatte sich der Unternehmer nicht besonders schmeichelhaft über seine Familie geäußert.
„Soll ich Ihnen etwas verraten, Axel?“, hatte er gesagt und seine Schirmmütze eine Stirnfalte höher geschoben. Es war ein wunderschöner Frühlingstag gewesen - blauer Himmel, saftig grüner Rasen, milde Temperaturen. „Ich bin mit meiner Familie nicht zufrieden.“
„Was haben Sie an ihr auszusetzen?“, hatte Dr. Axel Lassow gefragt.
„Jakob, mein Erstgeborener, ist ein Luftikus, der die Frauen häufiger wechselt als seine Hemden. Er ist immer in Geldschwierigkeiten und lügt wie gedruckt.“
„Dafür ist Klaus gradlinig und seriös.“
Rolf Krage hatte die Mundwinkel geringschätzig nach unten gezogen.
„Er ist lahmarschig. Verzeihen Sie den harten Ausdruck, aber mir fällt kein besserer ein. Es ist einfach kein Leben in ihm. Er hat keinen Ehrgeiz, kein Durchsetzungsvermögen. Er ist halt der geborene Verlierer.“
„Und was haben Sie an Ihrer Frau auszusetzen?“, hatte Dr. Lassow wissen wollen, ohne auf die letzte Bemerkung näher einzugehen.
„Clara liebt mich nicht“, hatte Rolf Krage behauptet. „Sie hat mich nur wegen meines Geldes geheiratet. Unsere Ehe ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert nur ein reines Geschäft. Ich musste mir Claras Zärtlichkeiten immer kaufen. Das spielte sich natürlich nicht so ab, dass ich Geld auf ihren Nachttisch legte, wenn ich mit ihr schlafen wollte, aber sie war immer nur dann dazu bereit, wenn ich ihr einen ihrer kostspieligen Wünsche erfüllt hatte. Ansonsten war sie unpässlich, litt an Migräne oder ließ sich irgendeine andere fadenscheinige Ausrede einfallen. Ich glaube nicht, dass sie sehr um mich trauern wird, wenn ich einmal nicht mehr bin.“
Jetzt ruhte der Blick des Rechtsanwalts auf dem blassen Gesicht der attraktiven Witwe. Bewegte der Tod ihres Mannes sie mehr, als dieser es ihr zugetraut hatte?
Vor drei Monaten hatte Rolf Krage zwei Urkunden in Dr. Lassows Kanzlei hinterlegt.
Der Rechtsanwalt fragte die Anwesenden: „Sind Sie damit einverstanden, dass ich mit der Testamentseröffnung beginne?“
Alle nickten. Auch Jakob Krages blonde Freundin, obwohl ihre Meinung im Augenblick überhaupt nicht gefragt war. Dr. Lassow öffnete den ersten Umschlag.
Knisternde Spannung. Der Rechtsanwalt und Notar las, was Rolf Krage verfügt hatte: „Ich, Rolf Theobald Amadeus Krage, gesund und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, setze hiermit meinen Sohn Klaus zum Alleinerben ein ...“
Jakob starrte seinen Bruder hasserfüllt an.
„Elender Erbschleicher! Wie hast du das hingekriegt?“
„Lass mich in Ruhe!“, herrschte Klaus ihn an. „Ich habe überhaupt nichts getan!“
„Werdet ihr wohl still sein!“, zischte Clara Krage. „Ich dulde keinen Streit in meinem Haus!“
„Darf ich Sie um Ruhe bitten“, sagte Dr. Lassow energisch. „Ich habe noch eine weitere Verfügung zu verlesen.“ Er öffnete den zweiten Umschlag, dessen Inhalt ihn genauso überraschte wie die Familienangehörigen, denn Rolf Krage hatte geschrieben: „Ich, Rolf Theobald Amadeus Krage, gesund und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, setze hiermit meinen Sohn Jakob zum Alleinerben ein ...“
Zwei im Wortlaut völlig gleiche Testamente, nur mit geändertem Namen, am selben Tag ausgestellt. Was mochte sich der exzentrische Verstorbene dabei gedacht haben?
Jakob und Klaus Krage gerieten in Streit, wobei Jakob auf seinen Bruder aggressiv einhakte, während sich Klaus verteidigte, ohne Jakob anzugreifen.
Jakobs Freundin wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie fühlte sich sichtlich unbehaglich und hatte es wahrscheinlich schon längst bereut, mitgekommen zu sein.
„Kann ich Sie kurz allein sprechen, Herr Rechtsanwalt?“, fragte Clara Krage.
„Selbstverständlich“, antwortete Dr. Axel Lassow und bat die Brüder und das blonde Mädchen, das Arbeitszimmer für einige Minuten zu verlassen.
„Sieht so aus, als wollte mein Mann mir nach seinem Tod noch einen üblen Streich spielen“, seufzte die Witwe. „Er setzt in zwei Testamenten seine beiden Söhne als Alleinerben ein, damit ich ganz sicher leer ausgehe.“
„Vermutlich lag das in seiner Absicht“, sagte Dr. Lassow.
„Sind solche Testamente überhaupt wirksam?“
„Nun, die Formvorschriften sind gewahrt“, antwortete der Rechtsanwalt.
„Waren Sie dabei, als mein Mann diese Schriftstücke aufgesetzt hat?“
Dr. Lassow schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Haben sie trotzdem Gültigkeit?“
„Testamente können vor einem Notar errichtet und in amtliche Verwahrung gegeben werden“, erklärte der Rechtsanwalt, „aber dies ist nicht zwingend erforderlich, Frau Krage. Es liegt auch dann ein voll wirksames Testament vor, wenn der Erblasser das Schriftstück eigenhändig mit Vor- und Zunamen unterschrieben und mit Ort und Datum versehen hat.“
„Aber wenn zwei Testamente einander widersprechen ...“
„Dann gilt nach dem Gesetz der Grundsatz, dass das später errichtete im Zweifel allen früheren Testamenten vorgeht“, sagte Dr. Lassow.
„Nun wurden die vorliegenden Testamente aber beide am selben Tag geschrieben.“
„In diesem Fall lautet der Leitsatz des Kammergerichts Berlin in etwa so: Lässt sich nicht klären, welches von zwei gleichdatierten Testamenten das ältere ist, gelten sie als gleichzeitig errichtet und heben sich gegenseitig auf.“
Clara Krage sah Dr. Lassow mit großen Augen an.
„Das würde bedeuten - wenn ich Sie richtig verstanden habe ...“
„Da sich die beiden Testamente gegenseitig aufgeben“, erklärte Dr. Axel Lassow, „bleibt es bei der gesetzlichen Erbfolge: Ihnen fällt die Hälfte des Vermögens zu, Ihren Söhnen je ein Viertel.“ Clara nickte schweigend.
„Allem Anschein nach wollte Ihnen Ihr Mann bei der Testamentseröffnung ganz bewusst einen Schock versetzen“, sagte der Rechtsanwalt.
Clara atmete schwer aus.
„Er hat sich viele schlechte Scherze mit mir erlaubt. Das war wohl sein letzter.“
Dr. Lassow bat die Söhne und Jakobs Freundin wieder herein und machte sie mit der Rechtslage vertraut. Klaus nahm stumm zur Kenntnis, was der Rechtsanwalt sagte. Jakob nicht.
„Unser alter Herr kann nicht mehr bei Trost gewesen sein, als er sich diesen idiotischen Streich ausdachte“, polterte er.
„Jakob!“, stieß Clara Krage in zurechtweisendem Ton hervor.
„Ist ja wahr“, maulte Jakob. „Ein normaler Mensch lässt sich doch nicht so was Schwachsinniges einfallen!“
„Sei still, Jakob!“
„Ich lasse mir von dir nicht den Mund verbieten, Mutter!“
„Du bist in meinem Haus!“
„Es ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich habe hier immer meine Meinung gesagt, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Und ich sage, Vater hatte seine fünf Sinne nicht mehr beisammen, als er diese Testamente verfasste.“
„Du hast doch gehört: Sie sind ungültig“, sagte Klaus ruhig. „Wozu regst du dich auf?“
„Ich rege mich auf, wann, wo und worüber ich will. Ist das klar?“, schrie Jakob seinen Bruder an.
„Was ist denn das für ein Benehmen - und dann noch an so einem Tag?!“, wurde nun auch Clara Krage laut, um gehört zu werden.
„Ich möchte gehen, Hasi“, ergriff zum ersten Mal Jakobs Freundin das Wort.
„Gehen“, knurrte Jakob mit zornsprühenden Augen. „Ja, das ist eine hervorragende Idee. Komm, wir gehen! In diesem Haus ist es nicht auszuhalten, da kriegt man ja Erstickungsanfälle.“ Er nahm die Hand der Blondine und stürmte davon.
Augenblicke später heulte der Motor seines Sportwagens auf, die Antriebsräder drehten auf dem geharkten Kiesweg durch, und Steinfontänen schossen nach hinten weg, als Jakob Krage losraste.
„Bitte entschuldigen Sie das ungebührliche Benehmen meines Sohnes, Herr Rechtsanwalt“, sagte Clara Krage verlegen. „Er ist einfach ein Hitzkopf.“
„Und ein Dummkopf“, fügte Klaus hinzu.
„Ich finde, das reicht jetzt“, wies seine Mutter ihn scharf zurecht.
Dr. Axel Lassow schaute plötzlich auf seine Armbanduhr. Mit Entsetzen stellte er fest, dass er schon spät dran war. Hoffentlich wartete nicht schon sein Schwager Dr. Härtling, mit dem er sich verabredet hatte, auf ihn. Er schloss seinen Aktenkoffer und sagte: „Sie hören wieder von mir.“
Dann verabschiedete sich der Rechtsanwalt von der Witwe und ihrem Sohn und verließ das große Haus, in dem Clara Krage von nun an allein leben würde.