Читать книгу Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021 - A. F. Morland - Страница 49

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Klaus Krage maß seiner Appetitlosigkeit keine Bedeutung bei. Er hatte kürzlich einen neuen Schicksalsschlag hinnehmen müssen, hatte vor einem Jahr seine Frau und vor wenigen Tagen seinen Vater verloren. Hinzu war der Ärger mit Jakob, seinem Bruder, bei der wohl seltsamsten aller Testamentseröffnungen gekommen. Dass man da als sensibler Mensch nicht sehr viel Hunger hatte, war eigentlich als normal anzusehen.

Manchmal war ihm übel. Er trank dann einen Fernet. Immer half das nicht, aber meistens.

Dass er hin und wieder an Verstopfung litt, wunderte ihn nicht.

Als Schriftsteller saß er viel zu viel und verschaffte sich viel zu wenig Bewegung. Das rief eine gewisse Darmträgheit hervor, und mit der hatte er eben ab und an zu kämpfen.

Seit dem Tod seines Vaters hatte Klaus keine einzige Zeile mehr geschrieben. Als er Elvira verloren hatte, hatte es auch drei Monate gedauert, bis er endlich wieder einen brauchbaren Satz zu Papier bringen konnte.

Er steckte mitten in einem Buch, und sein Verleger würde nicht drei Monate auf das restliche Manuskript warten, also zwang sich Klaus, daran weiterzuarbeiten. Diesmal würde der Lektor - man würde es Klaus nachsehen - mit dem abgelieferten Werk mehr als sonst zu tun haben, denn normalerweise schrieb er seine Romane nahezu druckreif. Unter diesen besonderen Umständen war ihm das natürlich nicht möglich.

Er setzte sich an den Computer, blätterte in seinen Notizen, las, was er bereits geschrieben hatte, um den Faden wiederzufinden, und begann langsam zu schreiben.

Nach einer Stunde setzten unbeschreibliche Schmerzen in der rechten Unterbauchgegend ein. Verflixt nochmal, was ist das?, dachte er ärgerlich, stand auf und ging in seinem Arbeitszimmer hin und her.

„Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen“, murmelte er.

Aber er hatte keine Lust, sich stundenlang in das Wartezimmer seines Hausarztes zu setzen, und um den Doktor um einen Hausbesuch zu bitten, waren die Schmerzen wohl nicht stark genug.

Er kippte einen Fernet runter und hoffte, dass es ihm danach besser gehen würde. Tatsächlich beruhte sich sein Bauch mit der Zeit auch wieder.

„Na also“, brummte Klaus und kehrte an seinen Computer zurück.

Er arbeitete sehr lange. Erst nach Mitternacht kroch er, geistig und körperlich hundemüde, ins Bett und schlief sofort ein. Am nächsten Morgen fühlte er sich wieder nicht wohl. Übelkeit befiel ihn, als er aufstand. Also legte er sich gleich wieder hin und blieb bis Mittag im Bett. Als er dann wieder aufstand, hatte er keine Beschwerden mehr.

So ging das acht Tage lang. Appetitlosigkeit ... Übelkeit ... Verstopfung ... Bauchschmerzen ... und sogar manchmal Erbrechen. Wenn er mit jemandem zusammengelebt hätte, hätte der ihn sicher schon längst zum Arzt oder gleich ins Krankenhaus geschickt. Aber er war allein. Niemand wusste, wie leichtfertig er mit seiner Gesundheit, mit seinem Leben umging.

Die Beschwerden kamen immer öfter. Die Schmerzen wurden intensiver, hielten länger an. Warum suchte er nicht endlich Hilfe bei einem Arzt? Er wusste keine Antwort auf diese Frage, kannte den Grund für seine verhängnisvolle Unvernunft nicht.

Hatte sich in ihm ein gefährliches selbstzerstörendes Räderwerk in Gang gesetzt? War sein Herz plötzlich von einer bedrohlichen Todessehnsucht erfüllt? Sah er in seinem derzeitigen Leben keinen Sinn mehr? Wollte er nicht mehr leben?

Er bekam Fieber und Schüttelfrost, und endlich, endlich rief er seinen Hausarzt an und bat ihn zu kommen. Es war schon fast zu spät. Klaus befand sich bereits in einem Rauschzustand, als der Hausarzt kam. Fieber ... Schmerzen ... Durst ... Schüttelfrost. .. Krankenwagen ... Krankenhaus ...

All seine Wahrnehmungen befanden sich in wirbelnden, verwirrenden Nebelkreiseln. Er brachte nichts mehr richtig auf die Reihe - weder zeitmäßig noch sonst wie.

Da waren Gesichter, die er nicht kannte, und fremde Stimmen. Er hörte das Dröhnen eines Motors. Mal war es heller, mal dunkler. Jemand redete mit ihm. Er war geistig viel zu sehr weggetreten, als dass er die Worte hätte verstehen können. Er schnappte Wortfetzen auf: „Sträflicher Leichtsinn ...“ „Es wird alles gut ...“ „Keine Angst ...“ „Wir sind gleich da ...“

„Paracelsus-Klinik ...“

Kein Motorlärm mehr. Türen öffneten sich. Das, worauf er lag, wurde geschoben, gezogen, getragen, gefahren. Helligkeit.

Jemand sagte etwas, das wie „Notaufnahme“ klang. Ein Mann, der einen weißen Kittel trug, beugte sich über ihn.

„Ich bin Dr. ...“

Klaus verstand den Namen nicht. Er hörte die Stimme des Arztes stark gedämpft, sah dessen Gesicht völlig verschwommen, mit seltsam verwischten Zügen.

„Hören Sie mich?“, fragte der Arzt.

Klaus konnte nicht antworten - seine Lippen, seine Zunge, seine Stimmbänder gehorchten ihm nicht. Wieder geisterten Wortfetzen über ihn hinweg: „Peritonitis ...“ „Sofort operieren ...“ „Lebensgefahr ...“

Hände berührten ihn. Man schob die Trage, auf der er lag, in einen „nebeligen“ Raum. Er wurde entkleidet, man hob ihn von der fahrbaren Trage auf den Operationstisch.

Eine Frauenstimme: „Hier sind die Operationstücher ...“

Eine Männerstimme: „Decken Sie ihn zu, Schwester! Nur das Operationsfeld bleibt frei. Rasieren Sie den Mann! Machen Sie schnell ...“

Hektische Betriebsamkeit um Klaus herum. Grelles Licht über ihm. Wie von tausend Sonnen - so kam es ihm vor. Eine Atemmaske wurde ihm über Mund und Nase gestülpt. Er wusste nicht, was er da einatmete, aber es machte ihn locker und leicht und schläfrig. Er hatte das Gefühl fortzufliegen, sich aufzulösen in den tausend Sonnen, die gleich darauf wieder erloschen. Ruhe, Frieden, absolute Stille ... Er wusste nichts mehr von sich und der Welt, war erlöst ...

Ruhe, Frieden, Stille, auch als Klaus die Augen aufschlug. Wieder war da ein Gesicht - zunächst bis zur Unkenntlichkeit verschwommen, aber dann wurde es rasch schärfer. Er sah in das wunderschöne, sanfte, gütige Gesicht eines Engels. Mein Gott, dachte er, ich bin im Himmel. Ich werde meinen Vater und Elvira wiedersehen.

Das Engelsgesicht kam etwas näher.

„Elvira ...“, flüsterte Klaus.

„Mein Name ist Melanie“, sagte der sanfte Engel leise.

„Wo ... wo bin ich?“ Klaus’ Stimme kam ihm selbst fremd vor. Sie klang matt, abgespannt und kraftlos. Und so fühlte er sich auch.

„In der Paracelsus-Klinik.“

In der Paracelsus-Klinik, nicht im Himmel, dachte Klaus, und es tat ihm beinahe leid, dass es ihm nicht gelungen war, die Welt zu verlassen.

„Ich bin die Nachtschwester“, sagte der schöne Engel mit weicher, gütiger Stimme.

„Ich wurde operiert, nicht wahr?“ Klaus sprach fast tonlos. Jedes Wort strengte ihn an.

„Ja, Sie hatten einen Blinddarmdurchbruch mit akuter Peritonitis.“

„Peritonitis ...“, kam es wie ein dünner Hauch über seine Lippen.

„Bauchfellentzündung.“

„Ich weiß, was eine Peritonitis ist“, sagte Klaus leise.

„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht belehren.“

„Schon gut, Schwester.“

„Sie müssen in der Vergangenheit wiederholt Beschwerden gehabt haben“, sagte die hübsche Pflegerin.

„Hatte ich.“

„Warum sind Sie denn bloß nicht zum Arzt gegangen?“, fragte Schwester Melanie verständnislos.

„Ich hab’ sie nicht für so bedrohlich gehalten. Hin und wieder fühlt man sich eben nicht wohl. Ab und zu ist einem halt schlecht, oder man hat Bauchweh. Ich renne nicht gleich wegen jeder Kleinigkeit zum Doktor.“

„Diese ‘Kleinigkeit’ hätte Sie beinahe das Leben gekostet“, sagte die Krankenschwester vorwurfsvoll. „Ihr Leben stand auf Messers Schneide, als Sie hier eingeliefert wurden. Sie hatten großes Glück.“

„Glück ... Ist es wirklich ein solches Glück zu leben, Schwester Melanie?“

Sie sah ihn verwirrt an.

„Wie meinen Sie das?“

„Ich hatte noch nicht viel Glück in diesem Leben“, flüsterte Klaus traurig, schloss die Augen und schlief ermattet ein.

Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021

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