Читать книгу Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021 - A. F. Morland - Страница 64

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Der Chef der Paracelsus-Klinik blieb an diesem Tag länger in seinem Büro. Er bat Schwester Annegret, Melanie Weckmann zu ihm zu schicken, sobald diese eingetroffen sei.

„Irgendein Problem mit Schwester Melanie, Chef?“, erkundigte sich die alte Pflegerin.

„Kein richtiges Problem“, erwiderte Sören. „Herr Krage hat sich in unsere hübsche Nachtschwester verliebt, und da er bei ihr gewissermaßen auf Granit beißt - Sie kennen ja Melanie - hofft er, dass ich die Sache für ihn irgendwie einfädeln kann.“

„Wie wollen Sie das denn anstellen?“

„Das weiß ich, ehrlich gesagt, noch nicht“, gestand Sören. Er lächelte. „Ich hoffe, mir kommt noch die Erleuchtung.“

„Melanie lässt doch niemanden an sich heran.“

„Ich finde, es ist den Versuch wert, ihr und Herrn Krage zu helfen“, sagte Dr. Härtling.

„Die beiden würden - vom Äußeren her - gut zusammenpassen.“

„Ich könnte mir vorstellen, dass sie auch sonst wunderbar harmonieren würden“, gab Dr. Härtling zurück.

Schwester Annegret hob lächelnd den Zeigefinger.

„Aber nur, wenn es Ihnen gelingt, die harte Schale, die Schwester Melanie umgibt, zu knacken.“

Der Leiter der Paracelsus-Klinik schmunzelte.

„Ich werde mir die allergrößte Mühe geben.“

„Und ich werde Ihnen ganz fest die Daumen drücken.“

„Danke, Annchen, das kann auf keinen Fall schaden“, nickte der Klinikchef.

Eine halbe Stunde später betrat Melanie Weckmann Dr. Härtlings Büro. Sie trug bereits ihre Schwesterntracht. Sie war noch nicht oft in diesem Raum gewesen und schien sich deshalb etwas unbehaglich zu fühlen. Wenn der Klinikchef jemanden in sein Büro bitten ließ, musste dafür ein triftiger Grund vorliegen. Da Melanie den nicht kannte, ja, nicht einmal entfernt erahnen konnte, war sie ein bisschen unsicher, verkrampft und befangen.

„Sie wollen mich sprechen?“, fragte sie leise.

„Ja“, sagte Dr. Härtling besonders freundlich. „Guten Abend, Schwester Melanie.“ Sie nickte zaghaft. „Bitte setzen Sie sich“, forderte Sören Härtling die schöne Nachtschwester auf. Er konnte verstehen, dass Klaus Krage sich in sie verliebt hatte. Sie nahm vorsichtig Platz, setzte sich auf die vorderste Kante des Sessels, als rechnete sie damit, gleich wieder aufstehen zu müssen.

„Wie geht es Ihnen, Schwester Melanie?“

Sie sah ihn verwundert an. „Gut. Danke.“

„Hatten Sie einen schönen Tag?“, erkundigte sich der Klinikchef.

Ihr Blick wurde noch verwunderter. Sie schien sich zu fragen, worauf ihr Vorgesetzter hinauswollte.

„Ja“, sagte sie leise.

„Äh ... darf ich Ihnen irgendetwas anbieten? Moni Wolfram ist zwar nicht mehr da, aber ich koche selbst einen ganz passablen Kaffee.“

Melanie schüttelte den Kopf.

„Danke, bemühen Sie sich nicht. Ich habe zu Hause Kaffee getrunken, und ich werde später ... Nein, ich möchte im Augenblick wirklich überhaupt nichts.“

„Na schön.“ Sören setzte sich zu ihr. Melanies Unsicherheit wuchs von Sekunde zu Sekunde, das sah Dr. Härtling ihr an. Dabei gab es überhaupt keinen Grund dafür. Er war ausgesucht nett und freundlich zu ihr. Gab es denn überhaupt keinen Menschen, dem sie vertraute?

„Ich habe mich kürzlich mit Schwester Annegret über Sie unterhalten“, teilte Dr. Härtling der attraktiven Nachtschwester mit. „Sie sagt, Sie seien die beste Pflegerin, die wir jemals hatten - und das ist auch meine Meinung.“

„Vielen Dank, Herr Doktor.“

Sören hoffte, dass Melanie nun ein wenig auftaute.

„Sie lieben Ihren Beruf sehr, nicht wahr?“

„Ja.“

Dr. Härtling nickte. „Das merkt man.“

Melanie schlug verlegen die Augen nieder. Sie schien nicht gerne gelobt zu werden.

„Die Arbeit macht Ihnen sichtlich Spass“, fuhr Sören dennoch fort. „Sie gehen völlig auf in ihr.“

Ihr Blick blieb gesenkt.

„Nichts ist mir wichtiger, als jedermann mit meiner Arbeit zufriedenzustellen.“

„Ich wollte, wir hätten mehr Mitarbeiterinnen von Ihrer Sorte“, sagte Dr. Härtling. „Gibt es sonst noch etwas, dass Sie lieben? Wie verbringen Sie Ihre Freizeit? Was für Hobbys haben Sie?“ Er lächelte. „Ich muss gestehen, ich weiß von keinem meiner Mitarbeiter weniger als von Ihnen.“

„Ich führe außerhalb der Klinik ein absolut uninteressantes Leben.“

„Das ist bei Ihrer außergewöhnlichen Schönheit kaum vorstellbar.“

„Mir genügt mein Beruf, sonst brauche ich nichts“, behauptete Melanie.

„Gehen Sie denn niemals aus?“

„Ich bin am liebsten zu Hause“, gab Melanie zurück.

„Haben Sie keine Verabredungen? Treffen Sie sich nie mit Freunden oder Freundinnen?“

„Das ist schon wegen der vielen Nachtdienste nicht möglich“, gab Melanie zurück.

„Sie haben zwischendurch auch freie Tage.“ Dr. Härtling ließ nicht so leicht locker.

„Die verbringe ich daheim“, antwortete die Nachtschwester.

„Und Sie sind mit diesem Leben zufrieden?“

„Würde ich es sonst führen?“

„Ja, ja, aber ...“ Sören suchte nach den passenden Worten. „Fühlen Sie sich nicht hin und wieder einsam? Haben Sie nie das Verlangen, sich mit jemandem zu unterhalten, sich an jemandes Schulter zu lehnen, sich auszusprechen?“

„Nein.“

„Bitte verzeihen Sie, wenn ich das sage, Schwester Melanie, aber ganz normal finde ich das nicht.“

„Was ist schon normal, Dr. Härtling?“

„Das, was ein Großteil der Menschen tun, meine ich. Oder sind Sie anderer Auffassung? Eine so hübsche, junge gesunde Frau wie sie allein - das entspricht so überhaupt nicht der Norm. Aber ich würde es noch irgendwie akzeptieren können, wenn ich den Eindruck hätte, dass Sie glücklich und zufrieden sind, doch das scheinen Sie mir bedauerlicherweise überhaupt nicht zu sein. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie unter dieser selbst auferlegten Einsamkeit sehr leiden.“ Sie nagte an ihrer Unterlippe und sehnte wohl das Ende dieses unangenehmen Gesprächs herbei. „Andere Frauen in Ihrem Alter träumen davon, sich mit einem Partner, den sie lieben, ein Nest zu bauen, eine Familie zu gründen“, fuhr der Klinikchef dennoch fort.

„Ich brauche keine Familie.“

„Sie genügen sich selbst?“

Melanie nickte ernst. „Vollauf.“

„Und was tun Sie, wenn ein junger, gut aussehender und sympathischer Mann, der es ehrlich meint und gut zu Ihnen passen würde, sich in Sie verliebt? Dann machen Sie die Schotten dicht und lassen ihn nicht an sich heran? Nicht wahr?“ Melanie presste die Lippen zusammen und schwieg. „Irgendetwas bedrückt Sie, Schwester Melanie. Habe ich recht?“

„Ist nicht das ganze Leben eine einzige große Belastung?“, gab die Nachtschwester zurück.

„Nur, wenn man niemals Spass daran hat.“

„Spass ...“, sagte Melanie bitter. „O ja ...“ Sie nickte mit feuchten Augen. „Ich kenne jemanden, der Spass am Leben hat ... Viel Spass. .. Sehr viel Spass ... Zu viel Spass ...“

„Wer ist das?“, hakte Dr. Härtling sofort aufmerksam ein.

„Meine Mutter“, kam es verbittert über Melanies bebende Lippen. „Die hat Spass am Leben ... Gott, was hat die Spass daran! So viel Spass, dass alle um sie herum Schaden nehmen. Meine Mutter ist die selbstsüchtigste, genuss- und vergnügungssüchtigste Frau, die Sie sich vorstellen können. Ich wage sogar zu behaupten, dass Ihre Vorstellungskraft nicht ganz ausreicht, um sich auszumalen, wieviel Spass meine Mutter dem Leben schon auf Kosten ihrer Familie abgerungen hat, Dr. Härtling.“

Jetzt konnte Melanie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie begannen zu fließen.

Dr. Härtling schwieg.

„Immer ist die ausgegangen“, stieß Melanie hasserfüllt hervor. „Nie war sie für uns da. Nie hatte sie für uns Zeit. Sie hatte immer nur ihre Affären im Kopf. Männer. Männer. Männer. Heute dieser. Morgen jener. Übermorgen schon wieder ein anderer. Sie kleidete und schminkte sich wie eine Prostituierte. Sie trank und fluchte und lebte nur für ihr Vergnügen.“

Dr. Härtling hörte mitfühlend zu. Zum ersten Mal ging die schöne Schwester aus sich heraus. Zum ersten Mal sprach sie über sich. Der Chefarzt unterbrach sie nicht, um ihren Redefluss nicht zu stoppen. Es war höchste Zeit, dass Melanie sich mal alles, was sie bedrückte, von der Seele redete. Es würde sie erleichtern, befreien. Nichts ist schlechter, als alles immer nur in sich hineinzufressen und nie mehr herauszulassen. Das macht krank. Die Tränen zogen nasse Bahnen über Melanies Wangen. Sie putzte sich die Nase, behielt das Taschentuch in der verkrampften Hand.

„Ausgehen ...“, knirschte Schwester Melanie. „Sich vergnügen ... Das Leben hemmungslos in vollen Zügen genießen ... Meine Mutter hat es getan, und sie tut es noch immer ... Wissen Sie, wie weh es tut, wenn man täglich zu hören bekommt, dass man seiner Mutter im Weg ist? Das man Ballast ist? Ein lästiger Klotz am Bein? Wissen Sie, wie man sich dabei fühlt?“

Dr. Härtling konnte es sich vorstellen. Er nickte ganz langsam.

„Sie hat mich immer nur herumgestoßen und geschlagen, wenn ich nicht tat, was sie wollte“, sagte Melanie anklagend. „Ich durfte so gut wie nie ausgehen. ‘Wenn hier jemand das Recht hat, auszugehen, bin ich das!’ behauptete meine Mutter stets. ‘Dein Vater hat mich lange genug eingesperrt. Die Ehe mit ihm war für mich ein Martyrium, die reinste Hölle. Ich bin froh, dass ich das hinter mir habe und wieder frei bin. Endlich kann ich leben, wie ich will. Endlich macht mir keiner mehr Vorschriften.’“

„Wurde die Ehe Ihrer Eltern geschieden?“, wagte Sören Härtling nun doch eine Zwischenfrage.

Melanie schüttelte den Kopf.

„Mein Vater ist sehr früh gestorben.“

„Woran?“

„Er hat sich für seine Familie tot geschuftet“, antwortete Melanie ernst. „Er war ein braver, anständiger Mensch. Er und Mutter haben überhaupt nicht zusammengepasst. Ich begreife heute noch immer nicht, wie die beiden heiraten konnten. Sie waren so verschieden wie Tag und Nacht.“

„Es kommt nicht selten vor, dass Gegensätze sich anziehen. Irgendwo wird es wohl einen gemeinsamen Berührungspunkt gegeben haben.“

„Im Schlafzimmer ...“ Melanie nickte grimmig. „Immer wenn meine Eltern sich gestritten hatten, wickelte meine Mutter meinen Vater im Schlafzimmer wieder um den Finger.“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. „Nach Vaters Tod wurde meine Mutter zur lustigsten Witwe von München. Ich habe mich für sie geschämt. Sie entwickelte einen unstillbaren Lebenshunger, nahm sich jeden Mann, den sie kriegen konnte, bekam einfach nicht genug. Diese Gier nach Sex und Vergnügen stieß mich ab, war einfach widerlich. Meine Mutter dachte immer nur an sich. Nie nahm sie auf irgendjemanden Rücksicht. Es gab und gibt für Berta Weckmann keine wichtigere Person als Berta Weckmann.“

„Leben Sie mir ihr zusammen?“, fragte Sören Härtling.

Melanie schüttelte den Kopf.

„Gott behüte! Nein! Sie ist - irgendwie - sesshaft geworden. Ihre wilden Jahre sind vorbei. Sie scheint nach langem Suchen endlich den Mann gefunden zu haben, den Sie braucht. Ich denke mir manchmal, sie hat den Mann gefunden, den sie verdient. Er trinkt noch mehr als sie. Er erniedrigt, beschimpft und betrügt sie. Manchmal schlägt er sie auch. Aber sie bleibt trotzdem bei ihm - aufgeschwemmt, satt und zufrieden.“

Dr. Härtling musterte sein Gegenüber eingehend.

„Ich habe das Gefühl, Sie befürchten, Ihre Mutter irgendwann wieder bei sich aufnehmen zu müssen. Zum Beispiel dann, wenn dieser Mann genug von ihr hat und sie auf die Straße setzt.“

„Sie haben recht“, gab Melanie mit belegter Stimme zu. „Davor habe ich Angst. Ein Alptraum würde wahr werden, wenn meine Mutter eines Tages mit Sack und Pack vor unserer Haustür stehen würde.“

Der Chefarzt horchte auf.

„Sagten Sie vor ‘unserer’ Haustür?“

„Ganz recht.“

„Leben Sie nicht allein?“, fragte Dr. Härtling verwundert.

„Nein. Ich habe einen Bruder.“

„Das wusste ich nicht“, sagte der Klinikchef erstaunt.

„Bruno ist siebzehn. Ich betreue ihn.“

Der Klinikleiter sah die Pflegerin überrascht an. „Sie betreuen ihn?“

„Er wurde vor zehn Jahren krank“, erzählte Schwester Melanie. „Bis zu seinem siebten Lebensjahr war er völlig gesund.“ Sie putzte sich wieder die Nase. „Unsere Mutter kümmerte sich gar nicht um ihn. Sie tat so, als wäre er nicht ihr Kind, sondern meines. Ich musste immer für ihn sorgen, musste für ihn kochen, darauf achten, dass er sich wusch, dass er seine Zähne putzte. Eines Tages wurde unsere Mutter mal wieder von einem neuen Verehrer, der einen dicken Wagen fuhr, abgeholt ...“

Die Limousine wurde scharf abgebremst, blieb unmittelbar vor dem Haus stehen, und ein Mann, der aussah wie King Kong, stieg aus dem Fahrzeug. Er ging breitbeinig. Sein dicker Bierbauch machte ihm zu schaffen, sein Hemd war bis zum Nabel offen, und auf seiner behaarten Brust rasselten Dutzende Goldkettchen.

„Das ist Onkel Felix“, sagte Berta Weckmann zu ihrer Tochter.

Schon wieder ein neuer Onkel, dachte Melanie. Wie viele werden es wohl noch werden? Sie hatte schon lange aufgehört, sich die Namen ihrer „Onkel“ zu merken. Man hätte Telefonbücher damit füllen können.

„Onkel Felix ist nicht schlecht bei Kasse“, fuhr Berta Weckmann fort. Sie rieb dabei Daumen und Zeigefinger aneinander, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen. „Er hat mir dieses Kleid gekauft.“ Sie hob die Arme, drehte sich einmal um die eigene Achse, damit ihre Tochter sie von allen Seiten bewundern konnte.

Melanie gefiel das Kleid überhaupt nicht. Es war zu kurz, zu eng und zu überladen, aber sie behielt ihre Meinung für sich, weil sie von ihrer Mutter keine gelangt bekommen wollte.

„Was sagst du dazu?“, fragte Berta Weckmann. „Wie gefällt es dir? Passt es mir nicht wie auf den Leib geschneidert?“

Melanie brauchte zum Glück nicht zu antworten, weil in diesem Moment „Onkel Felix“ läutete.

„Geh!“, zischte ihre Mutter. „Verschwinde! Er braucht dich nicht zu sehen.“

„Wann kommst du nach Hause, Mutter?“, wagte Melanie zaghaft zu fragen.

„Was geht dich das an?“ Es funkelte böse in ihren Augen. „Wenn ich komme, bin ich da.“

„Ich dachte nur - weil Bruno ...“

Frau Weckmann zog die Mundwinkel nach unten und machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Der kleine Mistkerl simuliert doch nur.“

„Er fühlt sich nicht wohl“, sagte Melanie.

„Vor der Schule versucht er sich zu drücken, aber das lässt du nicht zu. Du schmeißt ihn morgen früh raus aus dem Bett, und sollte er maulen, darfst du ihm stellvertretend für mich eine kleben.“ „Onkel Felix“ läutete zum zweiten Mal.

„Los! Hau ab!“, fauchte Berta Weckmann. „Jaha!“, rief sie aufgekratzt in Richtung Tür.

Melanie zog sich zurück. Sie versteckte sich hinter einer hässlichen Gardine und beobachtete ihre Mutter, wie sie schwungvoll die Tür aufriss und sich „Onkel Felix“ an den Hals warf.

„Ich dachte schon, du wärst nicht zu Hause“, knurrte der Mann, der wie ein Raufbold aussah.

Berta Weckmann lachte gekünstelt.

„Na hör mal, ich vergesse doch keine Verabredung mit so einem Prachtkerl.“ Sie hängte sich bei ihm ein und schloss die Tür. Melanie drehte sich um und beobachtete ihre Mutter, die mit schwingenden Hüften neben ihrem neuen Galan einher stolzierte, durch das Fenster. Woher mochte „Onkel Felix“ wohl das Geld für diesen großen teuren Wagen haben?

„Verrätst du mir, was heute Abend auf dem Programm steht?“, hörte Melanie ihre Mutter fragen. Die Antwort des Mannes war nicht zu verstehen. Auf jeden Fall schien Berta Weckmann zu gefallen, was er vorhatte, denn sie kicherte vergnügt und sagte: „Alles, was dich glücklich macht, Süßer.“

Sie stiegen ins Auto ein, der Mercedes fuhr los, und Melanie ging in die Küche, um sich ein paar Brote zu schmieren. Mutter und ihr Freund werden heute Abend eine Menge Spass haben, dachte sie verdrossen, und ich darf wieder einmal nicht aus dem Haus gehen und meine Freundinnen treffen. Langsam komme ich mir wie Mutters Gefangene vor. Ich sollte versuchen, auszubrechen.

Dieser ketzerische Gedanke erschreckte Melanie. Ausbrechen- wohin denn? Es gab keine Verwandten, zu denen sie hätte gehen können.

Und Bruno? Hätte sie ihn seinem Schicksal überlassen sollen? Mutter hätte sich bestimmt nicht um ihn gekümmert. Er wäre, allein in diesem Haus, verkommen. Nein, sie durfte ihren Bruder nicht im Stich lassen.

Nachdem sie gegessen hatte, ging sie nach oben, um nach Bruno zu sehen. Er hatte heute Mittag über starke Halsschmerzen geklagt und sich ins Bett gelegt.

Mutter war gerade aus ihrem Schlafzimmer gekommen. Aufgelöst, derangiert, die Kopfkissenabdrücke im Gesicht, mit wehendem Morgenrock. Wie eine Vogelscheuche hatte sie ausgesehen. Sie hatte durch die halb geöffnete Tür von Brunos Zimmer gesehen und bissig gefragt: „Was ist hier los? Was geht hier vor? Wieso liegt Bruno um diese Zeit im Bett, Melanie?“

„Er fühlt sich nicht wohl“, hatte Melanie geantwortet.

„Fühlt sich nicht wohl. Ich fühle mich auch nicht wohl, trotzdem stehe ich auf.“ Sie hatte sich an verschiedenen Körperstellen gekratzt. „Hat irgendjemand angerufen?“

„Nein, Mutter.“

„Ich gehe jetzt ins Bad. Falls ein Anruf für mich kommen sollte, notierst du den Namen und die Telefonnummer des Herrn und sagst ihm - aber freundlich, sonst ziehe ich dir die Ohren lang - dass ich in wenigen Minuten zurückrufe. Ist das klar?“

Ohne sich Bruno anzusehen, hatte sie sich ins Bad begeben. Bruno war Melanies Angelegenheit. Sie kümmerte sich schon lange nicht mehr um den Jungen. Wozu hatte sie eine vierzehnjährige Tochter?

Melanie öffnete jetzt vorsichtig die Tür. „Bruno?“

Er antwortete nicht.

„Bist du wach?“, fragte seine Schwester.

„Ja“, krächzte Bruno.

Sie trat ein. „Wie geht es dir?“

„Nicht gut.“

„Was möchtest du essen?“, fragte Melanie. Sie trat näher. Bruno sah sie mit glasigen Augen an. „Nichts.“

„Aber du musst irgendetwas essen.“

„Ich habe keinen Appetit.“ Er hatte ein schmales Gesichtchen, sah aus wie Papa als Kind ausgesehen hatte. Er war ein sehr hübsches Kind.

„Hast du noch Halsschmerzen?“, fragte Melanie.

„Sie sind schlimmer geworden.“

„Was hältst du von einer schönen heißen, klaren Hühnerbrühe?“, schlug Melanie vor.

„Ich möchte keine Suppe. Ich habe Durst.“

„Dann bringe ich dir Tee.“

Er brachte den Tee kaum hinunter, hatte arge Schluckbeschwerden. Und Mutter hielt ihn für einen Simulanten. Das sah ihr ähnlich!

„Wenn das bis morgen nicht besser ist, gehen wir zum Arzt“, sagte Melanie.

„Ich will nicht zum Arzt“, krächzte Bruno.

„Manchmal bleibt einem das nicht erspart“, erwiderte Melanie.

„Ich will nicht operiert werden.“

„Wie kommst du denn darauf?“, sagte Melanie. „Du kriegst wahrscheinlich noch nicht mal eine Spritze, sondern bloß irgendwelche gut schmeckenden Halspastillen, die du lutschen musst.“

Bruno sah sie argwöhnisch an.

„Bist du sicher?“

Melanie legte die Hand auf seine Stirn.

„Du hast ja Fieber!“ Sie holte das Thermometer. „Achtunddreißigfünf“, sagte sie ein paar Minuten später besorgt. „Wir werden deine Temperatur in einer Stunde noch einmal messen.“

In einer Stunde hatte Bruno achtunddreißigneun. Eine weitere Stunde später neununddreißigzwo .Das Fieber stieg und stieg. Melanie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war ratlos und voller Wut auf ihre Mutter, die sich irgendwo mit „Onkel Felix“ vergnügte und nicht zu erreichen war. Brunos Gesicht glühte. Melanie hatte keine Ahnung, was für fiebersenkende Maßnahmen es gab. Bruno wimmerte, jammerte und weinte - und sie wusste nicht, wie sie ihm helfen sollte. Als er fast vierzig Grad Fieber hatte, rief Melanie den Hausarzt an, doch sie erreichte ihn nicht. Langsam drohte sie in Panik zu geraten. Sie musste etwas tun - aber was? Ihr Bruder war kaum noch ansprechbar. Seine Lippen waren trocken und spröde. Er atmete in kleinen, flachen Stößen. Und wo war Mutter - jetzt, wo sie sie so dringend gebraucht hätten?

„Ich ... ich bringe dich ins Krankenhaus“, sagte Melanie nervös.

Bruno widersprach nicht. Wahrscheinlich verstand er überhaupt nicht mehr, was sie sagte.

„Ja, ins Krankenhaus!“, keuchte Melanie.

Sie eilte ins Erdgeschoss, rief die Taxizentrale an, und kehrte dann gleich wieder zu Bruno zurück, um ihn anzuziehen. Das war nicht einfach, denn Bruno war so schwach, dass er überhaupt nicht mehr mithelfen konnte.

„Komm, Bruno!“, sagte sie eindringlich, sobald er eingekleidet war. „Steh auf! Du musst aufstehen! Hörst du mich nicht?“ Sie zog und zerrte an ihm. Er rutschte aus dem Bett und fiel auf den Boden. „Bruno, bitte!“ Sie zog ihn ächzend hoch. Zweimal knickten seine Beine ein. Dann stand er, aber er schwankte wie ein Halm im Wind. Und er ging wie auf Stelzen, als Melanie ihn aus seinem Zimmer führte. Sie hörte das Taxi kommen. Melanie legte sich den linken Arm ihre Bruders um die Schultern und schleppte ihn zur Treppe.

„Bitte, Bruno, bitte!“, flehte sie. „Reiß dich zusammen - nur bis zum Taxi!“

Sie erreichte mit ihm die Treppe. Bruno war schwerer, als er es aufgrund seines zarten Körperbaues eigentlich hätte sein dürfen.

Melanie überlegte einen Moment, ob sie ihren Bruder hier oben hinsetzen, aus dem Haus laufen und den Taxifahrer um Hilfe bitten sollte. Doch dann sagte sie sich, sie würde es schon irgendwie schaffen, mit Bruno das Erdgeschoss zu erreichen. Aber sie überschätzte sich.

Bruno sackte auf der obersten Stufe unverhofft zusammen. Sie vermochte ihn nicht zu halten. Mit einem harten Ruck wurden sie voneinander getrennt - und Bruno stürzte die Treppe hinunter.

„Nein!“, schrie Melanie entsetzt auf. „O Gott!“

Da niemand aus dem Haus kam, läutete der Taxifahrer an der Haustür. Melanie hastete ins Erdgeschoss. Verstört riss sie die Tür auf. Ein vierschrötiger Mann stand draußen.

„Hilfe! Bitte helfen Sie uns! Mein Bruder ... Er ... er ist die Treppe hinuntergefallen ...“

„Seid ihr allein?“, fragte der stämmige Taxifahrer.

„Ja.“

„Wo sind denn eure Eltern?“, wollte der Mann wissen.

„Unser Vater ist tot“, antwortete Melanie.

„Und wo ist eure Mutter?“

„Ich weiß es nicht ...“, stammelte Melanie. „Bei Onkel Felix ...“ Sie sah den großen, kräftigen Mann flehend an. „Bitte helfen Sie uns.“

Der Vierschrötige nahm den schmalen Jungen auf seine Arme.

„Er ist krank“, sagte Melanie. „Er hat hohes Fieber. Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen.“

Der Taxifahrer trug Bruno zum Wagen.

„Vergiss nicht, abzuschließen und die Schlüssel mitzunehmen, Kleine“, rief er über seine Schulter.

Augenblicke später rasten sie durch das nächtliche München zur nächstgelegenen Klinik.

„Bruno hatte eine schwere Angina“, erzählte Melanie dem Chefarzt der Paracelsus-Klinik. „Man pumpte ihn mit fiebersenkenden Medikamenten und Penicillin voll. Ich durfte über Nacht bei ihm bleiben. Tags darauf ging es ihm schon ein klein wenig besser. Als ich nach Hause kam, war Mutter noch nicht da. Sie kam erst gegen Mittag heim. Als ich ihr erzählte, was geschehen war, wurde sie schrecklich wütend. ‘Kann man euch denn keine Stunde allein lassen?’, schrie sie mich an. ‘Darf man keinen Moment aus dem Haus gehen? Wieso bringst du deinen Bruder wegen ein bisschen Halsschmerzen und ein wenig Fieber gleich ins Krankenhaus?’ ‘Ich wusste nicht, was ich tun sollte’, gab ich verzweifelt zurück. ‘Bruno hatte entsetzliche Halsschmerzen und fast vierzig Grad Fieber.’ Meine Mutter schüttelte die Faust. ‘Wenn ich deinetwegen Schwierigkeiten bekomme, kannst du was erleben!’, brüllte sie.“

„Hat Ihre Mutter Schwierigkeiten bekommen?“, fragte Dr. Härtling. Er war erschüttert und empört über das, was Schwester Melanie ihm erzählte.

Die schöne Nachtschwester schüttelte den Kopf.

„Nein. Es kam nie heraus, wie sehr sie meinen Bruder und mich vernachlässigte.“

„Besuchte Sie Bruno im Krankenhaus?“

„Einmal“, antwortete Melanie bitter. „Für fünf Minuten - während auf dem Parkplatz ein neuer ‘Onkel’ auf sie wartete und den Motor seines Wagens laufen ließ.“

Sören Härtling war schockiert.

„Was ist das nur für eine herzlose, unmögliche Frau!“

Melanie zuckte die Schultern.

„Sie genießt eben ihr Leben.“

„Haben Sie Angst, Sie könnten auch mal so werden?“, fragte Dr. Härtling bewegt. „Gehen Sie vielleicht deshalb nie aus?“

Melanie schaute auf das Taschentuch in ihrer Hand.

„Nein, das hat einen anderen Grund.“

Sören Härtling hoffte, dass sie auch darüber sprechen würde, aber er drängte sie nicht. Sie schwieg eine Weile. Der Chefarzt betrachtete sie voller Mitgefühl. Bisher hatte niemand gewusst, was für eine furchtbare Jugend diese junge, bildschöne Frau gehabt hatte. Diese schlimme Zeit hatte sie geprägt und ihr weitgehend die Fähigkeit genommen, darüber zu sprechen, sich zu erleichtern und sich irgendjemandem anzuvertrauen. Arme, bedauernswerte Melanie ...

Jetzt hob sie langsam den Kopf und sah den Leiter der Paracelsus-Klinik verwundert an.

„Ich weiß eigentlich nicht, wieso ich Ihnen das alle erzähle.“

„Sie hätten sich Ihre Sorgen schon viel früher von der Seele reden sollen“, entgegnete Sören lächelnd.

„Ich habe bisher noch nie ...“

„Das war falsch, Schwester Melanie. Fühlen Sie sich jetzt nicht schon viel leichter?“

„Doch. Ja. Ich glaube schon.“

„Wenn Sie noch weiteren Ballast abwerfen möchten - ich bin bereit, ihn aufzufangen.“

Melanie war verlegen.

„Ich stehle Ihnen Ihre kostbare Zeit.“

„Denken Sie nicht daran, Schwester. Wenn Sie wollen, höre ich Ihnen die ganze Nacht zu.“

Die Nachtschwester putzte sich noch einmal die Nase und ließ das Taschentuch dann in der Tasche ihrer Schwesterntracht verschwinden.

„Drei Monate nach Brunos Genesung sagte meine Mutter in scharfem Ton zu mir: ‘Melanie, ich muss mit dir reden!’“

Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021

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