Читать книгу Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021 - A. F. Morland - Страница 58

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„Soll ich Ihnen etwas Komisches erzählen, Schwester?“, sagte Klaus Krage am späten Abend zu Melanie. „Sie werden es mir wahrscheinlich nicht abkaufen. Ich kann es selber kaum glauben, aber es ist wahr.“ Er hob die Hand zum Schwur. „Bei Gott, es ist wahr.“

„Was ist wahr?“

„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, und ich möchte auch in keiner wie immer gearteten Weise Ihre Gefühle verletzen ... Wenn ich könnte, würde ich es für mich behalten, aber ich kann es nicht. Es ist mir nicht möglich. Es muss raus, sonst ersticke ich daran.“

„Wissen Sie, dass Sie mein schwierigster Patient sind?“

Klaus sah sie betroffen an.

„Ich? Wieso?“

„Alle anderen verbringen die Nacht mehr oder weniger ruhig schlafend. Sie nicht.“

„Ich bitte tausendmal um Vergebung.“

Die Nachtschwester stellte die Teetasse auf ein kleines Tablett und wollte gehen.

„Bleiben Sie noch ein bisschen“, bat Klaus.

„Ich kann nicht.“

Er lächelte sie flehend an.

„Setzen Sie sich wieder zu mir!“

„Das ist heute nicht möglich.“

„Ich muss aber ganz dringend mit Ihnen reden.“

„Ich habe zwei Neuzugänge zu betreuen“, erklärte Schwester Melanie. „Beim einen ist eine Spritze zu setzen, beim anderen muss ich die Infusionsflasche wechseln.“

„Gut, dann kommen Sie eben später wieder. Ich bin hier, und ich verspreche Ihnen, mich nicht von der Stelle zu rühren. Kommen Sie, wenn Sie wollen - ich werde wach sein und geduldig auf Sie warten.“

Melanie seufzte.

„Wollen Sie denn keine Nacht mehr schlafen?“

„Sie schlafen ja auch nicht.“

„Ich habe auch Nachtdienst.“

„Und ich bleibe mit Ihnen wach“, sagte der Patient.

„Wozu?“

„Ich möchte mich mit Ihnen in irgendeiner Form verbunden fühlen.“

Die Nachtschwester warf ihm einen ärgerlichen Blick zu.

„Wenn Sie nicht aufhören, so albern zu sein, machen Sie mich böse.“

„Das möchte ich nicht. Nichts liegt mir ferner als das.“

„Beweisen Sie es mir, indem Sie mit diesen ‘Spielchen’ aufhören.“

„Das sind keine Spielchen, Schwester Melanie.“

Sie schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

„Warten Sie!“, rief Klaus Krage hastig.

Sie verdrehte die Augen.

„Herr Krage, ich habe zu arbeiten. Ich bin nicht für Sie alleine da.“

„Das finde ich sehr schade.“ Er lächelte. „Ich hätte Sie sehr gern für mich allein.“

Jetzt reichte es ihr. Sie öffnete die Tür.

„Einen Augenblick noch, Schwester Melanie. Ich wollte Ihnen doch etwas Komisches erzählen.“

„Ich bin nicht interessiert.“

„Sind Sie denn kein bisschen neugierig?“, fragte Klaus.

„Nein, überhaupt nicht. Neugier ist eine Untugend.“

Klaus nickte beeindruckt.

„Sie sind wirklich ein Engel, Schwester.“

„Ja, ja, schon gut, und nun schlafen Sie endlich!“

„Ich liebe Sie, Schwester.“

Sie starrte ihn entgeistert an. Ihr wäre beinahe das Tablett mit der Teetasse aus der Hand gefallen.

„Ja, Schwester Melanie, ich habe mich in Sie verliebt“, sagte der Patient sehr ernst.

„Es kommt öfter vor, dass Patienten glauben, sich in jene Personen verliebt zu haben, die sie pflegen und betreuen“, erwiderte die Nachtschwester nüchtern. „Hierbei wird Liebe aber mit Dankbarkeit verwechselt.“

Klaus schüttelte den Kopf.

„Was ich für Sie empfinde, ist nicht Dankbarkeit - das natürlich auch ... Aber es ist vor allem Liebe, Schwester Melanie.“ Er brachte sie mit seinem Geständnis so sehr durcheinander, dass sie blass wurde und zitterte.

„Sie dürfen mich nicht lieben!“, stieß sie heiser hervor.

Er hob lächelnd die Schultern.

„Ich kann das doch nicht einfach abstellen.“

„Sie haben kein Recht, mich zu lieben“, sagte die schöne Nachtschwester schneidend.

„Jedem Menschen steht das Recht zu, einen anderen Menschen in sein Herz zu schließen“, widersprach der Patient.

„Ich möchte das aber nicht“, stieß Melanie krächzend hervor. „Ich verbiete es Ihnen sogar. Hören Sie? Ich verbiete es Ihnen.“

„Als - nach der Operation - mein neues - mein neues Leben begann“, sagte Klaus Krage stockend, „waren Sie die Erste, die ich sah.“

Melanie versuchte die Sache irgendwie ins Lächerliche zu ziehen.

„Das erinnert mich stark an die Geschichte mit Konrad Lorenz und den Graugänsen“, sagte sie kühl. „Die Küken laufen dem ersten Lebewesen, das sie nach dem Schlüpfen sehen, hinterher. In der Regel ist das ihre Mutter. In diesem speziellen Fall war es der Professor.“

„Ich bin keine Graugans, Schwester Melanie, und Sie sind nicht Konrad Lorenz“, sagte Klaus Krage gekränkt. „Ich laufe Ihnen nicht hinterher, sondern ich liebe Sie. Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich nicht über mich lustig machen würden.“

Sie sah ihn reumütig an.

„Entschuldigen Sie“, sagte sie leise. „Ich wollte Sie nicht verletzen.“ Dann ging sie schnell hinaus. Zitternd stellte sie im Schwesternzimmer das Tablett ab. Sie setzte sich, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte leise. Da waren auf einmal Stimmen in ihrem Kopf.

Hässliche Erinnerungen wurden in ihr wach. Sie sah sich selbst. Zehn Jahre jünger. In dem Haus, das ihr Vater für seine Familie gebaut hatte. Er war daran zugrunde gegangen. Tag und Nacht hatte er geschuftet, um das Geld aufzutreiben, das er für den Hausbau brauchte. Und jedes Wochenende hatte er auf der Baustelle verbracht. Nie hatte er sich auch nur einen einzigen Tag Ruhe gegönnt, und als das Haus nach drei Jahren fertig gewesen war, war er gestorben und Mutter, eine lebenslustige, genuss- und vergnügungssüchtige Frau, war wieder frei gewesen.

Und jetzt ... Jetzt hörte Melanie ihre Mutter reden, und sie sah sich selbst als Vierzehnjährige.

„Melanie!“, rief Berta Weckmann, aufgetakelt bis zum Gehtnichtmehr. Achtunddreißig war sie letzten Monat geworden, und sie hatte noch eine ganz passable Figur, die jeder Mann, der ihr gefiel, betatschen durfte.

Warum auch nicht? Sie war nicht mehr verheiratet, war verwitwet und einsam und sehnte sich nach ein bisschen Liebe, Wärme und Zärtlichkeit.

Sie trug ein hautenges pinkfarbenes Kleid mit einer riesigen Schleife vor dem üppigen Busen. Sie kleidete sich stets übertrieben auffallend, ordinär und geschmacklos. Deshalb geriet sie auch immer an die falschen Männer - eben an jene, die auf so etwas flogen: Säufer, Lumpen, Taugenichtse ...

„Verdammt nochmal, Melanie, wo steckst du denn?“, rief Berta Weckmann ungeduldig. Ihr grell geschminktes Clownsgesicht verzerrte sich ärgerlich.

„Ich bin hier, Mutter“, antwortete die Vierzehnjährige.

„Wo ist ‘hier’?“, fragte Berta Weckmann gereizt.

„Im Keller.“

Die Frau ging zur offenen Kellertür und rief herunter: „Was, um alles in der Welt, tust du im Keller?“

„Ich beschrifte die Einweckgläser.“

„Du hast gefälligst zu mir zu kommen, wenn ich dich rufe!“

Melanie lief die Kellertreppe hoch. Sie trug einen Jeansrock und ein kariertes Baumwollhemd. „Was gibt’s, Mutter?“

„Hör zu, ich gehe aus.“

„Schon wieder?“

Berta Weckmann gab ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige.

„Sag mal, was nimmst du Rotznase dir mir gegenüber eigentlich heraus? Ich bin deine Mutter. Ich kann tun und lassen, was ich will. Wenn du nicht parierst, stecke ich dich in ein Heim. So was Undankbares. Das hat man von seiner Gutmütigkeit. Das Fräulein Tochter maßt sich Kritik an.“ Melanie rieb sich die brennende Wange.

„Entschuldige, ich habe das nicht so gemeint“, sagte sie kleinlaut. „Ich dachte nur ... Ich wollte ... Ich bin verabredet ... In einer Stunde holen mich zwei Freundinnen ab ...“

Berta Weckmann schüttelte energisch den Kopf.

„Daraus wird nichts.“

Melanie sah ihre Mutter unglücklich an.

„Wir wollen ins Kino gehen.“

„Du warst erst vor zwei Wochen im Kino.“

„Meine Freundinnen laden mich ein.“

„Du schickst sie weg! Hörst du?“, sagte Berta Weckmann schneidend. Ihre Stimme war scharf und duldete keinen Widerspruch.

„Bitte, Mutter ...“

„Du bleibst zu Hause, und lässt diese Freundinnen nicht herein, verstanden?“, herrschte Berta Weckmann ihre Tochter an. „Ich will dieses ungewaschene Teenagerpack nicht in meinem Haus haben, Idar? Wenn die knapp bei Kasse sind, lassen sie hier noch irgendetwas mitgehen ...“

„Was gibt es bei uns schon zu stehlen?“

„Ich kann nichts dafür, dass wir nicht reich sind“, schrie Berta Weckmann zornig. „Wir haben immerhin ein eigenes Haus und brauchen nie Hunger zu leiden. Oder musstest du schon mal hungrig schlafen gehen? Hm? musstest du das schon mal?“

„Nein, Mutter.“

„Na also.“ Draußen hupte ein Wagen.

Berta Weckmann verwandelte sich augenblicklich. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf, strich ihr Kleid an den Hüften glatt und rief in fröhlichem Singsang: „Ich komme!“ Sie trippelte auf hohen Stöckelschuhen zur Tür. Bevor sie sie öffnete, drehte sie sich noch schnell um und starrte ihre Tochter feindselig an. „Diese Gören kommen mir nicht ins Haus. Ich würde es merken, wenn du dich über mein Verbot hinweggesetzt hast, und dann würde ich den Teppichklopfer nehmen und ...“

„Ich lass sie nicht herein.“

„Damit ersparst du uns beiden eine Menge Ärger.“ Draußen plärrte wieder die Hupe, und Berta Weckmann sang wieder ihr fröhliches „Ich komme!“.

Melanie sah ihre Mutter erst nach zehn Stunden wieder. Berta Weckmann sah ziemlich mitgenommen aus. Ihr Make-up war total verschmiert. Aus dem Clownsgesicht war eine Horrormaske geworden. Bertas Kleid war zerrissen. Sie war betrunken, und sie verfluchte den brutalen Kerl, der sie verprügelt und aus seiner Wohnung hinausgeworfen hatte, weil sie sich geweigert hatte, bei gewissen Dingen mitzumachen.

Melanie hatte ihr die Tür geöffnet.

„Was glotzt du mich so an?“, fragte Berta Weckmann bissig. „Ich will nicht, dass du mich so ansiehst - mit diesem gottverdammten traurigen Hundeblick und dem stummen Vorwurf in den Augen. Verschwinde! Geh! Geh, ich will dich nicht sehen! Lass mich allein!“

Sie schlief fast den ganzen Tag. Und am Abend machte sie sich wieder „schön“ und ging erneut aus ...

So war Melanies Mutter gewesen, und so war Berta Weckmann inzwischen achtundvierzig, aufgeschwemmt und nur noch eine Karikatur ihrer selbst - noch immer.

Ein kurzes Summen riss Melanie aus ihren Erinnerungen. Sie warf einen Blick auf das Klingelbrett. Eine der Lampen leuchtete. Klaus Krages Lampe.

Die Nachtschwester war versucht, sitzenzubleiben und das Licht zu ignorieren, aber dann siegte ihr ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, und sie erhob sich. Vielleicht brauchte der Patient wirklich Hilfe.

Als sich herausstellte, dass bei ihm alles in bester Ordnung war, machte Melanie ihn mit strengen, zurechtweisenden Worten klar, dass er den Notruf nie mehr so missbrauchen dürfe, sonst müsse sie das dem Chefarzt melden. Dann verließ sie sein Zimmer, ohne ihm Gelegenheit zu geben, sich zu entschuldigen.

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