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„Danke, Schwester“, sagte zur gleichen Zeit Klaus Krage. „Sie sind sehr nett.“

Schwester Melanie hatte ihm Tee gebracht. Er hatte nach der Nachtschwester geklingelt und ihr gesagt, dass er vor Durst fast umkomme.

„Warum haben Sie nicht früher geläutet?“, fragte die schöne dunkelhaarige Pflegerin vorwurfsvoll.

„Ich dachte, ich würde es schon irgendwie aushalten.“

Melanie sah ihn rügend an.

„Das war schon wieder unvernünftig.“

„Ich habe auf Sie Rücksicht genommen.“

„Das brauchen Sie nicht. Ich bin hier, um zu arbeiten“, sagte die Schwester.

„Ja, aber wenn kein Patient Sie belästigt, ist es Ihnen lieber.“

„Ich fühle mich nicht belästigt, wenn jemand meine Hilfe braucht.“

„Machen Sie immer nur Nachtdienst?“, fragte Klaus Krage.

„Ja.“

„Warum?“

Die Pflegerin zuckte die Schultern. „Ich bin ein Nachtmensch.“

„Und am Tag schlafen Sie?“

„Ich brauche nicht viel Schlaf. Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, danke.“

„Schlafen Sie jetzt!“

„Ich kann nicht.“

„Möchten Sie eine Tablette?“, fragte die Nachtschwester.

„Nein. Wenn Sie mir eine Freude machen wollen, setzen Sie sich zu mir.“

Sie zögerte.

„Bitte“, flehte Klaus inständig.

„Na schön“, gab sie nach, „aber nicht länger als eine halbe Stunde.“ Sie stellte einen Stuhl neben sein Bett und ließ sich darauf nieder.

Er betrachtete diesen schönen Engel eine Weile nachdenklich. Dann sagte er: „Darf ich Sie etwas fragen, Schwester?“

„Was?“

Er lächelte sie liebenswürdig an.

„Warum sind Sie immer so ernst?“

„Ich bin, wie ich bin.“

„Erzählen Sie mir von sich“, bat er.

„Das möchte ich nicht, aber wenn Sie mir von sich erzählen wollen, höre ich Ihnen gerne zu.“

„Sind Sie verheiratet?“, fragte der Patient.

„Nein.“

„Sonst wie gebunden?“, wollte Klaus Krage wissen.

„Auch nicht. Und jetzt ist Schluss mit den Fragen, sonst zwingen Sie mich, Sie allein zu lassen.“

„Nein“, sagte er hastig, „bitte bleiben Sie! Gehen Sie nicht fort! Ich werde mich bemühen, so zu sein, wie Sie mich haben wollen. Ich möchte, dass Sie sich in meiner Gesellschaft wohlfühlen. Als ich nach der Operation aufwachte und Ihr Gesicht sah, da dachte ich für einen Augenblick ... Sie dürfen mich nicht auslachen, ich war noch von der Narkose benommen ... Also, ich dachte, ich wäre im Himmel.“

„Das blieb Ihnen zum Glück gerade noch erspart“, erwiderte Schwester Melanie ernst.

„Oh, ich wäre über meinen Tod nicht unglücklich gewesen“, entgegnete der Patient. „Damit hätte vieles ein Ende gehabt. Ich habe mich seit vielen Monaten in einem permanenten Tief befunden, müssen Sie wissen. Das Schicksal hat mich nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Manchmal sagte ich mir, schlimmer kann es wohl kaum noch kommen, und daraus resultierte wahrscheinlich eine gewisse Todessehnsucht. Vielleicht bin ich deshalb nicht zum Arzt gegangen. Damit ein neuer Anfang möglich ist - in einem anderen Leben, in einer besseren Welt. Es kann sich so vieles im Unterbewusstsein eines Menschen abspielen, ohne dass er es richtig mitbekommt.“

Die Nachtschwester sah ihn verblüfft an.

„Sie wollten nicht mehr leben?“

Er lächelte schief.

„Sagen wir, ich war nicht mehr sonderlich erpicht aufs Leben.“

„Warum nicht?“

„Das ist eine lange, traurige Geschichte.“ Klaus Krage seufzte tief. „Vielleicht erzähle ich sie Ihnen irgendwann mal“, sagte er dumpf. „Wenn man nicht mehr erkennt, wofür es sich zu leben lohnt, stumpft man irgendwie ab. Man schließt sich freiwillig von allen Freuden des Lebens aus, nimmt absichtlich nicht mehr daran teil und führt nur noch ein tristes, graues Schattendasein ohne Glück, ohne Freude, ohne Liebe. Man vegetiert mehr oder weniger nur noch dahin und sehnt ein baldiges Ende dieser ausweglosen Situation herbei.“

„Sie sind nicht der einzige, dem das Leben übel mitgespielt hat“, entgegnete Melanie mitfühlend.

„Was tun die anderen, um damit fertigzuwerden, Schwester? Wissen Sie es? Sagen Sie es mir!“

„Sie suchen sich eine Aufgabe, die sie ausfüllt, die ihnen das Gefühl gibt, ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein. Sie lassen sich nicht gehen - und sie sehnen sich vor allem keinen Augenblick lang nach dem Tod.“ Sie schwiegen beide - und vielleicht hatten sie in diesem Moment das Gefühl, einander sehr, sehr nahe zu sein. Nach einer Weile sagte Klaus: „Als ich aus der Narkose aufwachte und Sie sah, passierte etwas mit mir, das ich nicht für möglich gehalten hätte. Mir wurde urplötzlich klar, dass es auf dieser Welt Menschen gibt, für die es sich zu leben lohnt.“

Die Nachtschwester versteifte.

„Sie dürfen nicht für mich leben. Das will ich nicht. Sie müssen für sich leben. Für sich ganz allein.“

„Wissen Sie, wie Sie mir vorkommen? Wie ein scheues Reh auf der Flucht. Sind Sie vielleicht auf der Flucht, Schwester Melanie?“ Sie antwortete nicht. „Wovor laufen Sie weg?“, fragte Klaus. Sie erhob sich. „Wovor haben Sie Angst, Melanie?“

„Die halbe Stunde ist um“, erwiderte die Nachtschwester dunkel. „Schlafen Sie jetzt!“

„Bleiben Sie noch!“, bettelte er.

„Ich kann nicht.“

„Nur noch ein paar Minuten.“

„Ich muss nach den anderen Patienten sehen“, sagte die schöne Pflegerin und stellte den Stuhl an seinen Platz zurück. Als sie die Tür öffnete, sagte Klaus Krage: „Danke, Schwester.“

Sie sah ihn verwundert an. „Wofür?“

„Dafür, dass Sie mir so geduldig zugehört und mich nicht ausgelacht haben, als ich Ihnen erzählte, ich hätte gedacht, ich wäre im Himmel.“

Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021

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