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„Was haben Sie an Schwester Melanie auszusetzen, Annchen?“, fragte Dr. Sören Härtling nach der Vormittagssprechstunde.

„Überhaupt nichts“, erwiderte Schwester Annegret. „Ich habe nur gesagt, dass sie irgendwie eigenartig ist.“

„Sie ist emsig wie eine Biene“, sagte der Leiter der Paracelsus-Klinik, „macht so gut wie keine Fehler, ist stets zur Hand, wenn man sie braucht ...“

„Ja, das ist schon richtig. Aber - Sie geht nie aus.“

Dr. Härtling zuckte die Schultern.

„Ihre Sache. Sie ist eben nicht vergnügungssüchtig.“

„Kein Pfleger, kein Arzt, kein Patient - kein männliches Wesen hat bei ihr auch nur die geringste Chance.“

„Ich bin sehr froh, wenn niemand sie uns wegheiratet“, erwiderte Sören.

„Sie ist niemals krank.“

Dr. Härtling nickte zufrieden.

„Das spricht für ihre robuste Gesundheit.“

„Es gibt nur die Arbeit für sie. Arbeit, Arbeit, Arbeit.“

„Ich wollte, wir hätten mehr von ihrer Sorte“, erklärte der Arzt.

„Diese bildhübsche Frau ist vierundzwanzig Jahre alt, Herr Doktor“, sagte Schwester Annegret, das Alter der Nachtschwester besonders betonend. „Da muss es einer fünfundsechzigjährigen Frau wohl gestattet sein, zu fragen: Wann, bitte schön, will sie endlich anfangen, ihr Leben zu genießen?“

„Vielleicht hat sie eine schwere Enttäuschung hinter sich und will deshalb von Männern nichts mehr wissen“, mutmaßte der Chefarzt. „Es kann Hunderte von Gründen geben, weshalb Schwester Melanie allein leben möchte. Ist es denn so schwierig, das zu akzeptieren? Soll doch jeder auf seine Weise glücklich werden!“

„Das ist es ja, Chef. Schwester Melanie ist nicht glücklich.“

„Hat sie Ihnen das gesagt?“

„Ich sehe es ihr an - und sie tut mir leid“, gab Schwester Annegret - ein Mensch mit rauer Schale und weichem Kern - zurück. „Ich würde ihr gerne helfen. Ich würde sie gerne einmal, nur ein einziges Mal, lächeln sehen.“

„Vielleicht hat sie schon mal gelächelt, und Sie haben es nur nicht gesehen.“

Das Telefon läutete und unterbrach die Unterhaltung. Sören Härtling hob den Hörer ab und meldete sich.

„Ihre Schwester, Chef“, sagte Moni Wolfram. „Ich habe sie endlich erreicht.“

„Danke. Stellen Sie durch!“

Einen Augenblick später vernahm Dr. Härtling Trixi LLassows Stimme.

„Du wolltest mich sprechen?“

„Hallo, Schwesterherz, wie geht es dir?“, fragte Dr. Härtling aufgekratzt.

„Gut“, antwortete Trixi.

Sie sagt nicht die Wahrheit, dachte Sören.

„Man hört ja gar nichts mehr von dir.“

„Ich habe im Moment sehr viel um die Ohren.“ Ein Seufzer begleitete diese Worte.

„Ich hab’ ja fast keine Schwester mehr“, beschwerte sich Sören Härtling. „So darf das nicht bleiben. Ich möchte dich sehen. Was hältst du von folgendem Vorschlag: Wir gehen heute Abend aus, nur wir beide, und reden über die Zeit, als wir noch auf den Knien herumgerutscht sind und in die Windeln gemacht haben.“

Trixi lachte.

„Als du das getan hast, war ich noch nicht auf der Welt.“

„Wir können auch über andere Dinge reden.. Ich bin flexibel. Heute Abend? Sagen wir achtzehn Uhr? Ich lade dich selbstverständlich ein.“

„Du, das ist wirklich sehr lieb von dir, aber heute Abend kann ich mich unmöglich mit dir treffen“, bedauerte Trixi. „Ein wichtiger Klient von Axel hat uns beide in sein hochherrschaftliches Domizil eingeladen.“

„Klappt es denn morgen Abend? Falls du wieder eine Verabredung haben solltest, sagst du sie einfach ab.“

„Morgen Abend bin ich frei“, sagte Trixi.

„Also bis dann. Ich freue mich auf dich“, sagte Dr. Härtling und legte auf.

Roman Koffer 10 Arztromane zum Jahresende 2021

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