Читать книгу Fern von hier - Adelheid Duvanel - Страница 22

Ein Traum

Оглавление

Während Reto, Student der Rechtswissenschaft, einschläft, träumt er, er beuge sich hinaus, um den rechten Flügel des Vorfensters mit der Spitze des mittleren Fingers so weit als möglich zurückzustoßen, doch drückt der Wind die Scheibe immer wieder von der Hauswand weg, an welcher sich kein Haken zum Befestigen des Fensters befindet. Im Nu ist Retos schweißnasses Gesicht trocken; er atmet einige Male tief und flucht leise, da es ihm noch immer nicht gelungen ist, das Fenster offen zu lassen, damit der Wind die Wärme aus dem stickigen Zimmer blase – kaum tritt er zurück, klappt der gläserne Flügel schmetternd zu, als wolle er den Raum wie einen kranken, alten Leib schützen.

An der hinteren Wand des dunklen Hotelzimmers steht das Bett, auf dem gestern das Känguru Hedwig saß.

Reto hat das Känguru vor zwei Tagen unter rührenden Umständen kennengelernt – an Hedwigs Hochzeit, in einer jener Kirchen, deren Erbauer Gott für eine Art Käfer halten, den man in eine mit Luftlöchern versehene Schachtel sperren muss. Auch der Heiland in jenem grauen Kerker glich einem Insekt, und wohl aus diesem Grund brach die Braut in ein Weinen aus, das kein Ende nehmen wollte. Reto, der zwischen zwei Vorlesungen die neue Kirche besichtigen wollte und nun auf diese ungewöhnliche Art gestört wurde, fühlte sich verpflichtet, die Tür zu öffnen, um so der Hochzeitsge­sellschaft – die, was er passend fand, zum Teil ebenfalls aus Kängurus bestand – einen Ausweg zu zeigen: Kommt, hier draußen ist der Himmel; ein Papiertaschentuch rollt unter eine grüne Bank, ein Handschuh steckt hinter einem Fensterladen – da wird sich die Braut wieder erholen und lächeln, wenn sie Tramwagen sieht, die aussehen, wie man sich Tramwagen vorstellt; Kinder unter einem Sonnenschirm in einem Garten, die aussehen wie Kinder; der Sonnenschirm gleicht einem Sonnenschirm, und der Garten ist nicht mit dem Meer oder mit einem Ballon zu verwechseln. Aber die Hochzeitsgäste verstanden ihn nicht, und das Känguru schluchzte in immer grauenvollerer Verzweiflung, bis Reto es kurzerhand entführte. Hedwig besaß tatsächlich nur, was ihr Kleid betraf, Ähnlichkeit mit einer Braut im landesüblichen Sinn, sonst war sie Känguru mit allem, was zu diesem Tier gehört: Sie hatte starke Hinter- und kurze Vorderbeine, einen langen Stützschwanz und einen kleinen Kopf. Ihre Pupillen schoben sich von Zeit zu Zeit fast ganz unter die oberen Augenlider, so dass ihr Blick einer weißen Wolke glich. Reto fand ihre Angst verständlich, unterhaltsam und faszinierend und ahnte bald, dass es nichts gab, wovor sie sich nicht fürchtete: Der Mond erfüllte sie mit Schrecken, wenn er wie von roten Lippen umklammert war, und sie erschauerte beim Anblick eines Holzhäuschens, das aussah, als ob es mit viel Leim an eine große zerfallene Fabrik geklebt worden wäre. Angesichts eines Scheinwerfers in einem Kasernenhof begann sie zu zittern, und sie glaubte an Tauben, denen jemand die Flügel abgeschnitten hatte und die sich unter den Brücken versteckten.

Reto schließt das Fenster und wendet sich um. Die Finger der Nacht schieben sich schon den Wänden entlang – bald werden sie sich schließen, und Reto wird sich im Dunkel dieser Faust auf dem Bett ausstrecken. Er hat das Zimmer noch für diese Nacht gemietet und genießt gespannt und ein wenig furchtsam wie ein Kind die ungewohnte Umgebung. Er schüttelt einige Male unwirsch den Kopf, denn er glaubt Hedwig zu sehen, wie sie vom Bettrand hüpft, ihr weites, weißes Kleid zurechtzupft und ihn anlächelt. Ihr Lächeln ist wie eine Zusammenfassung, eine Art Abkürzung, wie ein Zeichen, das für sie und ihr Leben auf einer sonst leeren Seite steht.

Sie wurde nicht wie Reto in einem abgelegenen Haus am Rand eines schwarzen Waldes geboren; sie stammt aus einem jener Häuser, die sich wie ältliche Freundinnen irgendwo treffen und nun auf der Stelle festwachsen; mit tückischen, verhängten Blicken durchbohren sie jeden Fremdling, der es wagt, sich ihnen zu nähern, und mit lammfrommen, weißen Gesichtern und Blumen auf dem Hut grüßen sie ihn süß, doch plötzlich werden ihre Münder finster, fallen zu, schnellen wieder auf, fallen wieder zu – Versammlungen von solchen Häusern nennt man «Ortschaften», Reto fürchtet sie und ihre Bewohner.

Er lauscht, als ob im Heulen des Windes Worte verständlich würden – gestern noch spielten auf jenem flachen Dach zwei Knaben in roten Pullovern, doch heute wirkt das Haus wie eine umgekehrte Trommel; überall liest er das Zeichen für «Hedwig». Wenn es stimmt, dass wir vor Menschen und Tieren, die unser Mitleid erregen, zugleich Ekel empfinden – zwischen Reto und Hedwig war das anders: Sie rührte ihn, und er fühlte sich angesichts ihrer Schüchternheit und ihres seltsamen Äußeren stark und selbstlos. Ohne Angst vor den befremdeten Blicken der Passanten hatte er sie durch die Stadt geführt, ohne Unbehagen ein Hotelzimmer für sie gemietet, wo sie sich vorläufig vor ihrem Bräutigam verstecken konnte, einem Menschen, der Buser oder Schranz hieß – der Name war ihm entfallen. Obwohl dieser Bräutigam sich als «Forscher der Kängurus» ausgab, musste er ein gemeiner, gewöhnlicher Kerl sein, ohne Sinn für die körperlichen und seelischen Eigenarten dieser Tiere. Er hatte es jedoch verstanden, seinen wahren Charakter zu verstecken und Hedwigs Eltern und ihre Verwandten für sich zu begeistern. Heute Morgen, als Reto zu seiner Mutter gelaufen war, um ihr sein merkwürdiges Abenteuer zu erzählen, war Schranz oder Buser, von zwei Polizisten begleitet, im Hotel erschienen und hatte Hedwig als sein Eigentum mitgenommen, denn die Hochzeitsgäste hatten alle ihr Jawort gehört; zwar leise, vom Weinen entstellt, aber doch gültig.

Unschlüssig tritt Reto wieder zum Fenster; als erwarte er jemanden, presst er die Stirn gegen die heftig zitternde Scheibe. Ein schwarzer, hochgewachsener Baum dirigiert das Pfeifen des Windes; er beugt sich nach hinten, verwirft die Äste, neigt sich wieder nach vorn und schnellt zur Seite, während eine Laterne, die schon seit Tagen nicht mehr leuchtet, wie ein im Gebet versunkener Einsiedler vor dem Geburtshaus eines vergessenen Dichters steht. Die Schimpfworte eines Betrunkenen wollen von der Straße heraufdringen, doch ist es, als ob sie ins Wasser fielen; der Wind spült sie weg. Nun hüpft Hedwig um die Straßenecke; ihr Brautkleid schimmert durch das lärmende, tanzende Dunkel, in ihrem Beutel trägt sie ein kleines Känguru. Sie ruft: «Reto, Reto, Reto» und blickt zu seinem Fenster auf. Deutlich sieht er die kräftigen Hinterbeine und die kurzen Ärmchen; sie winkt mit einer langen Stange, mit welcher sie gewiss das Fenster einschlagen möchte. Er kauert nieder und legt die Arme über seinen Kopf.

Verwundert spürt er die Angst und den Ekel, die wie ein ätzender Brei über seinen Körper fließen. Durch ein Klopfen an der Tür schreckt Reto vom Schlaf auf; die Stimme seiner Mutter bleibt nicht sofort in seinem Ohr haften, sondern rollt wie auf einer weiten Ebene an ihm vorbei, doch schließlich merkt er, dass Worte ins Zimmer gerufen werden, die ihm gelten: «Hedwig ist am Telefon!» Er setzt sich im Bett auf; die Wände sind sonnengelb, ein schwarzer Jazzpianist grinst neben einem fleckigen Wandschoner, über dem Ar­beitstisch hängt ein Kruzifix mit einem Heiland, dünn wie ein Insekt. Da weiß er es plötzlich: Morgen, Samstag, findet seine Hochzeit mit Hedwig, der kränklichen Tochter des Tierarztes Jakob Knüsel, statt. Er springt aus dem Bett, wo er ein Nachmittagsschläfchen gehalten hat, und bemüht sich, in Gedanken seine Füße zu begleiten, die auf eine ungewöhnliche Weise vielleicht schwebend in den Korridor gelangen.

Aus der halboffenen Küchentür strömt ein Duft von Kaffee und Apfelkuchen, auf dem Telefonbuch steht das kleine rote Feuerwehrauto seines Bruders. Während er – schwankend, als ob er Fieber hätte – zum Hörer greift, hat er das deutliche Empfinden, ein Känguru wünsche ihn zu sprechen; nur zögernd nennt er seinen Namen.

Fern von hier

Подняться наверх