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Misslungene Kopie

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Einmal sagte Herr Weinwild zu Otto, dem Lehrling: «Ich bin stolz auf dich», dann errötete er, was Otto bemerkte. Damals trank Otto noch nicht oder noch nicht so viel, und damals hätte sich niemand Ottos Verschwinden vorstellen können.

Viel später brausten Winde über die Ebene vor der Stadt wie Geisterzüge heulend und pfeifend dahin, zerstampften die Schrebergärten und rammten die Fabrik. Herr Weinwild gab Otto, mitten im Atelier stehend, eine Ohrfeige, und Otto lallte: «Der Wurm, der Wurm …»; nach einer Pause fuhr er fort: «Nein, eine Blindenschleiche ist das.» Es verstimmte Herrn Weinwild, dass der Lehrling, für dessen Erziehung und Bildung er mehr als ein Vater getan hatte, «Blindenschlei­che» und nicht «Blindschleiche» sagte. Es war typisch für Otto, falsch zu sprechen, aber diesmal argwöhnte Herr Weinwild, Otto mache dies absichtlich. Der Lehrling übergab sich dann in der Toilette und schlief, auf der Schwelle des Ateliers liegend, ein. Herr Weinwild überdachte den Satz mit dem Wurm nur flüchtig, ohne einen Sinn zu entdecken. Er hatte Otto am frühen Morgen, als er seinen Wagen vor der «Textil AG» parkiert hatte, betrunken angetroffen und mitgenom­men. An Samstagen arbeitete Herr Weinwild stets allein im Atelier; der Stardessinateur, der nur hie und da in Erschei­nung trat, hatte für einen Gardinenstoff Hasen entworfen, die Herr Weinwild nun zu Ende pinseln musste. Einmal erhob sich Otto und ging schwankend hinaus; es fiel Herrn Weinwild nicht auf, dass er nicht zurückkehrte, sondern mit dem Lift ins Erdgeschoss fuhr. Später gestand er sich ein, dass er Ottos Anwesenheit vergessen hatte, da er ganz in den ­Anblick des Hasen vertieft gewesen war. Er musste aber seine Arbeit als misslungen betrachten, denn der Stardessinateur bemängelte später die Hasenohren, die ihm wie Eselsohren vorkamen.

Da Otto am Montag nicht zur Arbeit erschien, telefonierte Herr Weinwild der Mutter des Lehrlings und erfuhr, dass Otto der Polizei als vermisst gemeldet worden war. Ottos Mutter, die ihren Kummer gewohnheitsmäßig im Alkohol ertränkte, erklärte, der missratene Sohn sei vermutlich mit seiner Freundin, einer geschiedenen Frau, durchgebrannt.

Als Otto auch in der Woche vor den Lehrabschlussprü­fungen nicht zurückgekehrt war und also nicht beabsichtigte, seinem Lehrmeister durch glänzende Prüfungsnoten Ehre zu erweisen, begann Herr Weinwild, der allein lebte, an son­derbaren «Zeitverschiebungen», wie er es nannte, zu leiden. So sah er zwei schwarze Schwäne aus früherer Zeit, die sich auf dem spiegelnden Linoleumboden seines Schlafzimmers paarten, während er nach dem Bad mit dem in einem Pantoffel steckenden Fuß die abgeschnittenen Zehennägel unter sein Bett schob. Er konnte sich solche und ähnliche Störungen nicht erklären.

Da er sich in den vergangenen drei Jahren stärker mit Otto als mit sich selber beschäftigt hatte, bemerkte er erst jetzt, dass der frühere Herr Weinwild abhandengekommen war. Das hieß, dass man ihn – wie Otto – als vermisst hätte betrach­ten müssen. Da er aber annahm, dass die Leute ununterbro­chen den Herrn Weinwild, den sie in Erinnerung hatten, erleben wollten, kopierte er jenen genau. Er erschien weiterhin einige Minuten früher als seine Arbeitskollegen im Atelier und verließ es einige Minuten später als sie, und er arbeitete wie gewohnt an den Samstagen. Es war aber nicht leicht, Herrn Weinwild so echt zu zeigen, wie sich die Schwäne ge­­­zeigt hatten. Es kamen immer wieder Fehler vor. So fiel es Herrn Weinwild auf, dass er in der letzten Zeit den Satz: «Aber ich habe gemeint …» öfter als sonst aussprach; er sagte deshalb zu sich selber mehrmals warnend, vielleicht drohend: «Du weißt, wer meint!» Einmal drehte er am Arbeitsplatz die Kurbel einer kleinen Spieldose, die er Otto nie zu schenken gewagt hatte, und rief: «Musik für schwungvolle Leute!» Die Arbeitskollegen lächelten.

An einem Sonntagabend, als die Lichter des Hochkamins der städtischen Kehrichtverbrennungsanstalt merkwürdig hastig zum Wohnzimmerfenster hereinblinkten und ein Re­ genbogen wie ein schlanker, schillernder Blütenstengel unter dem schwarzen Himmel wuchs, hüpfte Otto plötzlich auf der Scheibe des Fernsehers als Eiskunstläufer. Herr Weinwild erkannte ihn sofort an den Augen, die den Blick eines verwundeten Äffchens hatten. Nach einigem Zögern wagte sich Herr Weinwild ebenfalls aufs Eis, sprang an Ottos Seite und drehte sich im Takt einer fremd klingenden Musik, doch der Applaus des Publikums blieb aus. Ob die Zuschauer ahnten, dass das Paar nur die misslungene Kopie eines früheren Paares war, das sich Herr Weinwild eine Zeitlang ausgedacht hatte?

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