Читать книгу Fern von hier - Adelheid Duvanel - Страница 41

Das Ungeborene

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Es regnet schon wochenlang nicht mehr; der Himmel scheint mit etwas schwanger zu gehen: mit einer geheimen Glut. Die Geburt zögert sich hinaus; schrecklich wird die große Glut sein, die der Himmel aus sich herausstoßen, von sich werfen, auf die verdorrte Erde schleudern wird.

Astrids Betäubung gleicht der Verwirrung der Tiere, die kein Wasser finden; der Schwindel, der wie Nebel ihren Kopf umhüllt, der ihren Blick trübt, ihn angestrengt und dunkel erscheinen lässt, verwirrt auch ihre Gedanken. Nur zögernd überschreitet sie jeden Tag mit dem Einkaufsnetz die staubige, im Sonnenlicht schwankende Straße. Alles in der Nähe löst sich in glühenden Wellen auf; nur was in der Weite, in der Ferne wie Signale hingestellt ist – eine weißgestrichene Holzveranda, ein runder Baum mit kühlen Schattennestern –, kann sich den müden Augen mitteilen. Astrid ist beinah blind.

Wenn sie – geschickt tastend – im Haushalt irgendwo anstößt, weil sich manche Gegenstände nicht am erwarteten Ort befinden, und ein mit frisch gewaschenem Salat gefülltes Sieb zu Boden fällt, schreit ihre Schwester Fanny. Astrid hat sich in den langen Jahren, die sie bei Fanny lebt, an die Ecken gewöhnt; ihr Fuß kennt die Schwellen, ihre Hände finden das Besteck in der Schublade, das Obst auf der Fruchtschale, die frischen Servietten im Kasten.

Die Wohnung liegt in goldbraunem Dämmerlicht; die Rollläden sind bis auf einen Spalt heruntergelassen, die Fenster geöffnet. Jeden Morgen um halb sieben bereitet Astrid für sich und Fanny, die arbeiten muss, den Tee. Es ist für sie eine kleine Genugtuung, eine kindische Rache, Fannys Tasse mit dem Teebeutel links auf den Küchentisch zu stellen. Während sie das kochendheiße Wasser zuerst in ihre eigene, auf der rechten Seite stehende Tasse gießt, sagt sie, jedes Wort laut betonend: «Zuerst für mich», und dann, fast erschrocken über ihre Vermessenheit, beinah mit schlechtem Gewissen: «Nachher für Fanny.»

Gestern Nacht hat es sacht geregnet; die schon wieder trockenen Bäume in den Gärten teilen sich das Ereignis lispelnd mit, und Fannys Haar, das dem widerspenstigen Haar junger Mädchen gleicht, ist wild und knistert. Fanny steht «mitten im Leben». Fanny braucht keine Armbanduhr, sie weiß Bescheid, während Astrid immer mühsam das Datum der Zeitung, die sie jeden Morgen aus dem Briefkasten nimmt, liest. Auch der Wetterbericht erregt ihr Interesse, doch sind ihre Augen zu schwach, um ihn zu entziffern, und ein Radio besitzt Fanny nicht. Ganz ohne Besitz aber ist Fanny nicht. Ihr gehört sogar eine Violine, der sie manchmal quäkende Töne entlockt, um «in der Übung zu bleiben». Astrid besitzt nichts, oder beinah nichts; ein Tagebuch aus ihrer Mädchenzeit und einige andere Bücher, die sie nicht mehr lesen kann und die unter den vielen Büchern Fannys versteckt sind.

Der Himmel hat seine Glut irgendwo verschenkt, und der Sommer nimmt seinen Fortgang. An den Nachmittagen, während Astrid mit steifem Rücken auf einem Stuhl in der geradezu leichtsinnig großen, alten Wohnung sitzt, denkt sie sich für ein ungeborenes Kind Namen aus wie eine schwangere Frau: «Norbert, wenn es ein Knabe ist; für ein Mädchen ist Annette ganz hübsch.» Das Kind wäre ihr Besitz, den sie nicht mit Fanny teilte. Wie eine jener Eingeborenen, die sie früher in Filmen oder in Missionsheftchen sah, bände sie es an sich, trüge es immer auf dem Rücken oder auf der Brust und schenkte ihm Atem und Seele und Leben, Sekunde für Sekunde; sein Duft und sein Blühen gäbe ihr Freude. Kein Wind könnte es peitschen, keiner zerpflücken; sie lebte mit ihm in ihrem eigenen Kreis, um den das Schicksal die Nacht wie einen Zaun baut. Sie spürte ihre Erniedrigung nie mehr. So wie ihre Augen nur noch kleine oder ferne Dinge wahrnehmen, die sie bewusst fixiert, während alles Große und nahe Gelegene sich in Nebel auflöst, nimmt sie in Gedanken nur noch das Ungeborene wahr; es wird wichtig wie ihre auf der rechten Seite des Küchentisches stehende Teetasse, in die sie das Wasser zuerst gießt.

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